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Spezial: Adaptive Fassaden
Glas, sonst nichts
im GesprÄch: Bart Akkerhuis
22.08.2013
The Shard (2013): Londons neues Wahrzeichen und derzeit das höchste Gebäude in Europa. Foto © RPBW

Bart Akkerhuis, Projektleiter bei Renzo Piano Building Workshop (RPBW) war maßgeblich an der Entwicklung der Gebäudehülle von „The Shard” beteiligt. Wie aber entstehen Innovationsprozesse zwischen Bauherr, Architekt und Industrie, und wie verändert sich dadurch die Entwurfsidee? Julius Streifeneder sprach mit Bart Akkerhuis über die Entstehung neuartiger Fassaden.

Julius Streifeneder: Lassen Sie uns einen Blick in die Vergangenheit werfen, bevor wir zur Gegenwart kommen: Können Sie kurz berichten, wie sich „Renzo Piano Building Workshop“ (RPBW) über die Jahre im Bereich Glasfassaden weiterentwickelt hat?

Akkerhuis: Jede Fassade, die wir gestalten, ist meines Erachtens die Weiterführung eines Entwurfs, den wir in der Vergangenheit umgesetzt haben. Bereits vor 30, 40 Jahren haben wir uns mit Themen wie Transparenz und Nachhaltigkeit beschäftigt. Von Beginn an war unser Büro an der Entwicklung zweischaliger Außenhüllen beteiligt, wir haben stets einen besonderen Schwerpunkt auf diese Themen gesetzt. Innovation in der Architektur ist größtenteils ein Entwicklungsprozess. Manche Aspekte, die wir bereits in Berlin für die Gestaltung des Bürogebäudes am Potsdamer Platz entwickelt haben, gelten noch immer als anerkannte Baulösungen. „The Shard“ ist eine Weiterentwicklung des Berlin-Projekts, wir haben den Zwischenraum jedoch kleiner gestaltet, um die Nutzfläche zu vergrößern. Meines Erachtens haben wir das Konzept der zweischaligen Außenhülle nun fast perfektioniert. Jetzt beschäftigen wir uns mit neuen Systemen, wie beispielsweise der Closed-Cavity-Fassade für unser Projekt „Yongsan“ in Seoul. Die Closed-Cavity-Fassade funktioniert wie eine zweite Gebäudehaut und wird der nächste Entwicklungsschritt sein.

Können Sie die bahnbrechenden technischen Impulse beschreiben, die die Entwicklung der Glasfassade begleitet haben?

Akkerhuis: Unser Ziel ist die stetige Optimierung der Fassadensysteme – die Gestaltung einer sehr dünnen, schlanken und transparenten Fassade. Daneben gibt es noch andere Aspekte, wie zum Beispiel die Wartung des Zwischenraums. Heutige Fassaden haben zum Teil bereits einen wartungsfreien Zwischenraum. Das ist der nächste Schritt. Danach kommt die Closed-Cavity-Cell, wiederum eine kleine Revolution. Die verschiedenen Möglichkeiten der Glasbeschichtung sorgten für weitere zukunftsweisende Innovationen in der Baubranche. Mit der Herstellung unter anderem von großformatigen gewölbten Glasflächen ist der Industrie ein weiterer technischer Durchbruch gelungen.

Wie eine „Scherbe“ (engl. „shard“) ragt das Gebäude aus Londons Mitte gen Himmel empor, so ist die Gebäudehülle konsequenterweise komplett aus Glas. Foto © RPBW
Hat der Einsatz von Simulationssoftware die Grenzen der Fassadengestaltung Ihrer Meinung nach noch weiter verschoben?

