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Das Lied vom Licht
von Sara Bertsche
19.02.2014

Der Saal ist verdunkelt, das Publikum verharrt still in gespannter Erwartung. Schon stellt sich der Dirigent in Positur, das Orchester ist bereit. Die Musik aber bleibt aus. Stattdessen ist der Raum erfüllt von Nebeln aus Licht, die im Takt der Musiker rhythmisch durch die Luft schwingen. Leuchtende Farben entströmen den gläsernen Instrumenten auf der Bühne, formieren sich zu amorphen Gebilden und schweben für Bruchteile von Sekunden über dem Orchester, bevor sie sich wieder auflösen. Musik, die man nicht hören, aber sehen kann, ein Schauspiel aus schimmerndem Glas, Licht und Bewegung.

Dies ist nur eine der Zukunftsvisionen von Martin de Bie. Der Jungdesigner, der in Paris arbeitet, die interdisziplinäre Kunstplattform „!RAW collective“ mitbegründet hat und Workshops für Studenten in den Kreativ-Werkstätten von Boisbuchet leitet, arbeitet bereits an der Realisierung seines Lichtorchesters. Das erste Instrument, die „Flampoule“ entwickelte er in Zusammenarbeit mit dem Designer Samuel Aden und präsentierte sie 2013 beim Salone del Mobile in Mailand. Die gläserne Flöte brachte so manchen Besucher zum Staunen. Der fragile Korpus aus Glas ist vollkommen durchsichtig und gewährt Einblick in das Innere des Instruments.

Dort leitet ein kompliziertes Geflecht aus Drähten gefärbte Tinte aus einem Kolben über zahlreiche Bahnen, wobei die Zirkulation elektrische Impulse auslöst, die mittels LEDs Lichteffekte hervorruft. Spielt der Flötist auf dem Instrument, so erzeugt und beeinflusst er die visuellen Effekte. Farbvariationen können über den Anschlag verschiedener Tasten gesteuert werden, während die Lichtintensität über den Atem kontrolliert wird. Martin de Bie spricht von einem Hybrid: Durch die Verschmelzung zweier Komponenten, dem Funktionsprinzip eines Musikinstrumentes und einer ausgeklügelten Technik, entsteht etwas vollkommen Neues. Der Prototyp eines weiteren Hybrids, eines Xylofons, ist ebenfalls schon in Arbeit. Ein klassisches Musikinstrument wird durch den Einsatz feinsensorischer Elektronik zweckentfremdet. Klangwelten mutieren zu Sphären aus Licht und die Sprache der Musik wird in visuelle Effekte transformiert.

Bleibt die berechtigte Frage nach dem Nutzen solcher Instrumente. Sollte ein Designer, was er entwirft, nicht auf der Grundlage der Frage entwickeln, was der Konsument braucht und wie sich Funktionalität mit Ästhetik dabei verbinden? Sollten ökonomische Form und funktionale Handhabung nicht die Grundlage für Formgebung, grafische Oberflächen und Lichtgestaltung und damit der Ausgangspunkt seiner Schaffenskraft sein?

Die eigenwilligen Ideen und Konzepte von Martin de Bie entziehen sich derart konventionellen Vorstellungen. Wie seine Flampoule finden auch viele andere seiner Projekte keine unmittelbar praktische Anwendung. Stattdessen zeichnen sie sich durch eine poetische und metaphorische Formensprache aus, die auf spielerische Weise durch den Einsatz experimenteller Techniken umgesetzt wird. So überraschte Martin de Bie 2011 die Besucher der Ausstellung „DesignLab“ in Paris mit seiner „SandBox of Secrets“, einem etwas anderen und unkonventionellen Medium zur Kommunikation.

In der hölzernen, mit Sand gefüllten Box können Besucher mit den Händen persönliche Geheimnisse anderer ausgraben und abhören – oder eigene Botschaften in den Sand flüstern. In Zeiten, in denen Handys boomen und stetig neue Technologien darauf abzielen, schneller, effizienter und einfacher kommunizieren zu können, stellt die „SandBox of Secrets“ kein Produkt dar, das ökonomische und rationale Anforderungen erfüllt. Vielmehr lädt sie dazu ein, Menschen und ihre Vorstellungen mittels Gesten und sinnliche Erfahrungen auf ungewohnte Weise zu betrachten.

