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Ein lässiger Herrscher inmitten seiner drei- und vierbeinigen Untertanen: Hans Jørgensen Wegner, der „König der Stühle“. Sämtliche Abb. aus dem besprochenen Band © Verlag Hatje Cantz
Ein Stuhl hat ihm nicht gereicht
von Thomas Wagner
19.09.2014

Auf Fotografien wirkt er bescheiden, fast ein wenig bieder. Doch dann stößt man auf eine Aufnahme, die ein Schwimmbecken samt kleiner Tribüne zeigt – und hoch in der Luft einen Mann, der mit gestrecktem Körper gestreckt und ausgebreiteten Armen vom Zehn-Meter-Turm springt. Einer der Gründe, so klärt der Bildtext auf, weshalb Hans J. Wegner „zu einem epochemachenden dänischen Designer des 20. Jahrhunderts wurde, war, dass er niemals den Sprung in tiefes Wasser scheute. Obwohl ihm der dänische Funktionalismus gelehrt wurde, der beharrlich an seinen Dogmen festhielt, scheute er sich weder zu experimentieren noch seine Kreationen auszustellen, um Reaktionen zu erhalten.“ Im Vorwort wird dann sogleich lakonisch festgestellt: „Wegner war der wohl produktivste Möbeldesigner der Welt“. Was stimmt, wenn man bedenkt, dass sich in seinem Nachlass mehr als 3.500 Möbelentwürfe befinden. Rund 500 seiner Möbel gingen in Produktion.

Es ist ein gewichtiger Band geworden, den Christian Holmsted Olesen dem großen Hans Jørgensen Wegner (1914 bis 2007) aus Anlass seines 100. Geburtstags gewidmet hat. Man muss, was dabei herausgekommen ist, schlicht ein Standardwerk nennen. Allein schon die Aufmachung atmet den Geist soliden Handwerks: Grobes Leinen, darin eingeprägt in Großbuchstaben der Name „Wegner“ und darunter in Minuskeln der Titel „just one good chair“ sowie die Silhouetten einiger der bekanntesten Stühle Wegners. Erst nach eingehender Lektüre wird man feststellen, dass Wegners inniger Bezug zum Handwerklichen beileibe nicht alles ist, was es über ihn zu sagen gibt, denn es war eben nicht nur das schiere Handwerk, das den anhaltenden Erfolg der Möbel dieses Ausnahmendesigner erklären kann, der Zeit seines Lebens auf der Suche war nach dem perfekten Möbel.

Man merkt es dem Text an, dass Olesen nicht zum ersten Mal ein Buch über Wegner geschrieben hat. Schon was die Gliederung des umfangreichen Materials betrifft, geht er geschickt vor. Im ersten, rund neunzig Seiten umfassenden Teil des Bandes liefert Olesen unter der Überschrift „Vom dänischen Traditionalisten zum internationalen Modernisten“ zunächst eine sachliche, klug und präzise argumentierende Einführung in Wegners Schaffen, die sich an dessen Lebensstationen ebenso orientiert wie an der in Schüben verlaufenden Entwicklung seines Werks. Hier wird deutlich, welchen Einfluss und welche Bedeutung die Begegnungen mit Persönlichkeiten, Institutionen, Schulen und Unternehmen auf den Designer hatten.

Im darauf folgenden zweiten Teil „Möbeltypen und Leitmotive“ werden Wegners Möbel dann in einer Art Bestandsaufnahme dokumentiert und im historischen Kontext beschrieben – von den Sprossen ¬– und Chinastühlen über die Schalen-, Falt- und Liegestühle bis hin zu den Polstermöbeln, Tischen und, eher untypisch für Wegner, den Aufbewahrungsmöbeln. Illustriert wird diese umfassende Geschichte seines Werks – dank der Archive in Wegners Büro – ausschließlich mit Fotos aus der Entstehungszeit der jeweiligen Möbel und mittels Abbildungen von Originalskizzen und Arbeitsentwürfen. Und was die Fähigkeit zur Analyse, was detailgenaues Nachdenken und kluge Selbstbeschränkung angeht, so sind es immer wieder Wegners eigene Äußerungen, die, innerhalb des Textes oder eigens hervorgehoben, wichtige Hinweise auf sein Denken und sein methodischen Vorgehen liefern.

