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Zur Debatte über bezahlbaren Wohnraum in Städten kommt die Schau „Wohnungsfrage“ im Haus der Kulturen der Welt (HKW) in Berlin gerade recht.
Bild/Kunstwerk © Martha Rosler, Housing Is a Human Right, Times Square Spectacolor sign, New York, 1989
Das große Palaver
von Thomas Edelmann
29.10.2015

Städtebewohner, Einwanderer, Studenten, Alte, Normal- und Geringverdiener: Sie alle stehen vor der „Wohnungsfrage“, die eigentlich ein Bündel von Fragen ist, deren Beantwortung keinen Aufschub duldet. Welche Mittel helfen gegen explodierende Mieten? Wie kann bezahlbarer Wohnraum erhalten und weiter entwickelt werden? Wie kann neuer entstehen, ohne Erkenntnisse der Debatten um Baukultur oder den Klimawandel über Bord zu werfen? Was hilft gegen Marktmechanismen, die zu sozialer Verdrängung und zur Verödung der Innenstädte führen?

Tatsächlich steht es nicht gut um die Beantwortung dieser Fragen. Schon werden erste Stimmen laut, die den großbürgerlichen Altbau als Wohnmodell der Zukunft preisen und eine nicht nur technologische Weiterentwicklung des Bauens für überflüssig halten: „Was sich im Bestand bewährt hat, sollte auch für die Zukunft genügen“, war kürzlich im Feuilleton der „Süddeutschen Zeitung“ zu lesen. Altbau für alle? In Wahrheit ist es ein höchst elitäres Konzept. Wie schnell, billig oder gar schön wir künftig um- oder neubauen, hängt ab vom vorherrschenden Pragmatismus, der Debatten über Qualitäten und Inhalte für irrelevant erklärt. Das Resultat könnte sein: Eine besondere Form des Provisoriums, entstanden in einer Art eingebildetem Notstand. „Souverän ist“, propagierte der umstrittene Staatsrechtler Carl Schmitt, „wer über den Ausnahmezustand entscheidet“. Zur Behebung von Krise und Ausnahmezustand bieten uns Immobilienwirtschaft und Bauindustrie passgenaue Lösungen an, vorausgesetzt Bauordnungen und Gesetzte werden „liberalisiert“ und „entschlackt“. Nur haben diese Offerten mit der „Wohnungsfrage“ nichts zu tun. Jedenfalls nicht, wenn man diese ähnlich versteht wie die Macher der gleichnamigen Ausstellung im Haus der Kulturen der Welt (HKW) in Berlin. Die Schau kommt gerade recht. Kann oder will sie Blaupausen liefern, die möglichst per „Drag and Drop“ morgen schon bauliche Realität werden?

Bernd Scherer, Intendant des HKW erläuterte bei der Eröffnung, dass das Veranstaltungsprojekt nicht „die Wohnungsfrage in ihrer Totalität“ erfassen wolle, sondern vielmehr eine ganz bestimmte Perspektive beleuchte. Die Kuratorin und Kuratoren des Projekts, Jesko Fezer, Nikolaus Hirsch, Wilfried Kuehn und Hila Peleg, interessieren sich besonders für einen Aspekt, „nämlich für die Perspektive der Nutzer“, so Scherer. Er erinnert an die „Kapitalisierung des Wohnungsmarkts“, die sich seit Jahrzehnten vollziehe und die angestammten Nutzer aus den Innenstädten verdränge.

Das „Wohnungsfrage“-Projekt des HKW entleiht seinen Titel einer Schrift, mit der Friedrich Engels 1872 gegen utopische Sozialisten wie Pierre-Joseph Proudhon und liberale Ökonomen wie Emil Sax zu Felde zog. Engels stellt darin fest: „Nicht die Lösung der Wohnungsfrage löst zugleich die soziale Frage, sondern erst durch die Lösung der sozialen Frage, das heißt durch die Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise, wird zugleich die Lösung der Wohnungsfrage möglich gemacht.“ Im Rahmen der zwölfbändigen Publikationsreihe des Projektes wurde der Engels-Text neu aufgelegt, ergänzt um kommentierende Nachworte, die der Rolle des „spezifischen Intellektuellen“ nach Foucault nachgehen (Reinhold Martin) oder Engels’ Text im Kontext von Gentrifizierung sowie der Occupy-Bewegung diskutieren (Neil Smith).

Dinge nehmen, wie sie sie finden

Betritt man das HKW, das nach dem Entwurf von Hugh Stubbins einst als Kongresshalle und Beitrag der Vereinigten Staaten zur Interbau-Ausstellung 1957 errichtet wurde, fällt im fließenden Mid-Modern-Raum sofort ein riesiger Erdhügel ins Auge. „Berlin Excavation“ ist ein Werk der Künstlerin Lara Almarcegui, die 2013 auf der Biennale in Venedig im spanischen Pavillon ausstellte und Materialrückstände wie Steine und Geröll im räumlichen Kontext arrangiert. Hier sind es 400 Kubikmeter Bodenaushub aus der Chausseestraße, wo derzeit gehobener Wohnungsbau der „Feuerlandhöfe“ mit Blick auf die neue BND-Zentrale entsteht. Schon vor dem Gebäude und im Foyer des HKW finden sich Linien, die Grundrisse der Hof- und Gebäudeflächen der Vorkriegsbebauung nachzeichnen, die die Künstlerin Maria Eichhorn auf die heutige Architektur projiziert hat. Die Geschichte des Viertels wird anhand von Kataster-Auszügen dokumentiert.

