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Feinschmecker mit Feingefühl
von Nina C. Müller | 09.03.2012
Delikate Themen, Buchfoto © Dimitrios Tsatsas, Stylepark

Wieder mal ein schickes, neues Kochbuch? Auch wenn es der Titel von „Delicate – New Food Culture" vermuten lassen könnte – um Kochen und bloße Nahrungsaufnahme geht es bei dieser Publikation ganz und gar nicht. Dafür aber, um alles, was darüber hinaus geht. Vom Ackerbau bis zum Tafelservice behandelt es die zahlreichen Facetten von Lebensmitteln, beleuchtet ihre nachhaltigen wie sozialen, ihre kreativen und sogar intellektuellen Potenziale – von Fooddesign und Retaildesign über themenbezogene Magazine wie neue Gastronomiekonzepte, mobile Kochstationen und clevere Verpackungen bis hin zu musealen und theatralen Events. Damit wird klar, dass kaum etwas so ganzheitlich die Sinne verführen kann, wie das Essen und dass es, zusammen mit seiner Inszenierung, immer auch ein kleines Kunstwerk ist. „Delicate" demonstriert – wie sein Titel schon sagt – Essen als Teil von Kultur, als Ausdruck persönlicher Haltung und gesellschaftlicher Fehlentwicklungen und präsentiert damit ein wahrhaft delikates Thema.

Konzepte statt Rezepte

Der Begriff „delikat" meint hier aber nicht nur das Leckere und Geschmackvolle. Diese Publikation widmet sich auch der anderen Bedeutungsebene des Wortes, nämlich den heiklen Angelegenheiten rund um das Lebensmittel. Während für einige Essen noch immer schnell und günstig, seine Beschaffung mit nur einem Weg zum Supermarkt oder während eines kurzen Stopps im Schnellimbiss erledigt und zügig mit einem Coffee to go heruntergespült sein muss, so zeigen die nunmehr zahlreichen Kochsendungen, bei denen Sterneköche zu Stars werden, dass Verzehr, Zubereitung und Inszenierung inzwischen zu genussvollen Lieblingsthemen geworden sind. Trotzdem: Uniforme und standardisierte Lebensmittel, Essen als Massenware, seine Verschwendung und der endlose, unreflektierte Verpackungswahn sind noch immer Nebeneffekte einer globalisierten Esskultur. Die Autoren von „Delicate" machen diese Auswüchse bewusst, aber nicht anprangernd oder mit erhobenem Zeigefinger, sondern lediglich mit einer sorgsamen Auswahl an durchdachten Gegenentwürfen zur Maschinerie des Fast Foods.

Immer schön langsam essen

Wie das praktisch aussehen kann, zeigt das „Go Slow Café". Das wandernde Pop-up-Restaurant und Gemeinschaftsprojekt von Droog, Marije Vogelzang, Hansje van Halem und Sloom beschäftigt lokal ansässige Senioren und zelebriert somit Gemächlich- und Gemütlichkeit. Die „Conflict Kitchen USA" in Pittsburg hingegen ist provokanter und schneller: In Kombination mit einem kulturellen Rahmenprogramm serviert sie landestypische Gerichte der Länder, mit denen sich die Vereinigten Staaten aktuell im Konflikt befinden. Damit kreiert sie nicht nur eine abwechslungsreiche Speisekarte, sondern bietet auch einen Treffpunkt für den politischen Austausch. Ein leises, aber aussagekräftiges Statement zum Thema Nachhaltigkeit liefern die Miniverpackungen von Cocoro no Akari, bei denen Eierschalen als Puddingschalen zweitverwertet werden.

Museumsreife Kochkunst

Poetisch und makaber zugleich: Für die „Food on the table collection" nahm die Produktdesignerin Marre Moerel die Formen von Tierorganen ab und entwickelte daraus ein reinweißes Tafelservice aus Porzellan – ein Funktion gewordenes Stillleben und Memento mori, das Fleischkonsum nicht bewertet, aber immerhin deutlich zum Thema macht. In einer etwas humorvolleren Form verdeutlicht auch der Illustrator Carl Kleiner die ästhetischen Eigenschaften von Lebensmitteln, wenn er aus Käse, Mehl oder Gemüse Grafiken erstellt, denen er Titel, wie „A Paraphrase of Kazimir Malevich" oder „Composition in Yellow" gibt. Weniger leicht verdaulich sind die riesigen Erdnussberge, die Tonne Barbecuerippen zwischen Lachen aus zähem Honig und die ganzen Apfelbäume, mit denen die Künstlerin Jennifer Rubells 2009 die Räume der Dia Art Foundation in New York füllte. Diese konsumkritische Installation mit dem Titel „Creation" zeigt, wie nah Schöpfung und Zerstörung beieinander liegen können.

