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Der Architekt über dem Nebelmeer – Teil 2
von Thomas Wagner | 09.09.2012

V.Feldforschung

Das Feld, auf dem die Architektur sich tummelt, ist weit, der Boden, auf dem die Architekten stehen, nicht immer einer, der gerne mit anderen geteilt wird. Trotzdem lassen sich in Venedig einige spannende Präsentationen finden, die bewusst einer Verengung des Aufgabenspektrums von Architektur und Stadtplanung entgegenzuwirken suchen. Sie tun dies nicht selten mittels Installationen, die einzelne, mit Raum und Bauen verknüpfe Phänomene aufgreifen, um diese dann weniger diskursiv auszubreiten als vielmehr sinnlich erfahrbar zu machen.

Ob im niederländischen Pavillon unter dem Stichwort „Re-set“ in einer puristischen Rauminstallation Möglichkeiten vorgeführt werden, mit bestehenden Strukturen umzugehen – die Installation besteht aus beweglichen Stoffbahnen, die auf Schienen an der Decke durch den Raum gleiten, ihn permanent verwandeln, einen Betrachter ihn also immer wieder anders wahrnehmen lassen –, oder ob im Pavillon der Vereinigten Staaten mittels von der Decke hängender Jalousien eine ganze Enzyklopädie spontaner urbaner Guerilla-Projekte vorgestellt wird, deren Spektrum von einer provisorischen Heiratskapelle für Lesben im New Yorker Central Park, Bänken für vernachlässigte Bushaltestellen und Behausungen für Fledermäuse bis zum Chair-Bombing reicht, bei dem Sitzgelegenheiten aus Paletten in öffentlichem Grün verteilt werden, – stets geht es auch darum, Raum in seinen unterschiedlichen, vor allem öffentlichen Facetten als veränderbar, erfahrbar und wahrnehmbar zu machen.

So lockert sich besonders in den Giardini, wo die einzelnen Länderpavillons miteinander konkurrieren, so manche Verkrampfung. Offensichtlich bemühen sich viele Architekten – aber auch andere Gruppen – darum, die Zunft aus ihrer selbstverschuldeten babylonischen Gefangenschaft herauszuführen. Sicher, nicht alles gelingt, so manches gerät allzu simpel; der Impuls, dem Starkult eine Architektur von unten ebenso an die Seite zu stellen wie ein Bauen, das sich nicht isoliert und taub macht gegenüber den legitimen Einsprüchen seiner aktuellen oder künftigen Nutzer, ist gleichwohl an vielen Stellen spürbar.

Eine Liste der Pavillons, die sich nicht in medialen Welten verlieren (siehe Russland) oder schlicht irgendwelche lokalen Projekte vorstellen, ist schnell aufgestellt: Neben den Niederlanden und den Vereinigte Staaten, die bereits erwähnt wurden, führen Kumiko Inui, Sou Fujimoto, Akihisa Hirata und Naoya Hatekayama im Pavillon Japans – ausgezeichnet mit dem Goldenen Löwen für den besten Pavillon – eindrucksvoll vor, wie man nach der Tsunami- und Fukushima-Katastrophe ein „Home-for-all“ entwickeln kann. Großbritannien macht sich unter dem Titel „Venice Takeaway“ mit Humor und zehn Architekten-Teams daran, in anderen Ländern nach Ideen zu fahnden, die geeignet sein könnten, die britische Architektur zu verändern – etwa durch den eher ironischen Vorschlag einer aus Amsterdam übernommenen „floating community“ für Londons Royal Victoria Docks. Und im polnischen Pavillon gehen Katarzyna Krakowiak und der Kurator Michael Libera unter dem von Charles Dickens entliehenen Titel „Making the walls quake as if they were dilating with the secret knowledge of great powers“ der Frage nach, wie sich „Sound“ ausstellen lässt, indem sie den Pavillon in eine Resonanzkammer kollektiver Interventionen verwandeln.

