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Frei verbunden

Wie werden wir leben, wenn virtuelle und physische Realität untrennbar miteinander verbunden sind? Wenn wir über eine App alle Gegenstände in unserer Wohnung miteinander verbinden und ihnen als Interfaces neue Funktionen zuweisen können? Der Produktdesigner Valentin Heun widmet sich genau diesen Fragen. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter der „Fluid Interfaces Group“ am Media Lab des Massachusetts Institute of Technology (MIT) arbeitet er mit seinen Kollegen daran, die Möglichkeiten der digitalen Sphäre in die physische Lebenswelt zu übertragen. Heun ist der Erfinder des „Reality Editors“, einer App, die es ermöglicht, die Funktionalitäten von Alltagsgegenständen digital miteinander zu verknüpfen oder ihnen ganz andere Funktionen zuzuweisen. Mit Hilfe des „Reality Editors“ werden Möbel und Wohnungsaccessoires wie Lampen und Stühle zu Schaltern und Sensoren – genau so und nur genau so lange, wie der Nutzer es auch will. Mit Heun sprach Stefan Carsten über die Grenzen menschlicher Einflussnahme auf unsere immer „smarter“ werdenden Wohnumgebungen und wie unsere Zukunft aussehen wird, wenn wir den physischen Raum um uns herum so einfach steuern können, als wäre er Teil des Internets.


Stefan Carsten: Was hat Ihr „Reality Editor“ mit dem Smart Home der Zukunft zu tun?

Valentin Heun: Der „Reality Editor“ öffnet eine Tür zu einer Zukunft, in der wir unsere digitalen Errungenschaften nahtlos mit der physischen Realität verbinden können. Heute unterscheiden wir noch zwischen physischen Objekten einerseits und der Virtualisierung andererseits. Mittlerweile sind wir aber an einem Punkt in der technologischen Entwicklung angekommen, an dem es immer schwieriger wird, diese Grenze aufrechtzuerhalten. Ich bin davon überzeugt, dass sich diese Grenzziehung auch in unseren eigenen vier Wänden in den kommenden zehn bis zwanzig Jahren vollkommen auflösen wird.

Wie sieht Ihre Vision dann konkret aus?

Valentin Heun: Als eine Art digitaler Schraubenerzieher erlaubt der „Reality Editor“, dass der Mensch das Verhalten der Produkte und Geräte steuert und nicht umgekehrt. Im eigenen Haus oder in der eigenen Wohnung kann man dann den einzelnen Räumen und Objekten Verhaltensweisen zuschreiben. Das ist ziemlich genau das Gegenteil von dem, was gerade passiert, denn momentan fehlen uns noch User Interfaces, die eine umfangreiche und selbstbewusste Bedienung des Internets der Dinge erlauben. Daher werden im Augenblick mehr und mehr Geräte auf den Markt gebracht, die durch unser Verhalten lernen und dann automatisiert Entscheidungen für uns treffen. Meine Vision dagegen ist, dass die Nutzer selbst entscheiden können, wie sie Geräte nutzen und bedienen. Dieser flexible Umgang ist heute aber noch nicht möglich, weil uns schlichtweg die Technologie dafür fehlt.

Digitaler Schraubenzieher: Der Reality Editor verknüpft Objekte und gibt ihnen neue Eigenschaften. So werden beispielsweise Tische und Türen zu Lichtschaltern. Foto © MIT Fluid Interfaces Group

Muss ich in Zukunft Teil der digitalen Elite sein, um Ihren digitalen Schraubenzieher anzusetzen?

Valentin Heun: Nein, meine Vision geht auf die Grundprinzipien des World Wide Web zurück. Tim Berners-Lee hat ein Interface entwickelt, das so einfach ist, dass jeder miteinander in Verbindung treten kann. Außerdem ist es ein offener Standard, so dass jeder es nutzen kann. Noch heute können wir in unserem Webbrowser die Internetseiten der ersten Generation öffnen. Das ist aus Computerperspektive schon fast ein Wunder. Mit dem „Reality Editor“ verhält es sich ähnlich. Er erlaubt es, alle Funktionen eines Objektes in seine Teilkomponenten herunter zu brechen. Als solches können diese Funktionen dann als einfache Zahlen ausgedrückt werden. Einfache Zahlen sind der stabilste Standard, den wir zur Datenkommunikation erzeugen können. Das heißt auch in 50 oder 100 Jahren können noch Objekte erzeugt werden, die kompatibel sind mit Objekten, die es bereits seit 50 oder 100 Jahren gibt.

Wie sieht dann das Haus, die Wohnung von Morgen aus?