Akkerhuis: Aus meiner Erfahrung heraus würde ich sagen, dass derartige Software zwar durchaus hilfreich im Gestaltungsprozess sein kann, jedoch können wir damit nicht die endgültige Leistungsfähigkeit der Fassade voraussagen. Aus diesem Grund beruht unsere Gestaltungsentwicklung auf Daten, die wir von bestehenden Fassaden und aus unserer Erfahrung zusammentragen. Das ist unsere Vorgangsweise. Bei RPBW analysieren wir daher unsere „alten“ Fassaden und optimieren die Elemente entsprechend: So verbessern wir unsere Fachkenntnisse. Bereits vor 30 Jahren haben wir bei der Gestaltung des Menil-Collection-Museums einfache und elementare Software zur Durchführung von Besonnungsstudien und Berechnung der nötigen Beschattung verwendet.

Mit anderen Worten, Sie vertreten den Standpunkt, dass die treibende Kraft hinter Innovation die Erfahrung ist, die Sie in vergangenen Bauprojekten gesammelt haben?

Akkerhuis: Genau. Häufig entsteht Innovation nicht aus einer neuen Technologie heraus. Ich möchte dazu ein Beispiel nennen. Die Gestaltung des „Hermès“-Gebäudes in Japan erfolgte in sehr enger Zusammenarbeit mit den Handwerkern, denn nur so konnten wir die optimalen Materialeigenschaften der Glasbausteine bestimmen. Die Handwerker verfügten über ein reichhaltiges Wissen, ein hohes Maß an Erfahrung, sodass wir die Glasbausteine, die wir für die Fassade benötigten, gemeinsam entwickelt haben. Schließlich wussten sie am besten, wie wir die Eigenschaften des Materials noch steigern konnten.
Maison Hermès (2006), Tokio: Die Vorhangfassade besteht aus handgefertigten, eisenoxidarmen Glasbausteinen. Foto © Hermès, Michel Denancé
Reden wir über Ihr jüngstes Projekt, „The Shard“ in London, das auch unter dem Namen „London Bridge Tower“ bekannt ist. Was waren die technischen Herausforderungen und Erwartungen zu Beginn des Projekts?

Akkerhuis: Die eigentliche Herausforderung bestand in der Gestaltung eines Gebäudes aus Glas. Das Thema „Scherbe“ war von Anfang an gegeben. Das Gebäude hat eine bestimmte Form und besteht ausschließlich aus Glas. Wenn die Form am Ende nicht stimmt, ist das sehr bedauerlich; Fehler in der Glasfassade sind jedoch fatal. Natürlich hat uns der Aspekt der Nachhaltigkeit vor immense technische Herausforderungen gestellt. Ich denke, wir haben ordentliche Arbeit geleistet, denn die Fassade funktioniert sehr gut. Selbst wenn der Himmel bewölkt ist, haben wir noch genug Tageslicht, um mit weniger künstlichem Licht auszukommen. Bei Sonnenschein lassen wir die Blenden herunter und erreichen so einen guten Sonnenschutz. Die Technik funktioniert perfekt für beide Wetterextreme, was bei einem Gebäude dieser Größenordnung keine Selbstverständlichkeit ist. Aber wir haben es geschafft. Die „wirkliche“ Herausforderung ging jedoch von der Architektur aus: „Wie gelingt es uns, dass Glasscherben auch wirklich wie Glasscherben aussehen?“ Das musste einfach passen und wir haben uns sehr lange mit dem Thema beschäftigt. Insgesamt hat es drei Jahre gedauert, bis wir das Glas soweit hatten, dass wir zufrieden waren.
Leuchtturm-Effekt, mal anders: Der Turm ändert durch die Reflexion des Himmelbildes ständig seine Farbe. Foto © RPBW
Die Entwicklung der passenden Reflexionsbeschichtung war also eine der Hauptaufgaben im Gestaltungsprozess?

