top
In den Dünen von Fire Island
von Uwe Bresan | 08.08.2016
Das Crawford House von 1969 verdankt sich einem eher freizügigen Lebensstil oft homosexueller Bauherren, die ihre Strandvillen oder Bungalows an der Küste von Fire Island vor New York in der Art des Mid-Century-Modernism errichten ließen. Foto © Horace Gifford + Yale Wagner

Fire Island, keine zwei Autostunden vom Stadtzentrum entfernt, ist ein beliebtes Ausflugsziel der New Yorker. Die knapp 50 Kilometer lange und an vielen Stellen nur wenige hundert Meter breite Insel liegt vor der Südküste von Long Island und trennt die Great South Bay vom Atlantik. Zum offenen Meer hin zieht sich ein breiter Sandstrand die gesamte Insel entlang. Er verbindet die Gemeinden, die sich wie an einer Perlenkette aufgereiht über Fire Island verteilen. Eine Inselstraße gibt es nicht. Überhaupt ist nur ein kleiner Teil im Westen des fast vollständig unter Naturschutz stehenden Eilands über eine Brücke mit dem Festland verbunden. Fährschiffe, die durch die Great South Bay kreuzen, bilden das Haupttransportmittel nach Fire Island.

Seit Ende des 19. Jahrhunderts dient die Insel den New Yorkern als Sommerdomizil. Anders als die Hamptons am östlichen Ende von Long Island, wohin sich noch heute der mondäne New Yorker Geldadel in den Sommermonaten auf seine stattlichen Anwesen und Schloss-artigen Herrenhäuser zurückzieht, entwickelte sich Fire Island zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum Naherholungsgebiet der Mittelschicht sowie der Kreativen und Intellektuellen. Die relative Abgeschiedenheit der Insel und ihr fast endlos erscheinender, weißer Sandstrand, in dessen bewaldete Dünen man sich zurückziehen konnte, machten Fire Island in den 1930er-Jahren zudem zu einem Mekka der New Yorker Schwulen, die hier ihre Sexualität mehr oder weniger frei von den alltäglichen, gesellschaftlichen Nachstellungen ausleben konnten, denen sie in der Stadt ausgeliefert waren.

Das Crawford House von 1969 verdankt sich einem eher freizügigen Lebensstil oft homosexueller Bauherren, die ihre Strandvillen oder Bungalows an der Küste von Fire Island vor New York in der Art des Mid-Century-Modernism errichten ließen. Foto © Horace Gifford + Yale Wagner

Boys in the Sand

Noch heute bilden die zwei benachbarten Siedlungen „The Pines“ und „Cherry Grove“ in den Sommermonaten einen Lebensmittelpunkt vieler New Yorker Schwuler. Auf Youtube gibt es einen von treibenden Beats unterlegten Videoclip, der die Anreise mit den öffentlichen Verkehrsmitteln erklärt. Der Film verfolgt drei attraktive junge Männer, die gemeinsam in einem Bett aufwachen, auf ihrem Weg von der Stadt an den Strand und erläutert die einzelnen Stationen der Reise vom Pendlerzug über den Shuttlebus bis zur Fähre. Kaum ein Gebäude in The Pines und Cherry Grove ist älter als sechzig Jahre. Nachdem 1938 ein schwerer Sturm die Insel verwüstet hatte, dauerte es bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, bevor die Feriengäste in großer Zahl zurückkehrten und die Hotels renoviert wurden. Den größten Bauboom ihrer Geschichte erlebten die beiden Orte jedoch in den 1950er- und 1960er-Jahren. Die amerikanische Wirtschaft florierte und ermöglichte breiten Bevölkerungsschichten einen nie gekannten Wohlstand. Immer mehr New Yorker konnten es sich nun leisten, dem schwülen und drückenden Klima der Stadt zu entfliehen, um die heißen Sommermonate – oder zumindest die Wochenenden – in eigenen Strandhäusern auf Fire Island zu verbringen.