Valentin Heun: Ich sehe im Haus der Zukunft mehr Computer, als man sich heute vorstellen kann, andererseits aber auch deutlich weniger Computer, die für den Menschen sichtbar sind. Es wird wieder eine stärkere Interaktion mit der direkten Lebensumwelt stattfinden. Diese wird aber immer durch Computer unterstützt, welche neue Formen annehmen, die nichts mehr mit unseren heutigen Vorstellungen von einem Desktop Computer oder Smartphone zu tun haben. Sie werden unsichtbar und nahtlos in unseren Lampen, Schaltern, Fußböden, Türen und so weiter integriert sein, um die Funktionen dieser realen Dinge zu unterstützen oder zu verknüpfen. Nicht besonders optimal finde ich die gegenwärtige Entwicklung, überall Touchscreens einzubauen. Ein Touchscreen ist eigentlich ein sehr unzureichendes Interface für die alltäglichen Bedürfnisse der Interaktion. Ein Beispiel: In meiner Forschung habe ich drei Interaktions-Modi definiert, mit denen man sich Objekten nähert oder Dinge bedient. Das erste ist, dass man lernen will, um was für ein Objekt es sich eigentlich handelt. Das zweite ist, dass es an die eigenen Bedürfnisse angepasst wird. Und das dritte ist, dass man es einfach nur bedienen will. Für die ersten zwei Modi eignet sich ein digitales Umfeld besonders gut, zum Beispiel können Videos und interaktive Texte das Lernen unterstützen und Funktionen können sehr viel besser mit einem Bildschirm eingestellt oder zu einem späteren Zeitpunkt ergänzt werden. Aber wenn es um die Bedienung von Geräten geht, dann will man wirklich beim Toaster nur den Knopf drücken, mit dem Lichtschalter das Licht anmachen, das Radio lauter stellen oder im Auto den Zündschlüssel umdrehen. Für diese Dinge macht es einfach keinen Sinn, dass sie digital sind und über einen Touchscreen bedient werden.

Das heißt, die Räume in denen ich lebe, arbeite oder konsumiere werden weiterhin durch physische Objekte definiert werden, aber zusätzlich durch die digitalen Verbindungen zwischen diesen Objekten. Kann das mitunter nicht recht komplex sein?

Valentin Heun: Das ist eine wichtige und noch nicht gelöste Frage. Stellen Sie sich vor, jemand verändert während Ihrer Abwesenheit die digitalen Verbindungen, die Sie zwischen bestimmten Objekten definiert haben. Sie verlieren die Kontrolle über diesen Raum. Sie sind nicht mehr in der Lage, die Verbindungen zwischen den Geräten nachzuvollziehen. Dieses Problem gibt es übrigens auch bei allen Augmented Reality- und Internet der Dinge-Anwendungen. Unsere gebauten Umwelten sind statisch, tatsächlich sogar in Stein gemeißelt und entsprechen fast immer unseren kulturellen Vorstellungen von diesen Räumen. Wenn diese mit dynamischen, virtuellen Realitäten verwoben werden, können Probleme entstehen. Wir brauchen in der Kommunikation mit diesen Geräten also Feedbackschleifen, damit nicht der Mixer mit meinem Finger drin angeht, wenn jemand das Licht anmacht. Das wird ein wesentlicher Teil meiner weiteren Forschungsarbeiten ausmachen.

Der für jeden offene Programmiercode ermöglicht die Anpassung der App an unterschiedlichste Nutzer und Produkte. Foto © MIT Fluid Interfaces Group

Warum sollte ich das alles wollen? Wird unser Alltag dadurch angenehmer?

Valentin Heun: Die Komplexität der digitalen Umwelt wird reduziert. Es geht vor allem um Effizienzsteigerungen und Komfort. Dafür kann ich Abfolgen von Aktivitäten definieren. Fünfzehn Minuten bevor der Wecker klingelt, wird das Haus zum Leben erweckt und die Raumtemperatur erhöht. Wenn ich dann aufstehe, registriert das der Sensor im Bett. Das Duschwasser wird warmgestellt, die Espressomaschine erhöht den Druck, der Toaster geht an und im Winter wärmt das Auto vor. Solche Szenarien kann der Nutzer selbst definieren und festlegen. Und wenn etwas nicht so sein soll, kann der Nutzer die Verbindungen ganz einfach wieder trennen oder umdefinieren.

Das alles ist heute durch die Entwicklungen im Internet der Dinge doch in greifbare Nähe gerückt.

Valentin Heun: Naja, die gegenwärtigen Entwicklungen im sogenannten „Internet of Things“ haben mit dem Internet eigentlich nichts zu tun, sondern sind lediglich direkte Datenleitungen von Punkt A nach Punkt B, wobei Punkt B ein Unternehmen ist, von dem man zunehmend abhängig gemacht wird. Man sollte statt vom Internet der Dinge besser vom „Cloud Service of Things“ sprechen. Für die physische Welt ist dies eine sehr wichtige Differenzierung. Wenn mir zum Beispiel eine Seite wie Facebook nicht gefällt, dann besuche ich sie einfach nicht mehr. Aber wenn eine Heizung, ein Schließsystem oder eine Sprinkleranlage darüber abgebildet werden, müsste ich mein Haus umbauen falls mir der zu Grunde liegende Anbieter nicht mehr gefällt. Ich bin in hohem Maße abhängig von diesem Systemanbieter und muss unter Umständen sogar für zuvor kostenfreie Dienste zahlen oder andere Veränderungen ohne Mitspracherecht hinnehmen. Das ist eine für Konsumenten sehr unzureichende Zukunft, auf die wir uns zubewegen.

