top
Endspurt 28: Der große Riss
von Sara Bertsche | 28.12.2015
Der „Grande Cretto di Gibellina“ auf Sizilien: Alberto Burri arbeitete an seinem Projekt bis 1989 – dann gingen ihm die finanziellen Mittel aus.
Ende letzten Jahres konnte die Gedenkstätte nun posthum vollendet werden. Foto © Petra Noordkamp

Ob er gebrannten Ton, Metall oder grobes Sackleinen verwendete – es sind die markanten „Risse“, die Alberto Burris Werke aus der Serie „Cretti“ auszeichnen. Der italienische Maler verwandelte seine Leinwände stets in taktile Oberflächen, die an zerklüftete, mitunter düstere Landschaften erinnern. Für Alberto Burri (1915 bis 1995), der während des Zweiten Weltkrieges als Militärarzt verwundete Soldaten behandelte, waren die Schrecken der Vergangenheit ein Quell künstlerischer Inspiration – und zugleich ein Mittel, sich mit dem Trauma des Krieges auseinanderzusetzen. Seine abstrakten Gemälde, Materialcollagen und Skulpturen bändigen die zerstörerische Kraft, die er während des Gestaltungsprozesses anwendete, offenbaren sie in den sogenannten „Cretti“ aber auch wie in einer klaffenden Wunde.

1984 hat Burri damit begonnen, das kollektive Trauma einer Naturkatastrophe in Sizilien in ein Kunstwerk zu transformieren, um der zerstörten Stadt Gibellina ein Denkmal zu setzen: Der „Cretto di Burri“ – oder „Grande Cretto di Gibellina“ – ist ein Environment aus mannshohen, unregelmäßig geformten Zementblöcken, die sich über eine Fläche von rund 55.000 Quadratmetern erstreckt und als Labyrinth aus schmalen Gassen an die geborstene Erde erinnert, durch die 1968 die im Belice-Tal gelegene kleine Hügelstadt aus dem 14. Jahrhundert fast vollständig zerstört wurde.

Bei der Katastrophe kamen 390 Menschen ums Leben; 70.000 wurden obdachlos. Der Senator Ludovico Corrao entschied sich gegen den Wiederaufbau Gibellinas und ließ neun Kilometer entfernt eine neue Stadt errichten, für die bekannte Künstler und Architekten wie Rob Krier, Oswald Mathias Ungers und Joseph Beuys im Zeichen eines „hoffnungsvollen Neubeginns“ zahlreiche Kunstwerke und Skulpturen stifteten. Auch Alberto Burri folgte der Einladung, war aber mehr daran interessiert, an die alte Stadt, das „Gibellina Vecchia“, zu erinnern. Er ließ ihre Ruinen in eine Fläche aus weißem Zement gießen, die von schmalen Pfaden durchzogen ist, auf denen der Besucher die Gedenkstätte erkunden und die Stadt im Geiste wieder auferstehen lassen kann. Burris „Grande Cretto“, das erst Ende letzten Jahres posthum vollendet wurde, hält den Riss fest, den das Erdbeben für immer in der Landschaft und im Leben der Menschen von Gibellina hinterlassen hat.

Alberto Burri: The Trauma of Painting
Guggenheim Museum, New York,
bis 6. Januar 2016

Die Ruinen der Stadt ließ der italienische Künstler in weißen Zement gießen – verschlungene Wege zwischen den mannshohen Blöcken zeichnen die ursprünglichen Gassen von Gibellina nach.
Foto © Petra Noordkamp
Symbolisches Traumata und künstlerische Transformation: Der Grande Cretto erinnert an die Katastrophe von einst, steht aber auch für einen hoffnungsvollen Neuanfang. Foto © Petra Noordkamp
Die idyllische Hügelstadt wurde 1968 bei dem Erdbeben im Belice-Tal vollständig zerstört. Die Überlebenden nahmen das neu aufgebaute Gibellina – eine Stadt „vom Reißbrett entworfen“ – nie richtig an. Foto © Petra Noordkamp
Erinnerungen an das alte Gibellina: Die Gründung der Stadt geht auf das 14. Jahrhundert zurück. Foto © Petra Noordkamp
Alberto Burri 1982 in seinem Studio in Case Nove di Morra, Città di Castello, Italien. Der Künstler gilt heute al seiner der wichtigsten Vertreter der materialexperimentellen Nachkriegsabstraktion.
Foto © Aurelio Amendola, Pistoia, Italy