„Ach, könnte man im Leben nur einen einzigen guten Stuhl entwerfen – aber das geht eben nicht.“ Hans J. Wegner, 1952

Es sind seine Stühle, die Wegner berühmt gemacht haben. Er gilt als „der König der Stühle“, war er doch geradezu besessen von der Idee, wenigsten einmal den perfekten Stuhl entwerfen zu können. Überzeugt davon, dass es nichts gibt, was sich nicht verbessern ließe, entwarf er seine Möbel auf der Basis eines enorm einfühlsamen Verständnisses für Material, Konstruktion und Nutzung. Wobei sein ausgeprägtes handwerkliches Geschick freilich nur den Rahmen bildet, innerhalb dessen Wegner seine Begabung als Designer und als experimenteller Künstler entfalten konnte. Im Grunde, das wird immer wieder deutlich, war er ein skeptischer Idealist, ein Neuplatoniker, der die Dinge schon früh mit strengem Blick auf ihr Wesen befragte, sich dabei aber zunächst an die strengen Anforderungen des Funktionalismus hielt, wie er sie im Umkreis der Klint-Schule anzuwenden gelernt hatte.

„Der Stuhl steht dem Menschen am nächsten. Man kann ihm einen persönlichen Ausdruck verleihen.“ Hans J. Wegner

Was er auch tat, Wegner hat seine Neugierde und seine Freude am Experiment nie verloren. Darin liegt einer der Gründe, weshalb sein organischer Modernismus, niemals dogmatisch auftritt und sich von den Arbeiten eines Kaare Klint, Poul Kjærholm, Børge Mogensen oder Finn Juhl unterscheidet. Wegners Entwürfe sind eben geometrisch, konstruktiv und zugleich organisch. Wobei, auch das ein antidogmatischer Zug, der Blick auf sein Gesamtwerk sehr deutlich macht, dass Wegner stets für nicht zu erwartende Wendungen und Überraschungen gut war, ein Thema variieren und von einem Typus zum anderen springen konnte. Er wusste, dass der Stuhl, auf dem jemand sitzt, Status und Macht widerspiegelt, ließ sich aber nicht davon abhalten, individuelle Stühle zu entwerfen, Stühle für alle, in denen Form und Funktion, aber auch Erlebnis und Dekor in einer höheren Einheit aufgehen. Bis heute ist es ein Genuss, Wegners Möbel im Kontrast zur rational wirkenden Glasarchitektur der Moderne als Alternative wahrzunehmen. So rational ihre Konstruktion auch entwickelt ist, Wegners Stühle wirken nie spartanisch, sondern bei aller Solidität oft geradezu extravagant, luxuriös, zuweilen sogar prunkvoll. Man denke nur an den „Pfauenstuhl“, mit dem Wegners „Themenserien“ beginnen, dem ersten in der Reihe von „Tiermöbeln“. Wobei man in dem Band erfährt, dass es andere waren, nicht Wegner selbst, dem Pfaue, Kühe, Stiere, Büffel, Ochsen, Bären und Delfine als Namensgeber dienten.

„Selbst der am wenigsten gelungene Stuhl ist meiner Meinung nach nicht umsonst entworfen. Jedenfalls haben diese für mich einen Wert als Entwicklungsstadien.“ Hans J. Wegner

Das Jahr 1949 brachte den Durchbruch für die dänische Möbelindustrie und für Wegner. Der Markt verlangte zunehmend nach handgefertigten Schreinermöbeln und die alljährlich im Herbst stattfindende Ausstellung der dänischen Schreinerinnung, auf der traditionell Neuheiten gezeigt wurden, fand auch in den Vereinigten Staaten Beachtung. Was da 1950 auf mehreren Seiten der Zeitschrift „Interiors“ abgehandelt wurde, enthielt auch Wegners „Runden Stuhl“. Der JH 501 sollte sein berühmtester Entwurf werden. Es ist jener Stuhl, den die Amerikaner voller Bewunderung schlicht „The Chair“ nennen und der 1960 im Präsidentschaftswahlkampfs zwischen John F. Kennedy und Richard Nixon – beim ersten TV-Duell der Geschichte – seinen großen Auftritt hatte. Es wird Wegner gefallen haben.
Aufgrund des „Dreischaligen“, des Faltstuhls FH 512 und den JH 501 wird der Produzent Carl Hansen & Søn auf Wegner aufmerksam und wünscht sich etwas Ähnliches wie den „Runden Stuhl“, ein Möbel, das sich zur Massenproduktion eignet. Wegner liefert Hansen den an chinesische Vorbilder angelehnten „Y-Stuhl: Er ist leicht, verhältnismäßig billig und in gehobenem Sinn durchaus volkstümlich, was ihn zum Verkaufsschlager macht. Man darf nicht vergessen, dass Wegners Möbel bis dato allesamt von Hand gefertigt wurden und er es, aus Sorge um die Qualität, lange ablehnte, die Produktion auf rationellere Fertigungsmethoden umzustellen, wie es ihm unter anderem amerikanische Firmen nahelegten.