Was ist Ihre Antwort auf diese dystopische Entwicklung?

Valentin Heun: Die Grundlage des Reality Editors ist ein Open Source System, das „Open Hybrid“ heißt. Es ist mit Open Source-Lizenzen ausgestattet, so dass es auch immer Open Source bleiben wird. Alle Daten bauen auf den meist genutzten offenen Internetstandards auf und der Software Code ist leicht zu verändern und jederzeit einsehbar. Die Daten werden niemals an irgendeinen externen Service gesendet, sondern alle Daten zur Interaktion mit dem Objekt sind im Objekt selber gespeichert. Die Objekte treten direkt mit einem anderen Objekt in Kontakt, ohne einen Datentransfer, der um die halbe Welt geht. Wenn du Dinge kaufst, sind das deine privaten Dinge, du möchtest für dich eine Welt aufbauen, in der du lebst und du möchtest nicht fremdgesteuert sein. Das ist die Grundlage des Systems.

Das Smartphone vernetzt im Hintergrund, das zentrale Bedienelement bleibt aber der Knopf oder der Schalter, also das physische Objekt.
Foto © MIT Fluid Interfaces Group
Jede Vernetzung kann jederzeit spielerisch rückgängig gemacht oder verändert werden. Foto © MIT Fluid Interfaces Group

Bewerten Sie alle aktuellen Aktivitäten im Bereich Smart Home kritisch?

Valentin Heun: Nein, ich bin eigentlich ziemlich begeistert von den Dingen die wir bereits jetzt nutzen können. Mit meiner Kritik möchte ich jedoch dazu beitragen, bewusst unsere Zukunft so zu gestalten, dass wir genug Raum haben, unsere Ideen weiterhin zu verwirklichen. Solch einen Raum hat Tim Berners-Lee mit dem World Wide Web geöffnet, etwas Ähnliches brauchen wir für das Internet der Dinge. Ich würde mir wünschen, dass mehr Unternehmen solche grundsätzlichen Gedanken verfolgen. Ich war in den letzten zwei Jahren auf einigen Konferenzen zu diesem Thema in San Francisco. Es ist erstaunlich, wie viele Vorträge zu den Möglichkeiten geschlossener Plattformen und Systemen gehalten werden. Zugleich gibt es aber ausgesprochen wenige Ideen, was man mit diesen Plattformen machen kann, weil durch die Verschlossenheit sich niemand um die Dinge kümmert, die einem Kunden wirklich Nutzen bringen. Ich möchte, dass diese Systeme geöffnet werden und dass Werkzeuge entstehen, die es den Nutzern und den Designern von Produkten ermöglicht zu partizipieren. Der Reality Editor funktioniert im Moment nur in einem privaten Netz und nicht über das Internet. Offene Systeme für das Internet der Dinge, die nicht zentral organisiert werden, sind aber bereits in der Entwicklung. Sie werden uns helfen eine bessere digitale Zukunft der Dinge zu gestalten. Dann können die Funktionen des Reality Editors auch über das Internet of Things verbunden werden, ohne dass der Kunde seine Daten abgeben muss.

Und wie funktioniert das Geschäftsmodell?

Valentin Heun: Wenn man das vorherrschende Geschäftsmodell des Internet der Dinge für private Konsumenten betrachtet, wird versucht, ein Modell, das im Internet funktioniert, in die reale Welt zu transportieren. In der realen Welt gibt es aber Produkte, die entwickelt, produziert und verkauft werden. Dafür erhält das Unternehmen einen Wert. Im Internet erhält das Unternehmen Werte für das Schalten von Werbung oder für Daten, die verkauft werden. Ich glaube nicht daran, dass ein werbefinanziertes Modell das richtige ist. Ich finde es viel interessanter mit Firmen zusammenzuarbeiten, die reale Produkte und Güter erzeugen, um so neue Geschäftsmodelle für neue Märkte zu entwickeln. Dafür habe ich eine offene Plattform mit den dazugehörigen Tools entwickelt, um Produktdesigner in diesen Firmen zu befähigen, einen Mehrwert für ihre Produkte zu entwickeln. Dieser Mehrwert ergibt sich aus der Verbindung von physischen und virtuellen Welten. Ein Schalter ohne virtuelle Komponente kostet in diesem Beispiel sagen wir 10 Euro. Wenn der Schalter aber zum integralen Teil einer vernetzen Welt wird, so greift ein Netzwerkeffekt. Das heißt, dass die Summe aller Komponenten den Wert einer einzelnen Komponente unterstützt. Als solches kann der gleiche Schalter einen Wert von 50 Euro darstellen, mit einem echten, realen Mehrwert.

Video © Valentin Heun