Im Mittelpunkt des Projektes und der Ausstellung stehen Initiativen, die sich nicht als Opfer ökonomischer und politischer Prozesse der Wohnungsfrage begreifen, sondern als Akteure, die frei nach Engels Dinge nehmen, wie sie sie finden und den „schreiendsten Übeln mit den vorhandenen Mitteln“ abhelfen. Vier Initiativen wählten die Kuratoren aus und brachten sie jeweils mit internationalen Architekturbüros zusammen. Daraus entstanden vier architektonische Modelle im Maßstab eins zu eins, begehbar, räumlich erfahrbar und gemeinschaftlich-individuelle Nutzungen simulierend. Das „Kooperative Labor Studierender“ (Kolabs) kam mit Atelier Bow-Wow aus Tokio zusammen. Die Mietergemeinschaft „Kotti & Co“ aus Berlin kooperierte mit Estudio Teddy Cruz + Forman aus San Diego. Die „Realism Working Group“, gegründet an der Frankfurter Städelschule, befasst sich mit kollektiver Aneignung von Wohn- und Arbeitsräumen. Mit ihr arbeitete die belgische Architektengruppe Dogma zusammen.

Die Begegnungsstätte für Jung und Alt „Stille Straße 10“ aus Berlin-Pankow kooperierte mit dem Londoner Architektenkollektiv Assemble. Gezeigt werden visionäre Wohnungen oder Ausschnitte daraus. Das schönste Gebilde von Atelier Bow-Wow nennt sich „Urban Forest“. Es ist eine verspielte, konstruktiv klare mehrgeschossige Raumfolge, ein offener Holzständerbau, organisiert um einen zentralen Treffpunkt und Essplatz. Für „Kotti & Co“, die Mietergemeinschaft, die sich gegen Verdrängung aus einstmals geförderten Wohnungen wehrt, entstand ein Bausystem für bewegliche Protest-, Versammlungs- und Informationsräume. Gefertigt wird es von einem Hersteller für industrielle Hochregale im mexikanischen Tijuana. Mit der Künstlerinitiative „Realism Working Group“ wurde eine „Urban Villa“ konzipiert, deren zweistöckige Wohnwände, Leben und Arbeiten auf kompakter Fläche ermöglichen soll. Die „Stille Straße 10“ thematisierte gemeinschaftliches und selbstbestimmtes Leben und Wohnen im Alter, mit individuell veränderlichen Grundrissen, einer Mischung aus Eigentum und gemieteten Räumen.

Annäherung durch historische Beispiele

Die Veranstaltung kreist um das Verhältnis von öffentlich und privat. So betrachtet, ist die Wohnungsfrage eine nach den Räumen, die wir haben und verändern möchten. Sie fragt aber auch nach solchen, die wir gerne hätten und nach den Prozessen, die sie entstehen lassen. Nicht Wohnen für das Existenzminimum ist das Thema, sondern ein Wohnen, das Privatheit wie Gemeinschaft ermöglicht. An die Stelle von Vereinzelung, so die durchgängige These, könnte ein Leben in Gemeinschaften treten. Allerdings erforderte dies, Bedingungen und Veränderungen dieser Wohnwelten immer wieder auszuhandeln.

Wen die Einzelprojekte irritieren, wer meint von dem, was hier ausgebreitet wird, nichts zu begreifen, der nähert sich am besten zunächst den historischen Beispielen. Da ist etwa die Dokumentation zur Architektur- und Nutzungsgeschichte des Kibbuz „Jagur“ nahe Haifa, der bereits Anfang der 1920er Jahre gegründet wurde. Gebaut in einer kargen, ländlichen Umgebung, entworfen von Architekten der Moderne wie Richard Kauffmann, Arieh Sharon und Erich Mendelsohn, war es als Siedlung einer Großgruppe geplant. Bis heute wird dort gemeinwirtschaftlich gearbeitet. Entstehung und Architektur sowie die bis heute geübte Aushandlungspraxis der Bewohner dokumentieren Galia Bar Or und Zvi Efrat in einer kompakten Teil-Ausstellung. Per Film und Fotodokumentation wird an Bauprojekte des SAAL (Serviço de Apoio Ambulatório Local) in Portugal erinnert, eines staatlichen Bauprogramms zwischen 1974 und 1976.