VI. Interessenpolitik

Dezidiert politisch gehen die Kuratoren des israelischen Pavillons zu Werke. Dazu zitieren sie auf der rückwärtigen Wand den früheren amerikanische Außenminister Alexander Haig mit dem zynischen Satz:


„Israel is the largest American aircraft carrier in the world that cannot be sunk ... and is located in a critical area for American national security.“


Am Ausgang folgt lapidar der Hinweis:

„To The American Pavilion“

In der Ausstellung geht es sodann um die Veränderungen der Architektur in Israel seit 1973 und darum, wie diese von Amerika, dessen kapitalistischem System und seinen strategischen Interessen beeinflusst wurde. Mittels Merchandise-Artikeln wie kleinen Präsidenten-Puppen, einem Bastelset für Siedler-Container oder Sparbüchsen, auf denen Uncle Sam mit dem Spruch „save to save your country“ um Geldmünzen bittet, wird der politisch-gesellschaftliche Hintergrund des Bauens ausgeleuchtet. Selten hat man bei einer Biennale ganz offiziell einen derart realistischen und kritischen Beitrag gesehen.

VII. Reduce, Reuse, Recycle

Im deutschen Pavillon halten sich Muck Petzet, die Fotografin Erica Overmeer und Konstantin Grcic als Ausstellungsdesigner an eine Alliteration: RRR – Reduce, Reuse, Recycle. Den Dreiklang bewusster Architekturvermeidung schreiben sie nicht nur in großen Lettern auf die Fassade, sie deklinieren ihn auch anhand von Begriffen wie Wahrnehmung, Instandhaltung, Verhalten, Renovierung, Umnutzung, Füllung, Redesign, Subtraktion, Addition, Materialrecycling, Gestaltrecycling und sechzehn konkreten Projekten durch.

Die Überlegung ist so simpel wie zutreffend: „In deutschen Architekturbüros“, schreibt Muck Petzet im Katalog, „ist die Arbeit mit dem Gebäudebestand längst zur wichtigsten Aufgabe geworden. Das Neubauvolumen macht jährlich nur rund 1 Prozent des Gebäudebestands aus, 80 Prozent der Wohnungsbaubudgets werden im Bestand ausgegeben. Es gibt ein Zuviel an Architektur.

Schrumpfung und Verkleinerung sind wichtige Planungsaufgaben, und auch da, wo noch Wachstum ist, geht es nicht um Tabula rasa und Neubau, sondern um Revitalisierung, Umnutzung, Verdichtung, Ergänzungen sowohl in bestehenden Gebäuden als auch im Gewebe der Städte. Der Umgang mit dem Bestehenden ist kulturell und wirtschaftlich entscheidend für unsere Zukunft, und auch die ehrgeizigen Klimaziele können wir nur durch die Verbesserung des Vorhandenen und die Erneuerung bestehender Infrastrukturen erreichen.“

Petzet plädiert für ein alternatives Wachstum, das den Begriff des Neuen mit dem des Bestehenden rückkoppelt. Nicht Architekten werden gefeiert, sondern insgesamt sechzehn Ergebnisse präsentiert. Dass diese im Pavillon selbst lediglich plakativ vorgestellt werden, Grundrisse, Nutzerstrukturen – wer wohnt hier, wer wurde verdrängt? –, urbane Kontexte, soziale Folgen und Gentrifizierungsprozesse hingegen ausgeblendet bleiben, macht die Schwäche der Präsentation aus. Wirklich einschätzen lässt sich nicht, wie sich Gewinn und Verlust im je einzelnen Projekt zueinander verhalten. So manche (Luxus-) Sanierung reizt zum Widerspruch.

Im Grundsatz geht es darum, was da ist weiterzuverwenden, zu transformieren, umzunutzen, oder, wenn nicht anders möglich, zu recyceln. Aus all dem spricht ein großer Respekt vor dem Bestehenden, der auf einen grundlegenden Wandel vorausweist. Plötzlich erscheint – mit Blick auf die Folgen – der geringste Eingriff angemessener, keine Änderung als die allerbeste. Alle Faktoren zusammengenommen, RRR plus Architekturvermeidung, verweisen auf eine neue Ethik des Bauens, in deren Zentrum nicht länger der modernistische Wert des Neuen steht.

Zu Kronzeugen einer solchen Erweiterung und weiter reichenden Wertschätzung des „Bauens im Bestand“ werden Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal berufen, die bereits vor sechzehn Jahren den Platz Léon Aucoc in Bordeaux dadurch verbesserten, dass sie nichts verändert haben. Angeregt wurde lediglich eine regelmäßige Pflege des Platzes.