Wie schon vor dem Krieg, nahmen The Pines und Cherry Grove aufgrund ihres überwiegend schwulen Publikums dabei eine Sonderstellung ein. Vor allem im von Denunziationen geprägten Klima der McCarthy-Ära bildete das Dünenfeld, das die beide Orte noch heute voneinander trennt, eine Art gesellschaftlichen Freiraum, in dem ein offen schwules Leben zumindest vorübergehend möglich war. Der freiheitliche Ruf von The Pines und Cherry Grove verbreitete sich damals über ganz Nordamerika. 1971 drehte der Broadway-Choreograph Wakefield Poole hier den legendären Schwulenporno „Boys in the Sand“, der zu den Klassikern des Genres zählt. Mit seinen gefühlvollen Aufnahmen zeichnete der Filmenthusiast und Autodidakt ein realistisches Bild des schwulen Lebens auf Fire Island jenseits aller gesellschaftlichen Klischees homoerotischer Sexualität. Weil den Film auch seriöse Zeitungen ausgiebig in ihren Feuilletons besprachen, löste er eine nationale Debatte über Homosexualität aus, die wesentlich zu einer Liberalisierung der gesamten Gesellschaft beitrug.

Im Rosenthal House von 1972 lässt es sich gut verweilen: Die etwas tiefer gelegene Sofalandschaft samt offenem Kamin bildet ein ebenso exklusives wie schlichtes Ambiente.
Foto © Tom Sibley

Mid-Century-Modernism

Neben Wakefield Poole darf auch Tom Bianchi als Chronist des schwulen Insellebens gelten. Der bekannte New Yorker Fotograf verbrachte in den 1970er-Jahren viele Sommer auf Fire Island und hielt das Leben am Strand und in den Dünen mit seiner Polaroid SX-70 fest. Die typischen, etwas blassen Aufnahmen der legendären Klappkamera zeigen aber nicht nur muskulöse und sonnengebräunte Männerkörper in knappen Badehosen, sie erlauben ganz nebenbei auch einen Einblick in die spezifische Architektur von The Pines und Cherry Grove. Kleine Bungalows, die sich über riesige Glasflächen nach außen öffnen und deren Terrassen den Innenraum in die Natur erweitern; Häuser auf massiven Stützen, die sich turmartig über die Landschaft erheben, um ein Maximum an Ausblick zu erzielen; und große Villen, deren sanft gerundete Anbauten den Außenraum einzufangen und ins Haus zu holen scheinen. Mit Zedernholz verkleidet und spektakulär in die wilde Dünenlandschaft hinein komponiert, sind sie Zeugen für das außergewöhnliche Talent von Horace Gifford, der wie kein anderer die Architektur der beiden Orte prägte. Zwischen 1960 und 1980 – in nicht einmal 20 Jahren – realisierte der Architekt in den beiden Gemeinden mehr als 60 Sommerhäuser und schuf damit ein einmaliges, bis heute weitgehend erhaltenes Ensemble des späten Mid-Century-Modernism.

Best Looking Boy

Zugleich dürfte Gifford zu den schillerndsten Architektenpersönlichkeiten der damaligen Zeit gehören. Überliefert ist, dass er seine Bauherren gern – nur mit einer Badehose bekleidet – am Strand empfing. Dass er sich diese Auftritte augenscheinlich leisten konnte, zeigt schon ein Blick in das Jahrbuch seiner Highschool, wo Gifford als „Best Looking Boy“ seines Jahrgangs gefeiert wird. Zudem arbeitete er nach dem Studium zeitweilig als Model. Man darf also annehmen, dass seine Strandauftritte gerade im Hinblick auf die spezielle Klientel einen nicht unerheblichen Anteil am Erfolg Giffords hatten. Und der Architekt zeigte sich gegenüber den Avancen seiner Bauherrn durchaus aufgeschlossen. So verband Gifford mit seinen ersten New Yorker Auftraggebern, dem Set Designer Edwin Wittstein und dessen Lebensgefährten, dem Art Director Robert Miller, eine mehrjährige Ménage-à-trois. Das Paar hatte für den Bau seines gemeinsamen Wochenendhauses zunächst Andrew Geller beauftragt, der damals mit einer Reihe experimenteller Strandhäuser auf Long Island für viel Aufsehen sorgte. Nachdem sich Wittstein auf eine Affäre mit Gifford eingelassen hatte, wurde der Vertrag mit Geller gekündigt und Gifford mit dem Bau beauftragt. So begann mit nicht einmal 30 Jahren die steile Karriere des 1932 in Florida geborenen Architekten.

