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Knoten: Rietveld und die Revolution des Raums – Teil 1
von Thomas Wagner | 18.06.2012
1 Gerrit Rietveld und seine Mitarbeiter vor der Werkstatt in Utrecht, 1918, © VG Bild-Kunst, Bonn 2012, Foto © Collection Rietveld Schröder Archive, Utrecht

I. Die Gesellschaft neu gestalten.

Es gibt mehr als nur eine Moderne und mehr als nur eine Art des Bruchs mit dem Dagewesenen. Als sich 1918 die Gruppe De Stijl formiert, hat der Erste Weltkrieg die alteuropäische Ordnung hinweggefegt. Die Künstler, Schriftsteller und Architekten, die Theo van Doesburg um sich schart, versprechen nicht weniger als eine „neue Gestaltung“ der Gesellschaft. Es geht ums Ganze. Von 1919 an ist auch der Designer und Architekt Gerrit Rietveld mit von der Partie. Bei De Stijl findet er Gleichgesinnte, die, wie er, kompromisslos für das Neue eintreten. Die Ausstellung „Gerrit Rietveld. Die Revolution des Raums“ im Vitra Design Museum breitet Rietvelds Schaffen aus und verortet ihn durch Arbeiten von Zeitgenossen wie Theo van Doesburg, Bart van der Leck, Le Corbusier und Marcel Breuer innerhalb der Moderne. In enger Kooperation mit dem Centraal Museum in Utrecht und auf Basis der 2010 dort gezeigten Retrospektive wurden mehr als dreihundert Arbeiten zusammengetragen – vor allem jede Menge Möbel, aber auch Architekturmodelle, Gemälde, Fotografien und rund hundert Originalzeichnungen und -pläne. Auch weniger bekannte Aspekte seines Schaffens werden vorgestellt, etwa die Inspirationsquellen seines Frühwerks oder seine Bauten der Nachkriegszeit.

II. Vom Handwerker zum Designer.

Raum, Konstruktion und industrielle Produktion hängen für Rietveld eng miteinander zusammen. So notiert er 1930: „Auch der Stuhl befreit sich allmählich von seiner komplizierten Vergangenheit, denn maschinelle Produktionsmethoden führen dazu, dass neue Materialien und Konstruktionen wichtiger werden als die Unterschiede in der Form.“ Bereits 1919 entwirft Rietveld einen Stuhl aus einem neuen Geist, der sich als Schlüssel zum Verständnis seines gesamten Werks erweist. Dieser „Lattenlehnstuhl“ entspringt gerade nicht der Vorstellung, wie ein Lehnstuhl gemäß gültiger Konventionen auszusehen habe. Im Gegenteil. Er verdankt sich einer einfach zu produzierenden Konstruktion, aus der sich seine Form ergibt. Der Stuhl besteht nur aus Latten und Brettern. Diese sind aber derart raffiniert-einfach miteinander verbunden, dass daraus ein komplexes Ganzes entsteht. Vollzieht man anhand eines animierten Films in der Ausstellung nach, wie der Stuhl zusammengesetzt wird, so begreift man, dass sein Gestell keineswegs nur funktionale Aufgaben zu übernehmen hat, sondern einen visuellen Knoten im Raum bildet. Rietveld bricht radikal mit Konventionen. Wo Vorgänger wie Charles Rennie Mackintosh ihre Stühle wie ein Ornament in die gesamte Inneneinrichtung zu integrieren suchten, setzt Rietveld auf eine Konstruktion, die es ihm ermöglicht, die geschlossene Form des Möbelstücks aufzubrechen und eine räumliche Struktur zu schaffen.

III. Der Rot-Blaue Stuhl.

Rietveld selbst beschrieb seinen „Lattenlehnstuhl“, die erste Version des „Rot-Blauen Stuhls“, 1919 folgendermaßen: „Dieser Stuhl ist der Versuch, jeden Bestandteil für sich sprechen zu lassen, und zwar in seiner elementarsten Form, entsprechend der Funktion und des Materials, in einer Formensprache, die am besten dazu geeignet ist, durch ihre Proportionen ein harmonisches Ganzes zu bilden. Die Konstruktion hilft dabei, die Teile zusammenzufügen, ohne sie zu verstümmeln, ohne dass das eine das andere dominiert, sodass schließlich das Ganze klar und frei im Raum steht und das Material die Form betont. Diese Holzkonstruktion ermöglicht es, einen großen Stuhl aus 2,5 mal 2,6 Zentimeter starken Leisten herzustellen.“ Die einzelnen Elemente werden also zu Komponenten, die sich sichtbar voneinander unterscheiden und zu einer räumlichen Komposition vereint sind. Sitz und Rückenlehne erscheinen dabei vom Rahmen getrennt, über den sie hinausragen.