Auch einem weiteren Projekt des französischen Gestalters liegt dieses Konzept zugrunde. „+GIPS“ ist ein intuitives Navigationsgerät in Form eines Steins, das dem Benutzer durch Wärme oder Kälte signalisiert, in welcher Richtung das gewünschte Ziel liegt. Schnell den direkten Weg zu finden, wird bedeutungslos. Stattdessen aktiviert die bewusst vage Orientierungshilfe die Wahrnehmung und ermöglicht durch ein haptisches Sinneserlebnis einen Erkundungsgang durch die fremde Umgebung, der bewusster und facettenreicher ausfällt.

Schauen, staunen und spüren statt nur zu funktionieren – mit diesem Credo folgt de Bie einem allgemeinen Trend, der sich in der Branche abzeichnet. Die Gebrauchslogik des Produktes steht nicht mehr im Vordergrund. Vielmehr kann Martin de Bie, wie viele andere Jungdesigner, als Forscher angesehen werden, der mit Hilfe feinsensorischer Techniken danach strebt, neue Möglichkeiten auszukundschaften. Es gilt, Neuland zu entdecken, konventionelle Vorstellungen von Design, aber auch gewohnte Wahrnehmungsmuster zu reflektieren und alte Wahrnehmungsfilter neu zu kalibrieren. Der Fokus ist auf das sinnliche Erleben gerichtet, das rein technische Funktionieren rückt in den Hintergrund.

Was sich daraus ergibt, erscheint verlockend. Denn das Ausloten der Potenziale, die in neuen Technologien liegen, ohne sich dabei auf bekannte Vorlagen zu stützen, schafft Raum für experimentelles Design, das am Ende womöglich in neuartigen Produkten mündet. Hätte der Designer von vorneherein nur die Entwicklung eines bestimmten Produkts mit klar definiertem Nutzen im Sinn, so würde er die Fülle an Möglichkeiten einschränken. Er liefe Gefahr, ein bereits bestehendes Produkt lediglich in Details zu variieren, dessen Funktion und Zweck gleich blieben. Gewiss, ein Designer, der Neues entwickelt, ohne sogleich dessen ökonomische Verwertbarkeit mit einzubeziehen, nimmt das Risiko auf sich, dass sein „Produkt“ als Spielerei abgetan wird. Doch was er dabei gewinnt, sind jede Menge neuer Erfahrungen und Möglichkeiten. So stillen auch Martin de Bies Entwürfe zuallererst ein menschliches Grundbedürfnis: die tief verwurzelte Sehnsucht nach Sinneserfahrungen in einer Welt, die immer schneller technisiert und zusehends als abstrakt empfunden wird.

Die Pforten der sinnlichen Wahrnehmung sind beim Benutzen und Betrachten seiner Objekte weit geöffnet. Losgelöst von jeder Verwertungslogik darf hemmungslos gestaunt, gefühlt und gelauscht werden. Dass dabei ausgerechnet eine hochentwickelte und diffizile Technik die Sinne anregt, mag manchem paradox erscheinen. De Bies Flampoule verkörpert diesen unauflösbaren Widerspruch auf eindrucksvolle Weise: Technik verschmilzt mit poetisch anmutender Lichtgestaltung und versetzt den Betrachter in eine künstlich erzeugte Welt voller Sinnesreize.

Wer weiß, vielleicht findet das geplante Hybrid-Orchester über die sinnliche Erfahrung hinaus doch noch eine praktische Anwendung. Man denke nur an die Möglichkeit: Gehörlosen Musik optisch zu vermitteln, eine Abfolge von Klängen mittels alternativer Sinneswahrnehmungen nachvollziehbar zu machen. An Neugier und Ideen scheint es Martin de Bie jedenfalls nicht zu mangeln. Er bastelt, schraubt und lötet bereits an weiteren Projekten und entzündet vermutlich auch in Zukunft magische Leuchtfeuer.

www.martindebie.com