„Wir sehen uns in der Pflicht, bei jeder neuen Aufgabe in unseren Überlegungen bei null anzufangen. Das kann so weit gehen, dass wir unsere Disziplin, also die Art und Weise, wie Architektur praktiziert wird, grundsätzlich hinterfragen.“
Jean-Philippe Vassal


Doch nicht nur thematisch erweist sich der deutsche Pavillon als Lichtblick. Konstantin Grcic ist es, mit erstaunlich wenigen Mitteln, gelungen, die schwierigen Räume in ein ebenso klares wie angenehmes Ensemble zu verwandeln. Wer in den vergangenen zwanzig Jahren verfolgt hat, wie schwer sich – bei der Kunst- wie bei der Architektur-Biennale – Künstler und Gestalter mit dem stets umstrittenen deutschen Pavillon getan haben, der kann Grcics locker und selbstverständlich daherkommende Lösung nicht hoch genug einschätzen.

Im Grunde sind es drei Faktoren, die den Unterschied ausmachen: Der Eingang wurde auf die Seite verlegt, was es erstens erlaubt, den Raum vor dem zentralen Eingang zu beruhigen und zu einem Ort des Verweilens zu machen, und – zweitens – die Raumfolge im Inneren mit ihren Durchblicken anders wahrnehmen zu können. Sodann tragen die als Wandtapete applizierten Fotografien von Erica Overmeer dazu bei, dass – in Verbindung mit den Durchblicken – die vorgestellten Projekte als solche präsent zu sein scheinen, also nicht nur abstrakt als Belege auftreten. Blickt man etwa über den mittleren Raum hinweg auf eine Fotografie in einem der seitlichen Säle, so glaubt man für einen Moment, man blicke direkt auf das dort abgebildete Gebäude. Last but not least ist Grcic eine ebenso charmante wie unaufdringliche Hommage an Venedig geglückt, indem er die Hochwasserstege der Kommune als den Raum strukturierende Laufstege und Sitzbänke einsetzt.

Auch wenn sich die Thematik vor allem auf europäische und deutsche Verhältnisse, also auf schrumpfende Städte und einen soliden Gebäudebestand, bezieht, so wurde die Verbindung zwischen Ethik, Baupolitik, einzelnen, zu diskutierenden Projekten und einer für Shows wie die Biennale hinreichend plakativen, aber nie oberflächlichen Präsentation selten so treffend hergestellt wie in diesem Jahr.

VIII. Grönland global und lokal

Bleibt der dänische Pavillon, in dem man sich intensiv um ein neues, anderes Grönland Gedanken macht, das mit einem Mal vom Rand des Globus ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt ist. „Possible Greenland“ wurde das Vorhaben genannt, das nicht nur den Klimaveränderungen in der Arktis Rechnung trägt, sondern auch dessen historischen und kulturellen Eigenheiten. Im Grunde geht es um nicht weniger als darum, wie eine unabhängige grönländische Gesellschaft, eine neue Nation, aussehen könnte und was Architektur dazu beitragen kann. Fisch- und Robbenfang, Tourismus, Alkohol, Fragen der Demographie, der Energie und deren nachhaltiger Erzeugung, die Mischung der Ethnien und der Sprachen – all das und einiges mehr wird vorgestellt und diskutiert. Im Grunde werden eher Fragen gestellt als Lösungen präsentiert, was das Ganze nie aufgesetzt wirken lässt. Großprojekte gibt es trotzdem. Wie Grönland – zu Wasser und aus der Luft – künftig mit der Welt verbunden werden könnte, demonstriert beispielsweise das Projekt eines „global hub“ in Nuuk, an dem unter anderen die Architekten der Bjarke Ingels Group (BIG) mitgewirkt haben. Ihr Vorschlag nimmt die Verbindung aus Schiffs- und Flughafen wörtlich und macht daraus ein veritables und futuristisches (Dreh-) Kreuz aus Landebahn und Schiffspier.

Auf einer der Wände des dänischen Pavillons kann man lesen, was derzeit weltweit für viele offene Fragen und Projekte gelten könnte:


„What is Your Vision?
There is no shortcut to a better future. There are a lot of choices to be made. A lot of barriers to be broken down. A lot of dilemmas to be solved. We need to define our values and formulate a vision for Greenland to guide us in the right direction. Only a broad debate can help us make wise decisions and develop smart solutions. Let the debate go on ...“


Der „Common Ground“, das könnte eine der Einsichten sein, die sich in Venedig gewinnen lässt, ist alles andere als stabil. Er muss immer wieder neu und immer wieder anders, vor allem aber in einem offenen Dialog, an dem möglichst viele teilnehmen, geschaffen werden. Was auch bedeutet: Architekten und Bauherren sind nicht mehr allein. Sie werden sich daran gewöhnen.