Ebenso geraten die Mikrobrigaden im Havanna in den Blick, die in Nachbarschaftsarbeit neuen Wohnraum schufen. Ein Vorzeigeprojekt, das Fidel Castro mit Stolz Michail Gorbatschow präsentierte als dieser 1989 zum Staatsbesuch nach Kuba kam. Kargheit der Form, Aushandlung der Prozesse und Vorgehensweisen, Einfachheit der Ergebnisse: Wie die Ausstellung verlangt das Thema nach intensiver Auseinandersetzung. Mit einer zwölfbändigen Publikationsreihe bietet „Wohnungsfrage“ rund vier Kilogramm gut aufbereiteten Lesestoff. Ein informativer Ausstellungsführer gehört dazu. Nachdrucke und historische Recherchen, Dokumentationen zu einzelnen Projekten von Architekten und Initiativ-Gruppen, sowie der Essay- und Atlas-Band „Housing after the Neoliberal Turn“.

Lohnt die Anstrengung? Es wird deutlich, dass Wohnen keineswegs den hübsch dekorierten Rückzug aus dem Alltag bedeuten muss. Dass es kein heimeliges Gegenbild zu sein braucht, sondern Bestandteil einer Welt sein kann, die Debatten offen austrägt. Müssen am Ende also jene sozialen Umstürze stehen, wie sie Engels als Voraussetzung für die Lösung der Wohnungsfrage sah? Eher bietet die Veranstaltung eine Ermunterung für alle, die sich ihr Wohnen nicht vorschreiben lassen wollen, die mal kämpferisch, mal spielerisch Alternativen aufzeigen. Handlungsanweisungen für künftiges Bauen gibt es nicht, denn Wohnen ist eine Sache des Aushandelns unter allen Beteiligten.

Wohnungsfrage
Haus der Kulturen der Welt, Berlin
Noch bis 14. Dezember
www.hkw.de

Publikationsreihe
Herausgeber: Jesko Fezer, Christian Hiller, Nikolaus Hirsch, Wilfried Kuehn, Hila Peleg
Spector Books, Leipzig
160 Euro (Einzelbände zwischen 6 und 29 Euro)
www.hkw.de


www.bow-wow.jp
www.estudioteddycruz.com
www.dogma.name
www.assemblestudio.co.uk


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In Staub mit allen Feinden Brandenburgs: Hinter Zäunen und Bäumen, auf Weiden und an Seen gibt es bemerkenswerte Architekturen, die genauer anzusehen lohnt.
(20. Februar 2015)

Für die Ausstellung kooperierten vier Bürger- und Studenten-Initiativen jeweils mit internationalen Architekturbüros. Foto © Laura Fiorio
HKW-Intendant Bernd Scherer bei der Eröfffnung am Stand von „Kotti & Co". Foto © Laura Fiorio
Für die Mietergemeinschaft „Kotti & Co“ entwickelten Estudio Teddy Cruz + Forman ein Bausystem für mobile Protest- und Informationsräume. Foto © Estudio Teddy Cruz + Forman
Das „Kooperative Labor Studierender“ (Kolabs) kam mit Atelier Bow-Wow aus Tokio zusammen.
Foto © Jens Liebchen / Haus der Kulturen der Welt
Der Holzständerbau „Urban Forest“ von Atelier Bow-Wow ist um einen zentralen Treffpunkt organisiert. Foto © Thomas Edelmann
Für „Berlin Excavation“ brachte die Künstlerin Lara Almarcegui 400 Kubikmeter Bodenaushub aus der Berliner Chausseestraße ins Museum. Foto © Thomas Edelmann
Die Begegnungsstätte für Jung und Alt „Stille Straße 10“ aus Berlin-Pankow kooperierte mit dem Londoner Architektenkollektiv Assemble ….
… und thematisierte gemeinschaftliches und selbstbestimmtes Leben und Wohnen im Alter.
Foto © Assemble Studios, 2015
Die Wohnungsfrage ist eine nach den Räumen, die wir haben und verändern möchten.
Foto © Laura Fiorio
Die „Realism Working Group“ der Frankfurter Städelschule befasste sich zusammen mit der Architektengruppe Dogma mit kollektiver Aneignung von Wohn- und Arbeitsräumen. Foto © Dogma
Gefertigt wurden die Bauteile für den Stand von „Kotti & Co“ von einem Hersteller für industrielle Hochregale im mexikanischen Tijuana. Foto © Thomas Edelmann
„Urban Villa“ von der „Realism Working Group“ und Dogma wollen auf zwei Stockwerken Leben und Arbeiten auf kompakter Fläche ermöglichen. Foto © Thomas Edelmann
Historisches Beispiel für Wohngemeinschaften: Kibbuz „Yagur“, späte 1950er Jahre, dokumentiert von Galia Bar Or und Zvi Efrat. Foto © Eri (Erich) Glas, Archiv Kibbutz Yagur
Vorzeigeprojekt von Fidel Castro: Mikrobrigaden im Havanna. Filmausschnitt © Florian Zeyfang; Lisa Schmidt – Colinet; Alexander Schmoeger, „Microbrigadas – Variations of a Story“, 2013