Bigger, better, faster, more?

Aber wie könnte demnach eine gesündere Beziehung zwischen Mensch und Natur aussehen? Einen möglichen Denkanstoß liefern die Designer von Studio Formafantasma mit ihrem Open-Source-Projekt „Autarchy", das für eine Produktion in kleineren, schonenderen Maßeinheiten plädiert. Das heißt im Umkehrschluss aber auch, dass der Nutzer manchmal selbst handeln muss, eine Erfahrung, die zum Beispiel auch die Besucher des „Kochhaus Schöneberg" machen. Dort stellen seine Betreiber zwar Räumlichkeiten, Zutaten und Anleitungen, beim Kochen aber halten sie sich zurück, sprich: der Gast kocht selbst! Klingt frech, aber was bei dieser Erfahrung bleibt ist wohl viel nachhaltiger als der klassische passive Restaurantbesuch, denn hier nimmt man sein Essen – im wahrsten Sinne – selbst in die Hand und lernt im besten Fall noch ein neues Rezept.

Leser von „Delicate" lernen zwar keine Rezepte, dafür erfahren sie aber eine Menge sinnvoller Konzepte. Dieser reichhaltige Bildband, gegliedert in fünf Kapitel, zeigt abwechslungsreich Beispiele aus Unternehmertum und Kunst, genauso wie aus Retail-, Produkt- und Grafikdesign, die alle – durchdacht aber äußerst unkompliziert – eine größere Wertschätzung von Lebensmitteln evozieren. Dabei bilden die Autoren lediglich ab, geben den Aktivisten, Künstlern und Designern das Wort und zeigen die schönen, köstlichen und unterhaltsamen Seiten des Essens. Es ist ein Buch der Macher und Idealisten, die oft mit wenig Budget, dafür aber mit allen Sinnen, Hand und Kopf kreative Experimente wagen oder so lange an Geruch, Form, Farbe, Konsistenz und Geschmack tüfteln bis ein erlesenes Produkt entsteht. Eher subtil flechten seine Autoren die Botschaft ein, dass weniger oft mehr ist, und inspirieren so zum Nachdenken und Nachahmen.

Delicate
Herausgegeben von Robert Klanten, Sven Ehmann, Adeline Mollard, Kitty Bolhöfer
Softcover, 240 Seiten, englisch
Gestalten Verlag, Berlin, 2011
38 Euro
www.gestalten.com

Delikate Themen, Buchfoto © Dimitrios Tsatsas, Stylepark
Von der Kunst des Essens, Buchfoto © Dimitrios Tsatsas, Stylepark
Im „Kochhaus Schöneberg“ in Berlin kocht der Kunde selbst, Buchfoto © Dimitrios Tsatsas, Stylepark
Sympathischer „Butcher Shop“, Buchfoto © Dimitrios Tsatsas, Stylepark
Französische Makronen in Mexiko: „Theurel & Thomas“, book picture © Dimitrios Tsatsas, Stylepark
Qualitätsschokolade in außergewöhnlichen Formaten: „Chocolate Editions“, Buchfoto © Dimitrios Tsatsas, Stylepark
Ästhetische und nachhaltige Recycling-Verpackungen: „Croquillages“ and „Choco Tamago & Tamago“, Buchfoto © Dimitrios Tsatsas, Stylepark
Kritische Köche in der „Conflict Kitchen USA“, Buchfoto © Dimitrios Tsatsas, Stylepark
Wie schön Lebensmittel aussehen können zeigt das Kochbuch „Homemade Is Best“, Buchfoto © Dimitrios Tsatsas, Stylepark
Essbares Design: „Wallwafer* for Wallpaper*“, Buchfoto © Dimitrios Tsatsas, Stylepark
Biomaterial aus Mehl, landwirtschaftlichen Abfällen und natürlichem Kalkstein für das Projekt „Autarchy”, Buchfoto © Dimitrios Tsatsas, Stylepark
Essen als Erlebnis von Marije Vogelzang: „Sharing Dinner“, Buchfoto © Dimitrios Tsatsas, Stylepark
Organe in reinem Weiss: das Porzallangeschirr „Food on the table collection”, Buchfoto © Dimitrios Tsatsas, Stylepark
Im „Go Slow Café“ kommen Besucher in den Genuss von Langsamkeit, Buchfoto © Dimitrios Tsatsas, Stylepark