top
Bisiluro: Carlo Mollino und der Damolnar
von Thomas Wagner | 12.08.2015
Mario Dalmonte, Carlo Mollino und Enrico Nardi entwarfen 1955 den „Damolnar”, auch „Bisiluro” genannt. Foto © Museo Scienza, Milano

Auf dem Feld der Maschinen gedeihen die seltsamsten Blumen. Im Jahr 1955 nimmt am 24-Stunden-Rennen von Le Mans ein offener, feurig-roter Rennwagen teil, der sehr anders aussieht als all die Wagen, die bei diesem legendären Langstreckenrennen gewöhnlich an den Start gehen. Der Name des Wagens – „Damolnar“ – setzt sich aus den Nachnamen seiner drei Konstrukteure zusammen: Mario Dalmonte, Carlo Mollino und Enrico Nardi.

Carlo Mollino nennt den stromlinienförmigen Renner, den er zeitweise auch selbst steuert, lieber „Bisiluro“ – Doppeltorpedo. Wer weiß, vielleicht hat er, als er in diesem asymmetrischen automobilen Geschoss seine Runden drehte und gegen Wind und Fliehkräfte ankämpfte, ja an die griechische Siegesgöttin Nike gedacht. Ihr hatten zu Beginn des Jahrhunderts die Futuristen zwar gehuldigt, die Schönheit der Nike von Samothrake aber gegen die eines Rennwagens eingetauscht. Schließlich ist der Futurismus aus einem Autounfall hervorgegangen.

Carlo Mollino (1905 bis 1973) war eine Vielfachbegabung. In der Renaissance hätte man ihn einen „uomo universale“ genannt. Als Architekt entwirft er ein Wintersportzentrum und das Nuovo Teatro Regio in Turin; als Designer gestaltet er Lounge Chairs, die aussehen wie bequeme Schleudersitze, und Couchtische, deren Gestell einer Turnübung gleicht; als Innenarchitekt stattet er das Auditoriums der RAI in Turin mit voluminösen Sesseln aus und richtet zahlreiche Wohnungen ein, nicht zuletzt für sich selbst. Leidenschaftlich betätigt er sich als Rennfahrer, Kunstflieger und Fotograf; er verfasst ein Skilehrbuch und Essays zu Fotografie und Film. Mollino war von einem ständigen Bewegungsdrang getrieben. Also zeichnet er mit dem Flugzeug Linien in die Luft, mit den Skiern elegante Schwünge in den Schnee und sucht auf der Rennstrecke nach der Ideallinie. Kurven, Schwünge, Tempo, Bewegung – stets fließt eine körperhafte Logik in seine gegen den „razionalismo“ gerichteten Arbeiten ein.

Im Jahr 1944 schreibt er in einem Brief an seinen Freund, den Architekten und Designer Giò Ponti: „Ich möchte mit dir über mein Gefühl für unsere Zeit reden, die nicht mehr diese fruchtbare treibende Kraft hinter schönen, konkreten Werken ist, die man mit dem Wort funktional zusammenfassen kann. Woher kommt diese Vorstellung, wenn nicht aus einer inneren Landschaft und einer Moralität des Fühlens? Ein Fühlen, das in diesem Fall nicht mehr ausschließlich begeistert ist vom biologistischen Mythos der Technik und dem organisierten und frohen Leben mit Tabellen und Vitaminen, von Ultraviolettstrahlen und Gewichtskontrollen und dem Taubenschlag-Scientifizismus als Selbstzweck. Allzu oft vergessen wir, dass Wissenschaft nicht nur der Technik zuarbeitet, sondern auch und vor allem ein sublimer Dialog zwischen Mensch und Realität ist. Das ist die großartige Fähigkeit, die uns wirklich zu Menschen macht.“