„Es ist, als wäre das mit ,dem Stuhl’ einfach Unsinn. Denn den einen Stuhl gibt es nicht. Ich spüre, dass er immer weiter wegrückt, je mehr ich an ihm arbeite. Vielleicht aber auch nicht. Es lässt sich nichts Endgültiges schaffen. Das können nur die, die nicht verstehen, worum es geht. Ich meine immer, dass man es noch besser machen kann – vielleicht einfach nur mit vier geraden Stäben...“ Hans J. Wegner, 1992

Wegner wäre nicht Wegner, wäre ihm nicht klar gewesen, dass es zwar richtig und wichtig ist, nach dem Endgültigen zu streben, das Ergebnis der Idee aber nie vollständig entsprechen kann. Umso aktueller erscheint sein Umgang mit der Tradition. Er agiert gerade nicht nur vernunftbetont, vereinnahmend und rational. Vielmehr arbeitete er konsequent an der, so Olesen, „Vermenschlichung des Sitzgeräts“, wobei er nicht nur traditionelle Typologien wie Bauern-, China- und Windsorstühle aufgreift, sondern sie und mit ihnen die Tradition einem gründlichen Klärungs- und Reinigungsprozess unterzieht. So verleitete der Rückgriff Wegner keineswegs dazu, mit dem Typus auch die eher statische Sitzposition zu übernehmen. Seine Stühle wurden breiter, bequemer, und in Exemplaren wie dem „Ochsenstuhl“ von 1960 – Wegners Lieblingssessel – bereitete er sogar die entspannte, zurückgelehnte Sitzposition vor, wie sie sich schließlich in den Sitzlandschaften des Pop-Designs Bahn brach. Auch die konstruktiven Elemente und Verbindungen sind bei Wegner nie rein visuell begründet – eher schon pragmatisch entwickelt.

Wegner hat es geschafft, einer Spielart der Moderne Ausdruck zu verleihen, in der die Konsequenzen einer fortschreitenden Rationalisierung abgemildert erscheinen. Einer Moderne, die nicht radikal mit der Tradition brechen musste, um sich behaupten zu können, sondern die in der Auseinandersetzung mit Bewährtem zu einer alles andere als marginalen Verbesserung vordringt. Wegner wusste, dass die Umsetzung die Idee verändert und man sich nicht zu sehr festlegen lassen darf. Zugleich aber hielt er an seinem Anspruch fest, wenigstens „einen guten Stuhl“ zu entwerfen. Eine Kombination, die es ihm ermöglichte, immer wieder zum Ausgangspunkt zurückzukehren, neu anzusetzen und sich seine Beweglichkeit zu bewahren. Oft hat er, nicht nur in der Anfangszeit, in der Werkstatt experimentiert, das Erreichte hinterfragt – und sich so neue Ansätze und Lösungen erarbeitet.
Dass es Hans J. Wegner nicht nur darum zu tun war, neue Ideen in die Welt zu setzen, „sondern auch darum, die Idee auf die denkbar beste Art zu realisieren“ – und dass er dabei auf bewährte Möbeltypen zurückgriff, aus denen der Archetypen einer neuen Zeit destillierte, lässt ihn heute für Designer besonders interessant erscheinen. Man muss nicht bei Null anfangen, um einen guten Stuhl zu entwerfen. Oder mehrere.


Hans J. Wegner
Just One Good Chair
Text Christian Holmsted Olesen,
Gestaltung Rasmus Koch
geb., 256 S. 300 Abb.,
deutsche und englische Ausgabe
Verlag Hatje Cantz,
49,90 Euro

Den Spuren chinesischer Stühle folgend: Wegners „Y-Stuhl“ CH24 von 1950 wird auch „Wishbone-Chair – Wünschelruten-Stuhl genannt.
Manchmal sind Wegners Stühle einfach und extravagant: Der zweiteilige Schalenstuhl von 1963.
Lässiger Sessel zum Lümmeln: Wegners „Flaggenleinenstuhl“ GE225 von 1950 verlangt nicht viel Schreinerarbeit, aber viel Handarbeit. Die Sitzfläche muss nämlich mit 250 Meter Fahnenschnur bespannt werden.
Designer im Gespräch: Hans J. Wegner und Charles Eames 1959 bei der Eröffnung von Wegners Retrospektive in New York.
So entstehen Legenden: John F. Kennedy beim Fernsehduell mit Richard Nixon auf Wegners „Rundem Stuhl“ CH503, den die Amerikaner einfach „The Chair“ nennen.
Schwebende Flächen: Der „Dreiteilige Schalenstuhl“ von 1949 beweist, dass Wegner sowohl die Technologie als auch die Formensprache virtuos zu handhaben versteht.
Das Cover signalisiert solide Handwerklichkeit.
Originalzeichnung: Wegners Entwurf für den „Y-Stuhl“ von 1950.