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Es ist angerichtet
von Sandra Hofmeister | 26.11.2011

Stühle sind die Königsdiziplin im Design – ihnen gilt mithin die größte Aufmerksamkeit. Tische hingegen werden gerne stiefmütterlich behandelt, als eine Art Begleiterscheinung von Stühlen, passend in Material und Form. Doch diese Wertung im Reigen der Objekte übersieht die Tatsachen. Tische gibt es mehrfach in jedem Haushalt. Die Typologie ist Jahrtausende alt, und ebenso lange hat sich kaum etwas an ihr verändert, wie es scheint. Trotzdem haben Tische eine gesellschaftliche Relevanz, die sich auch in Metaphern und Bildern zeigt: Es gibt Tischreden und Tischdamen, Tischgesellschaften und Gespräche am runden Tisch. Man kann auf den Tisch hauen, etwas unter dem Tisch verkaufen, reinen Tisch machen oder jemanden unter den Tisch trinken. Anstatt das Objekt selbst zu beschreiben, benennen all diese Bilder Gewohnheiten rund um den Tisch, die sich in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen und zu unterschiedlichen Zeiten entwickelt haben. Obwohl der Nutzung von Tischen kaum Grenzen gesetzt sind, haben die meisten Metaphern doch eines gemeinsam: Sie beschreiben Verhaltensweisen und Regeln, die sich rund um das Möbel entfaltet haben. Tische bringen Menschen zusammen und „organisieren" ihre Gewohnheiten.

Marmor, Karbon und Stahl

Als Brückenmöbel überspannen Tische den Raum, statt ihn zu umschließen. Klapptische, Beistelltische und Esstische mit drei oder vier Beinen sowie auf mittigen Säulen waren schon in der Antike prestigeträchtige Objekte. Als Tricliniumtische wurden sie neben das Speisesofa gestellt und galten unter vornehmen Römern als Sammelobjekte, die in edlem Zedernholz oder aus Pinie gefertigt wurden und oft mit Elfenbeinintarsien verziert waren. Ihren Sammlerwert haben Tische allenthalben bis heute nicht verloren. Was zählt, sind die Verarbeitung und das Material – beides schlägt sich oft in Preisen nieder, welche aus Gebrauchsobjekten wertvolle Kunstgegenstände und Investitionen machen. Der „Surface Table" (2008) von Terence Woodgate und John Banard, der als Ingenieur eigentlich Formel 1-Rennwagen und -Motorräder entwickelt, spannt seine Fläche aus Karbon über eine Länge von sagenhaften drei Metern. Die zwei Millimeter dünnen Kanten der Tischfläche, für deren Fertigung Technologien aus dem Autosport und der Flugzeugindustrie angewandt wurden, scheinen auf den vier Stahlbeinen zu schweben – eine dünne Linie, die den Raum durchschneidet und an die Grenzen des konstruktiv Machbaren führt.

Dünn und leicht statt schwer und massiv präsentiert sich auch der „Air Table" von Jasper Morrison. Passend zu seinem Namen, der sein luftiges Erscheinungsbild benennt, ist das Polypropylen des Möbels weiß oder beige gefärbt. Abgerundete Kanten und optisch kaum erkennbare Verbindungsfugen zwischen Tischplatte und –beinen kommen noch hinzu. Der Charakter des Möbels zeigt sich fließend, leicht und wie aus einem Guss gefertigt. Philippe Malouin ging mit dem Entwurf des „Grace Table" sogar noch einen Schritt weiter: Die Luft gehört bei diesem aufblasbaren Objekt mit zur Konstruktion. Verpackt nimmt das Gummimaterial der Tischoberfläche nur 110 Zentimeter mal drei Zentimeter ein und kann in einer Tasche verstaut werden. Aufgepumpt hingegen breitet sich der Tisch mit seinen Holzbeinen auf drei Metern Länge aus und ist rundherum stabil.