Im Rosenthal House von 1972 lässt es sich gut verweilen: Die etwas tiefer gelegene Sofalandschaft samt offenem Kamin bildet ein ebenso exklusives wie schlichtes Ambiente.
Foto © Tom Sibley

Moralische Hürden

Gifford hatte seine Ausbildung zunächst an der University of Florida begonnen, wo er unter anderem bei Paul Rudolph studierte, dessen legendäre Florida Houses an den Stränden von Sarasota einen nachhaltigen Eindruck auf ihn machten. Als seinen eigentlichen Mentor betrachtete Gifford jedoch Louis Kahn, dem er 1958 zu einem Master-Kurs an die University of Pennsylvania folgte. Nach dem Ende seines Studium zog es den jungen Architekten nach New York, wo er im Büro von J. Gordon Carr, einem damals gefragten Innenarchitekten, Arbeit fand. Aufgewachsen an den sonnigen Stränden von Florida und sexuellen Abenteuern nicht abgeneigt, entdeckte Gifford schon bald nach seiner Ankunft in New York die Dünen von The Pines und Cherry Grove für sich und verbrachte einen Großteil der Sommermonate auf Fire Island. Tatsächlich fühlte er sich nur am Strand lebendig. In der Stadt und vor allem in den Wintermonaten überfiel ihn oft eine tiefe Schwermut. „I’m gay, and I’m manic-depressive“, charakterisierte sich Gifford – nur halb im Scherz – gern selbst. Sein erotisch-eskapistisches Strandleben wurde Gifford zum Verhängnis, als er 1965 in den Dünen auf Fire Island bei einer Razzia der Polizei festgenommen und wegen „Verstoßes gegen die guten Sitten“ verurteilt wurde. Gifford beantragte deshalb niemals seine offizielle Zulassung als Architekt, um ein eigenes Büro zu eröffnen, da er fürchten musste, sein Antrag würde unter Verweis auf den fehlenden „good moral character“ des Antragstellers abgewiesen werden – eine Regelung, die noch heute im Einwanderungsrecht der Vereinigten Staaten gebräuchlich ist. So war Gifford im Umgang mit Baubehörden zeitlebens auf die Unterstützung befreundeter Architekten angewiesen. Eine Beteiligung an öffentlichen Ausschreibungen war nahezu aussichtslos.

“Everything about the Pines was new, the very idea of a place where you could play on the beach and hold hands with a guy and be with like-minded people and dance all night with a man”, sagt Tom Bianchi der Fotograf der Buches „Fire Island Pines“ zum ausgelassenen Leben der 1960er bis -80er Jahre an der Küste vor New York. Foto © Tom Bianchi