Akkerhuis: Bei uns im Büro mögen wir Transparenz. Unsere Gebäude sollen so viel Licht wie nur irgend möglich hineinlassen. Bei der Gestaltung einer „Glasscherbe“ ist der primäre Gedanke somit auch: „Wir benötigen außerordentlich klares Glas, das so hell wie möglich ist.“ Auf den ersten Renderings sah das Gebäude allerdings sehr dunkel aus, also mussten wir mehr Glanz in den Entwurf bringen. Die Außenhaut sollte den Himmel reflektieren. Das Gebäude sollte die Wirkung eines Kristalls haben. So entstand das Konzept für die Reflexionsschicht. Nicht zur Regelung der Sonneneinstrahlung, sondern aus Gründen der Architektur und Ästhetik, um das richtige Maß an Reflexion zu erreichen. Das war uns zu Beginn der Gestaltungsphase noch überhaupt nicht klar. In der Vergangenheit hat unser Büro nur dann Sonnenschutzbeschichtung verwendet, wenn es unbedingt nötig war. Abgesehen davon haben wir stets nach alternativen Lösungen gesucht. In diesem Fall war die Sonnenschutzbeschichtung fast als architektonisches Ornament zu verstehen. Diese Strategie hat sich letztendlich ausgezahlt. Die Suche nach der optimalen Sonnenschutzbeschichtung war nicht einfach. Wir brauchten eine Hülle, die sowohl reflektierend als auch transparent war, auf gar keinen Fall wollten wir einen Spiegeleffekt. Das Gebäude sollte offen und einladend wirken, nicht arrogant. Die Reflexion sollte überdies so natürlich wie möglich sein. Wenn man „The Shard“ heute betrachtet, stellt man fest, dass die Farbe des Himmels sich ganz genau und ohne Verzerrung im Glas wiederspiegelt. Man sieht, wie sich das Gebäude an die jeweilige Stimmung des Lichts und den Himmel anpasst. Wir haben zwei oder drei Jahre gebraucht, bis wir die richtige Sonnenschutzbeschichtung gefunden hatten und zusammen mit dem Fassadenhersteller sichergehen konnten, dass die Glasoberfläche absolut glatt und eben war. Zunächst haben wir uns andere Gebäude angesehen und Muster von Produkten bestellt, die bereits auf dem Markt waren. Später haben wir die Experten der Branche hinzugezogen und sie gefragt, wie die Reflexion in der Beschichtung zu bewerkstelligen ist. Welche Metalle eignen sich für welche Art von Reflexion?
Drei Jahre dauerte es, um die Glas-Beschichtung zu entwickeln. Foto © Bart Akkerhuis, RPBW
Wie würden Sie die Beziehung zwischen architektonischem Ausdruck und technischem Fortschritt beschreiben? Gibt der architektonische Ausdruck stets die technische Innovation vor? Inwieweit ist ihr Gestaltungsprozess abhängig von technischen Neuheiten oder neuen Materialien?

Akkerhuis:Wir machen keine Gestaltung nur um der Gestaltung willen, weil die Möglichkeit dazu besteht. Vielmehr geschieht dieser Prozess aus dem Gefühl heraus, dass diese Entwicklung Sinn macht. In den letzten 40 Jahren hatte die Nachhaltigkeit immer einen hohen Stellenwert in unserem Büro. Bei der Gestaltung eines kompromisslosen Glashochhauses wie „The Shard“ war uns deswegen sehr bewusst, dass wir uns eine Menge Kritik einhandeln würden, wenn die Technik nicht überzeugt. Im Gegenzug funktioniert es jedoch nicht: Man kann nicht eine Fassade mit dem höchsten technologischen Anspruch in der Branche entwerfen und sich erst im zweiten Schritt Gedanken zur architektonischen Gestaltung machen. Etwas zu machen, nur weil es technisch möglich ist, jedoch keine Grundlage in der Funktion hat, ist nicht überzeugend.
Das erinnert mich ein wenig an den IBM Pavillon, den Piano in den 1980er Jahren gebaut hat: ein Tonnengewölbe mit einem Holzrahmen, dessen Innenraum mit Polycarbonat-Platten ausgekleidet war. In jeder Hinsicht ein außerordentlich experimentelles Gebäude, wenn ich mich recht erinnere. Ja, sehr experimentell. Renzo hatte sich bereits in den 1960er Jahren mit dieser Methode befasst, sie letztendlich aber erst in den 1980er Jahren durchgeführt. Das Tolle daran war, dass das Polycarbonat der Gebäudestruktur Stabilität verlieh. Die Verwendung von Polycarbonat entstand ebenfalls aus dem Wunsch nach einem transparenten Gebäude, das im Dialog mit seiner Umgebung steht. Als Pavillon musste die Struktur leicht sein und sich einfach abbauen lassen, damit man sie an anderer Stelle wieder aufstellen konnte. In diesem Sinne ist die technische Innovation aus diesen Grundbedürfnissen entstanden und nicht aus der Tatsache, dass wir in der Lage sind, derartige Gebäude zu bauen.
Der experimentelle Charakter des IBM Pavillons (1983) entstand aus den funktionalen Anforderungen an die temporäre Konstruktion. Foto © IBM
Der modulare IBM Pavillon wurde in verschiedenen Städten in ganz Europa vor den Kulissen berühmter architektonischer Standorte positioniert. Foto © IBM
Was bedeutet das für den Gestaltungsprozess und die Zusammenarbeit mit den Herstellern? Welche Erwartungen haben Sie an die Hersteller?