13. Architekturbiennale Venedig,
bis 25. November 2012
www.labiennale.org

Bestandssicherung: Der deutsche Pavillon des Architekten Muck Petzet, der Fotografin Erica Overmeer und des Designers Konstantin Grcic präsentiert sich unter dem Motto „Reduce, Reuse, Recycle“, Foto © Thomas Wagner, Stylepark
Fotografien von Erica Overmeer im deutschen Pavillon, Foto © Thomas Wagner, Stylepark
Durchblicke: Die großflächigen Fotografien von Erica Overmeer im deutschen Pavillon wirken manchmal, als hätte man tatsächlich ein Bauwerk vor sich, Foto © Thomas Wagner, Stylepark
Konstantin Grcic vor dem deutschen Pavillon, Foto © Thomas Wagner, Stylepark
Dialog auf Augenhöhe: Bundesbauminister Peter Ramsauer während der Pressekonferenz im Gespräch mit Muck Petzet, Erica Overmeer und Konstantin Grcic, Foto © Thomas Wagner, Stylepark
So könnte man nicht nur in Grönland ein Gespräch über die Zukunft führen, Foto © Thomas Wagner, Stylepark
Grönlands Brücke zur Welt: Das Großprojekt eines „global hub“ für Nuuk, das Grönland zu Wasser und aus der Luft mit dem Rest der Welt verbinden soll, im dänischen Pavillon, Foto © Thomas Wagner, Stylepark
Entdecke die Möglichkeiten: Mithilfe dieser puristischen Installation aus beweglichen Stoffbahnen plädieren die Kuratoren des niederländischen Pavillons dafür, Bestehendes neu wahrzunehmen, Foto © Thomas Wagner, Stylepark
Auch der französische Pavillon hat seine Fototapete, Foto © Thomas Wagner, Stylepark
Das Zitat, das im israelischen Pavillon angebracht wurde, stammt vom ehemaligen amerikanischen Außenminister Alexander Haig, Foto © Thomas Wagner, Stylepark
Merchandising für den größten amerikanischen Flugzeugträger: Im israelischen Pavillon wird kritisch der Einfluss amerikanischer Interessen auf die israelische Architektur untersucht, Foto © Thomas Wagner, Stylepark
Siedlungspolitik als Bausatz: Eines der Merchandising-Produkte im israelischen Pavillon, Foto © Thomas Wagner, Stylepark
Wie man mit Humor auf andere Länder schaut: „The Dutch Way“ von dRMM im britischen Pavillon, Foto © Thomas Wagner, Stylepark
Standardisiertes Schulbauprogramm aus Brasilien: „Animating Education: Learning from Rio de Janeiro“ von Aberrant Architecture im britischen Pavillon, Foto © Thomas Wagner, Stylepark
Dreimal R für Deutschland: Der deutsche Pavillon bekennt sich zur Architekturvermeidung, Foto © Thomas Wagner, Stylepark
Rasch verteilten sich die Taschen aus dem deutschen Pavillon über die Giardini und wiesen jedem den Weg zu einer Architekur, die sich zuallererst mit dem Bestehenden beschäftigt, Foto © Thomas Wagner, Stylepark
Neuanfang für Japan: Für ihr Projekt „Home-for-all“ wurden Kumiko Inui, Sou Fujimoto, Akihisa Hirata und Naoya Hatekayama mit dem Goldenen Löwen für den besten Pavillon der diesjährigen Biennale ausgezeichnet, Foto © Thomas Wagner, Stylepark
Von Heiratskapellen und Chair-Bombing: Guerilla-Projekte im amerikanischen Pavillon zeigen, wie mit geringen Mitteln größtmögliche Wirkung erzielt werden kann, Foto © Thomas Wagner, Stylepark
Bunt und medienwirksam: Der Pavillon der Vereinigten Staaten präsentiert auf farbenfrohen Jalousien urbane Guerilla-Projekte, Foto © Thomas Wagner, Stylepark