Sehen und gesehen werden

Umso mehr, so scheint es, konzentrierte sich Gifford auf private Aufträge, die von Jahr zu Jahr zunahmen und es dem Architekten erlaubten, mit einem reichen gestalterischen Repertoire zu experimentieren. In den Boden eingelassene Sitzgruppen, die sich bei Bedarf in große Liegelandschaften vor dem offenen Kamin verwandeln ließen, waren nur eine von Giffords Spezialitäten. Ein anderes Thema waren verspiegelte Wand- und Deckenflächen, die nicht nur dazu dienten, Räume optisch zu erweitern, sondern auch ein voyeuristisches Spiel in Gang setzen konnten, wenn sie gebrochene, kaleidoskopische Einblicke in vermeintlich abgeschlossene Bäder und Schlafzimmer ermöglichten. Irgendwann begann Gifford sogar damit, die Wandspiegel in den Bädern seiner Bauherren gegen Fenster mit getönten Scheiben einzutauschen, um die Erotik des Sehens und Gesehenwerdens zu erweitern. Auch die obligatorischen Außenduschen auf den weitläufigen Terrassen, unter denen man sich nach dem Strandaufenthalt sauber machte, gestaltete der Architekt immer ein wenig offener und einsehbarer als notwendig. Christopher Rawlins, der eine wunderbare Monographie über Gifford verfasst hat, beschreibt dessen Arbeiten deshalb vielleicht nicht zu unrecht als eine „Architektur der Verführung“.

Epilog: Aids

Auf die Frage, weshalb Gifford trotz seines beachtlichen und vielfach publizierten Œuvres nach seinem frühen Tod 1992 fast vollkommen in Vergessenheit geraten konnte, hat Rawlins eine einfache Antwort: AIDS. Der Immunschwächekrankheit fiel in den späten 1980er- und frühen 1990er-Jahren eine ganze Generation homosexueller Männer zum Opfer, weshalb die Krankheit zunächst panisch als „Schwulenseuche“ gebrandmarkt wurde. Gifford war ebenso betroffen wie ein Großteil seines Bekanntenkreises aus Auftraggebern, Bauherrn und Freunden. Es blieb kaum jemand übrig, der für Giffords Nachruhm hätte sorgen können. Dass wenigstens sein Nachlass gerettet wurde, verdanken wir Robert Greenfield, Giffords langjährigem Lebensgefährten, der den Architekten zwar nur um wenige Monate überlebte, seine Erben jedoch im Testament verpflichtete, Giffords Archiv zu erhalten. Mit dem Ausbruch von AIDS ging auch auf Fire Island eine Epoche zu Ende. Das unbeschwerte Leben in den Dünen von The Pines und Cherry Grove, wie Gifford es verkörperte, war dahin.

Literatur:

Alastair Gordon: Weekend Utopia. Modern Living in the Hamptons, Princeton Architectural Press, 2001
Mission Possible: How To Get To Fire Island Pines
Tom Bianchi: Fire Island Pines: Polaroids 1975-1983, Damiani, 2013
Alastair Gordon: Andrew Geller. Beach Houses, Princeton Architectural Press, 2003
Christopher Domin & Joseph King: Paul Rudolph. The Florida Houses, Princeton Architectural Press, 2005
Christopher Rawlins: Fire Island Modernist. Horace Gifford and the Architecture of Seduction, Metropolis Books, 2013

Katalog
Fire Island Modernist. Horace Gifford and the Architecture of Seduction
hrsg. von Christopher Bascom Rawlins
202 S., geb. englisch, 150 farb. Abb.
Metropolis Books, New York 2013
ISBN 978 1 938922 09 1
50 Euro

“Everything about the Pines was new, the very idea of a place where you could play on the beach and hold hands with a guy and be with like-minded people and dance all night with a man”, sagt Tom Bianchi der Fotograf der Buches „Fire Island Pines“ zum ausgelassenen Leben der 1960er bis -80er Jahre an der Küste vor New York. Foto © Tom Bianchi
Horace Gifford (1932 bis 1992), aufgenommen 1963 von seinem ersten Bauherrn und zeitweiligen Geliebten Edwin Wittstein. Foto © Edwin Wittstein
Horace Gifford (1932 bis 1992), aufgenommen 1963 von seinem ersten Bauherrn und zeitweiligen Geliebten Edwin Wittstein. Foto © Edwin Wittstein
Beim Kauth House von 1964 schaffen die riesigen Glasflächen ermöglichen ein Maximum an Offenheit und erweitern den Innenraum in die Natur. Foto © Michael Weber