Akkerhuis: Bei unserer Recherche für die Fassade von „The Shard“ stießen wir auf eine Fassade in Berlin, die einige der Aspekte enthielt, die uns wichtig waren. Also sind wir mit unserem Wunschzettel zu den Branchenvertretern gegangen: „Diese Beschichtung hätten wir gern in leicht abgeänderter Form – ein bisschen neutraler, weniger spiegelnd und auf weißem Glas. Ist das möglich?“ Manche haben unsere Anfrage bejaht und uns Beispiele aus ihren Katalogen zukommen lassen, die unseren Vorstellungen recht nahe kamen. Es hab jedoch nur einen Hersteller, der bereit war, mit uns zusammen zu arbeiten und uns genau das zu liefern, was wir uns vorstellten. Wir haben die Beschichtung gemeinsam entwickelt. Der Hersteller war bereit, sich dem Projekt zu widmen, weil er sich gedacht hat: „Wenn dieses Gebäude jemals gebaut wird, dann ist das eine großartige Gelegenheit für uns.“ Derzeit ist diese Beschichtung eine der am meist verwendeten Beschichtungen für architektonisches Glas in Europa.

Welche Rolle spielt der Bauherr in diesem Innovationsprozess?

Akkerhuis: Ein guter Bauherr zeichnet sich durch die Bereitschaft zum gegenseitigen Gespräch aus. Renzo sagt immer: „Die besten Bauherren sind solche, die bereit sind, Pingpong mit uns zu spielen.“ Mit solchen Bauherren pflegen wir einen intensiven Dialog und erhalten eine Menge Rückmeldung. Der Bauherr des Projekts „The Shard“ hat uns außerordentlich unterstützt und uns ein großes Maß an Freiheiten gewährt. Mit den Planungsbehörden hatten wir ebenfalls Glück. Für den Bauantrag haben wir uns auf die Reflexion, Transparenz und Helligkeit des Glases konzentriert und der Bauherr sowie auch das Southwark County Council zeigten sich davon sehr angetan. Obwohl uns zu dem Zeitpunkt noch nicht ganz klar war, wie wir unsere Vorstellungen bewerkstelligen würden, wussten wir, dass wir das Projekt in Angriff nehmen mussten! Der Gedanke eines Gebäudes aus getöntem Glas mit einer dunkleren Beschichtung war unvorstellbar. Es hab keinen Weg zurück. Der Bauherr und die Öffentlichkeit hatten diese Erwartungen an uns. In diesem Sinne standen wir auf sehr sicheren Füßen und konnten die bestehenden Grenzen erweitern. So funktioniert technische Innovationen innerhalb eines Architekturprojekts.
Bart Akkerhuis, Projektleiter des Shard. Der Detailschnitt (rechts daneben) zeigt die schrägen, zweischaligen Fassadenelemente. Foto © RPBW