Eine Frage des Charakters

Tische geben Räumen ein Gesicht, ihr Charakter kann tonangebend sein. Das Material ist dabei nicht nur für Nutzungsszenarien im Innen- oder Außenbereich, als Ess- oder als Konferenztisch entscheidend. Es gibt obendrein den Takt für die Formgebung und für dekorative Optionen vor. Eero Saarinens „Tulip Table", ein Klassiker aus den fünfziger Jahren, hat auf seiner kreisrunden Marmorplatte dünne Maserungen, welche den tulpenförmigen Tischfuß um filigrane organische Linien ergänzen. Luca Nichettos „Blackstone" für Moroso wiederum setzt auf Porzellanlaminat im Verbund mit Glas. Die dunkle Tischoberfläche, die von vier Stahlbeinen getragen wird, zieren Rosenmotive. Dazu wurden die Fotografien von Massimo Gardone auf Porzellan gedruckt – eine romantische und bewusst kitschige Note, welche im Kontrast zur ansonsten schlichten Form des „Blackstone" steht. Weniger die Tischfläche denn die Beine geben in Alfredo Häberlis „Stabiles"-Tischen den Charakter an. Alexander Calders Stahlskulpturen waren die Inspiration für die Entwicklung und Formgebung der hölzernen Unterkonstruktion, deren skulpturaler Ausdruck in den Blick fällt. Christophe de la Fontaine und Stefan Diez hingegen beschränkten sich in ihrem Entwurf für den „Bent Tisch" auf die nüchternen Möglichkeiten von Aluminium und machten die Konstruktionsmethode zum formgebenden Element: Mit Lasertechnik schnittgelocht, faltet sich die Oberfläche des Tischs seitlich nach unten und übernimmt so auch gleich die tragende Funktion.

Im schwedischen Schneegestöber

Fertigungstechniken wie Lasertechnologien oder fünfachsige CNC-Fräsen erweitern die Konstruktions- und Formoptionen von Tischen. Entwurfs- und Herstellungsprozesse sind dabei über Softwareschnittstellen miteinander verzahnt und gehen ineinander über. So entwickelte das schwedische Architekten- und Designtrio Claesson Koivisto Rune einen Beistelltisch, dessen Oberflächenform sich an Schneekristallen orientiert. Gemäß dem Leitspruch des amerikanischen Fotografen Wilson Bentleys, der für seine Schneekristallaufnahmen berühmt ist, zeigt sich dabei, dass alle Schneeflocken unterschiedlich sind und keine zweimal vorkommt. Die weißen, kristallförmigen Flächen von „Snowflake" werden mit einer speziellen Software in unendlichen, zufallsbedingten Variationen generiert. Eine CNC-Fräse fertigt die Tischflächen mithilfe der jeweiligen Entwurfsdaten aus kristallweißem Mineralwerkstoff. Statt immer gleicher Tische entsteht durch diesen Produktionsprozess ein Cluster aus lauter verschiedenen Kristallvarianten – ein schwedisches Schneegestöber, das auf Singularität setzt und doch serienproduziert ist.

Eine umfassende Übersicht an Tischen finden Sie hier:
Tische bei Stylepark

In unserer Serie zu den Produkttypologien sind bisher erschienen:
„Alles, was Möbel ist" von Thomas Wagner
„Nicht anlehnen!" über Hocker von Nina Reetzke
„Von Ruhe und Gemütlichkeit" über Lounge Chairs von Mathias Remmele
„Schaumstoffwiese, länger frisch" von Markus Frenzl
„Im Universum der Stühle" von Sandra Hofmeister
„Alles, was Stuhl sein kann" von Claus Richter
„Das Regal – ein Möbel der öffentlichen Ordnung" von Thomas Edelmann
„Wie der Sessel Ohren erhielt" über Sessel von Knuth Hornbogen
Die Stütze der Gesellschaft" über Regale von Thomas Edelmann
Der Schaukelstuhl als Passagenphänomen" von Annette Tietenberg
„Die kleine Welt der Multifunktionsmöbel" von Nancy Jehmlich
„Nun hopsen Sie doch nicht so! Das Bett als Schlaf- und Spielstätte" von Annette Tietenberg

„Bent Tisch“ von Christophe de la Fontaine und Stefan Diez, mit Lasertechnik schnittgelocht
„Air Table“ von Jasper Morrison für Magis
„Surface Table“ von Terence Woodgate und John Banard für Established+Sons
"Stabiles" Tisch von Alfredo Häberli für Alias
„Bent Tisch“ von Christophe de la Fontaine und Stefan Diez, mit Lasertechnik schnittgelocht
Eero Saarinens „Tulip Table“ mit Armlehnstuhl, für Knoll
Eero Saarinens „Tulip Table“, für Knoll
Luca Nichettos „Blackstone“ für Moroso
Luca Nichettos „Blackstone“ für Moroso
„Grace Table“ von Philippe Malouin
Snowflakes von Mârten Claesson, Eero Koivisto, Ola Rune für Offecct