IV. Raum erschließen.

Eines will Rietveld mit Bestimmtheit nicht: abgeschlossene Räume schaffen. Der Raum soll sich durch die Konstruktion hindurch fortsetzen. Nicht der Stuhl soll wahrgenommen werden, vielmehr soll durch ihn Raum wahrnehmbar werden. Als Van Doesburg Rietvelds „Lattenlehnstuhl“ in der Zeitschrift De Stijl veröffentlicht, gerät er ins Schwärmen. Er vergleicht den Lehnstuhl mit einem Gemälde Giorgio de Chiricos und beschreibt ihn als „ein schlankes, räumliches Geschöpf“ und als eine „unbeabsichtigte, doch radikale Wiedergabe offener Räume“.

V. Raum und Farbe.

Möbel aus preiswerten Materialien wurden damals oft lackiert, um das Holz zu schützen und ihren optischen Reiz zu erhöhen. Das macht auch Rietveld. Vor allem aber will er durch den Einsatz von Farbe eine klare dreidimensionale Form schaffen. In der rot-blauen Variante des Lattenlehnstuhls gelingt ihm dies auf vollendete Weise. Indem er die Stirnseiten der Latten mit einem hellen Gelb betont, verleiht er den tendenziell endlosen Linien, die sie im Raum bilden, einen Anfang und ein Ende. Gestaltet wird nicht einfach ein Gestell, konstruiert wird ein Knoten im unendlichen Raum, der dank der farbigen Akzente besser wahrgenommen werden kann.

VI. Raum und Malerei.

Rietvelds Entwurf ist ebenso vom Wunsch nach einfachen Produktionsmethoden getragen wie inspiriert von Entwicklungen in der Malerei, auch wenn bis heute schwer zu bestimmen ist, ob und wie Rietveld auf das reagiert, was parallel Künstler wie Piet Mondrian oder Bart van der Leck entwickeln, indem sie Gegenstände auf einfache Flächen in Primärfarben reduzieren. Es ist denkbar, dass Mondrians neoplastizistische Gemälde aus den Jahren 1920 bis 1923 mit ihren schwarzen Linien und roten, gelben, blauen und weißen Flächen zu der Farbgebung des Stuhles geführt haben, eindeutig belegen lässt es sich nicht. Festhalten aber lässt sich, dass sich in Rietvelds Ansatz die Logik industrieller Produktion mit den Ergebnissen der künstlerischen Abstraktion berührt.

VII. Ein Stuhl aus einer Platte.

Rietveld experimentiert weiter. Der „Birza-Stuhl“ von 1927 sollte aus einer einzigen Faserplatte mit entsprechenden Einschnitten gefertigt werden, die in Wasser eingeweicht, in Form gepresst und getrocknet wurde. So entsteht ein Stuhl aus einem Stück, bei dem Form und Konstruktion verschmelzen. Nicht nur dieser Stuhl macht klar, weshalb Rietvelds Einfluss auf heutige Produktionsmethoden nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.

VIII. Asymmetrische Möbel.

Der „Berliner-Stuhl“, den Rietveld 1923 für eine gemeinsam mit dem Maler Vilmos Huszár gestaltete „Raum-Farb-Kombination“ für eine Kunstschau in Berlin entwirft, ist nicht nur asymmetrisch angelegt, er hebt auch die Unterscheidung zwischen dem Rahmen und den übrigen Teilen wie Sitz und Rückenlehne auf. Auch hier gehören alle Teile zu einer Konstruktion, die Raum schafft, strukturiert und alle Seiten optisch gleichrangig erscheinen lassen.

IX. Industrielle Produktion statt Handwerk.

Von 1925 an schlägt Rietveld einen neuen Kurs ein und beschließt, sich nur noch als Architekt zu betätigen. Dass er gleichwohl seine Experimente mit industriellen Produktionsweisen fortsetzt, hat seinen Grund darin, dass es im Möbelbereich oft leichter ist als in der Architektur, neuartige Lösungen umzusetzen. Anders als die Arts-and-Craft-Bewegung, agiert Rietveld nicht als Pessimist. Er will nicht zurück zum Handwerk. Vielmehr glaubt er, die industriellen Produktionsmethoden würden den Arbeiter entlasten. Ob man einen Stuhl schön oder hässlich findet, ist für ihn kein Kriterium. Geschmacksfragen interessierten ihn nicht. Er glaubt, was nützlich ist, könne auch schön sein.