Mollino, Poet und Tatmensch in einer Person, konstruiert die Dinge nicht nur, er erfühlt sie mit dem ganzen Körper. Wenn er baut, baut er nicht nur Häuser, wenn er Ski fährt, interessieren ihn die Radien seiner Schwünge ebenso wie deren perfekte Ausführung. Auch wenn er Autorennen fährt, verknüpft er wissenschaftliche und künstlerische Methoden im Sinne einer „tranformazione estetica“ mit dem Erleben. Und nicht zuletzt ist er auf eine schwer zu ergründende Weise vernarrt in die Formen weiblicher Körper. Von 1962 bis zu seinem Tode im Jahre 1973 lässt er in einem seiner opulent ausgestatteten Refugien, das er nie bewohnt, durch Agenten auf der Straße angesprochene Schönheiten des Turiner Nachtlebens für sich und seine Kamera posieren, woraus mehr als 1300 erotische Polaroid-Porträts hervorgehen.

Man sieht es dem „Bisiluro“, dieser manierierten Maschine, an, dass in diesem Körper, der sich der Geschwindigkeit hingibt, der technische Körper eines Doppeltorpedos eine Liaison mit einem weiblichen Torso eingegangen ist. Ratio und Obsession verschmelzen auch hier. Was er auch macht, Mollino öffnet das Technische ins Körperliche und Fantastische: „Tutto è permesso, sempre salva la fantasia“ – „Alles ist erlaubt, solange es fantastisch ist“, schreibt er 1950 in Domus. Das hätte Marinetti ebenso gefallen wie Mollinos Aussage: „Die Poesie wird nicht aus den Regeln geboren, sondern die Regeln entstammen der Poesie.“

In Mollinos expressiver und surrealer Fantastik taucht es wieder auf, das besondere, weil lyrisch-poetische Verhältnis der Italiener zur Maschine. Natürlich bilden für einen extravaganten und dandyhaften Nonkonformisten wie Mollino, der das Abenteuer der Geschwindigkeit nicht weniger liebte als die neuesten technischen Errungenschaften, Kunst und Leben keinen Gegensatz. Und so findet man im Entwurf einer Garderobe die Schleifen, Kreise und Kehren wieder, die er als Kunstflieger in die Luft gezeichnet hat. Mit ihrem kleinen Drachenköpfchen geraten die Windungen aber auch zum betörenden Tanz einer verführerischen Garderoben-Schlange. Keiner konnte das besser als Carlo Mollino.

Ausstellungsempfehlungen:

Den Bisiluro von Carlo Mollino kann man sich hier anschauen:
Museo Nazionale della Scienza e della Tecnologia
Via S. Vittore 21
20123 Mailand, Italien
www.museoscienza.org

Die Wohnung von Carlo Mollino ist öffentlich zugänglich:
Museo Casa Mollino
Via Giovanni Francesco Napione 2
10124 Turin, Italien
+39 011 8129868
casamollino@fastwebnet.it

Buchempfehlungen:

Maniera Moderna
Katalog zur Ausstellung "Maniera Moderna - Carlo Mollino" im Haus der Kunst, München, 2012
Herausgegeben Chris Dercon, mit Fotos von Armin Linke und Texten von Luca Cerizza, Beatriz Colomina, Kurt Forster & Wilfried Kuehn
Broschiert, 312 Seiten mit 396 Abbildungen, in Englisch
Buchhandlung Walther König, 2011
www.buchhandlung-walther-koenig.de

Mollino war vernarrt in die Formen weiblicher Körper und zitiert sie in seinem "Bisiluro". Foto © Museo Scienza, Milano
Kurven, Schwünge, Tempo, Bewegung: Stets fließt eine körperhafte Logik in seine Arbeiten ein. Foto © Museo Scienza, Milano
„Alles ist erlaubt, solange es fantastisch ist“: Carlo Mollino, Turin, um 1940 sowie in seinem „Bisiluro". Foto © Invernizzi
Carlo Mollino in seinem Doppeltorpedo. Foto © courtesy Museo Casa Mollino