X. Der Zickzack-Stuhl.

Besonders der „Zickzack-Stuhl“ aus den 1930er Jahren, der aus Experimenten mit Faserplatten entsteht, zeigt, wie radikal Rietveld mit Material und Form umzugehen weiß. Abermals besteht der Stuhl aus einem Stück und ist weder von der Funktion her, noch ausgehend von einem „modernen“ Stil gedacht. Rietveld beschreibt seine Form so: Eine „kleine Unterteilung des Raums, es ist kein Stuhl, sondern ein gestalterischer Scherz. Ich habe ihn immer als das kleine Zickzack bezeichnet.“ Ein Scherz, aber einer mit Folgen, wie die bis zu Verner Panton reichende Reihe entsprechender Stühle in der Ausstellung unterstreicht. Zwar hat es in den zwanziger Jahren bereits z-förmige Stühle gegeben, etwa den „Sitzgeiststuhl“ der Gebrüder Rasch, doch allein Rietveld denkt die Form konsequent als Raum und versucht, sie in einem einzigen Arbeitsgang aus dem Material heraus zu stanzen und danach zu „falten“. Am Ende vieler Experimente mit Blech, Faserplatte und gebogenem Sperrholz steht ein Stuhl aus gerade einmal vier Brettern, die, mit Leisten und Bolzen verstärkt, miteinander verbunden sind: eine barocke Raumfaltung in nüchtern-konstruktiver Gestalt. Was man wahrnimmt, ist ein Gebilde, auf dem man sitzen kann, das, weil der Blick andauernd die Richtung ändert, zugleich aber einen Raum beschreibt, der in seiner Kontinuität unterbrochen wird. Kontinuität und Bruch fallen in eins. Besser und folgenreicher kann modernes Design kaum sein.

XI. Selbst bauen.

Auch die Entwicklung preiswerter Selbstbaumöbel hat Rietveld entscheidend vorangetrieben. Seine Serie der „Kistenmöbel“ von 1935 aus Stuhl, Schreibtisch, Regal, Sessel und Couchtisch, bestehen – lange vor „Do-it-yourself“ und Ikea – aus einfachen unbehandelten Nut-und-Feder-Brettern, die mittels Schrauben montiert werden. Sie sind schlicht und rustikal, folgen im Prinzip aber auch dem Bauprinzip einander überlagernder Bretter. (Leider sind sie heute nur in einer überteuerten Re-Edition zu haben.)

XII. Design und Raum.

Was immer Rietveld anpackt, welche Materialien und Techniken er erprobt und wie sehr sich seine Ästhetik im Lauf von fünfzig Jahren auch verändert, sein Ziel bleibt, einen Teil des unbegrenzten Raumes abzuteilen und in ein menschliches Maß zu überführen, um den Raum greifbar und als Realität erfahrbar zu machen. Rietveld konnte den Menschen Raum bewusst machen und ihnen das Gefühl geben, von der Umgebung bereichert zu werden. Zugleich war er davon überzeugt, die Industrialisierung des Produktionsprozesses sei unausweichlich. Wobei er sich sicher war, dass der Designer in der Lage sein müsse, dem Fortschritt der Industrie den Weg zu weisen. Wer heute über offene Raumkonzepte, über „urban flow“ und Ähnliches nachdenkt, der findet in Rietvelds Werk zahlreiche Anregungen. Seine Häuser sind keine verschlossenen Blöcke und seine Möbel versperren nicht die Sicht. Sie sind offen für die Welt.

Gerrit Rietveld. Die Revolution des Raums.
Von 17. Mai bis 16. September 2012
Vitra Design Museum, Weil am Rhein
www.design-museum.de

1 Gerrit Rietveld und seine Mitarbeiter vor der Werkstatt in Utrecht, 1918, © VG Bild-Kunst, Bonn 2012, Foto © Collection Rietveld Schröder Archive, Utrecht
2 „Lattenstuhl”, © VG Bild-Kunst, Bonn 2012, Foto © Thomas Wagner, Stylepark
3 Seitenansicht „Lattenstuhl”, © VG Bild-Kunst, Bonn 2012, Foto © Thomas Wagner, Stylepark
4 Detail „Rot-Blauer Stuhl”, © VG Bild-Kunst, Bonn 2012, Foto © Thomas Wagner, Stylepark
5 „Rot-Blauer Stuhl“, 1918/1923, © VG Bild-Kunst, Bonn 2012, Foto © Andreas Sütterlin
6 „Birza Stuhl”, ungebogene und vorgeschnittene Faserplatte, © VG Bild-Kunst, Bonn 2012, Foto © Thomas Wagner, Stylepark
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10 Mit Armlehnen, © VG Bild-Kunst, Bonn 2012, Foto © Thomas Wagner, Stylepark
11 In der Stahlrohrversion, © VG Bild-Kunst, Bonn 2012, Foto © Thomas Wagner, Stylepark
l, Sessel, Couchtisch, © VG Bild-Kunst, Bonn 2012, Foto © Thomas Wagner, Stylepark