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Schaumstoffwiese, länger frisch
von Markus Frenzl | 25.10.2011
Fotos: David Giebel, Stylepark

Ein Baseballhandschuh als Sitzgelegenheit, Filme und Performances als neue Kommunikationsformen der Architektur, Module für die Erschaffung kompletter Interieurs, unterirdische Städte, leuchtende Plastikschlangen, ein Auto als Lebensraum, eine Wolke als Deckenleuchte... – was 1972 im New Yorker MoMA gezeigt wurde, versammelte nicht einfach die schrillen neuen Entwürfe einiger durchgedrehter junger Designer aus Italien. Die legendäre, von Emilio Ambasz kuratierte Ausstellung „Italy – The New Domestic Landscape" zeigte die Ideen der italienischen Designer modellhaft als Ausdruck einer Gestaltergeneration zwischen Konformismus, Rebellion und Zukunftsutopie. Sie kam genau zum richtigen Zeitpunkt, um die Abkehr von den hehren Idealen des Funktionalismus ebenso zu belegen wie die arglose Begeisterung für die fröhlich-bunten Möglichkeiten der neuen Kunststoffe, die Utopien eines neuen Zusammenlebens, die kritische Haltung der eben erst entstandenen Ökobewegung, die Aufbruchsstimmung und die Skepsis einer jungen Generation.

Gruppen wie Superstudio oder 9999 zeigten ihre kritischen Gegenentwürfe und definierten die Zusammenhänge zwischen Produkt, Architektur und urbanem Raum neu. Ein neuer Designertypus wie Ettore Sottsass präsentierte sich der Welt. Filme und Environments wurden speziell für die Ausstellung konzipiert. Alltagsgegenstände wurden als „Mikroprojekte", Architektur und Design als gesellschaftskritischer Kommentar verstanden. Die aufsehenerregende Leistungsschau des italienischen Designs war mit ihren Entwürfen zwischen Marktgängigkeit und Utopie, zwischen Bel Design und Radical Design wohl eine der bedeutendsten Design-Ausstellungen des 20. Jahrhunderts und sollte den Ruhm der italienischen Design- und Architekturszene wesentlich mitbegründen: Wer heute Altmeister-Status hat – von Aulenti über Bellini, Colombo, Mari, Pesce, Sapper, Sottsass bis Zanuso – war damals vertreten. „Italienisches Design" wurde über Jahrzehnte zum Synonym der Designavantgarde. Die Ausstellung galt noch lange als Bezugspunkt, deren Titel bis heute immer wieder aufgegriffen wird.

Geblieben ist von der Ausstellung all denen, die sie damals nicht persönlich erleben konnten, der Katalog, der im Original längst als bibliophile Rarität gilt. Er vermittelt noch immer einen Eindruck von der Aufbruchstimmung und dem kritischen Geist der Zeit, ja von einer gestalterischen Haltung, für die gesellschaftliche Verantwortung eine Selbstverständlichkeit darstellte.

Schon die lose im transparenten Schutzumschlag umherwandernden Cut-Outs von Objekten machten klar: Die Dinge waren in Bewegung gekommen. Ein Sessel musste nicht länger das sein, was sich Traditionalisten oder Funktionalisten darunter vorstellten, sondern konnte, wie bei dem Sitzobjekt „Pratone" der Gruppe Strum, auch mal in Form eines vergrößerten Wiesenstücks aus Polyurethanschaum daherkommen. Leuchten gab es nun auch in Pillenform, ein Tisch war nicht mehr hölzern, dezent und für die Ewigkeit bestimmt, sondern ein lautes und vielleicht auch schneller vergängliches Stück aus leuchtend rotem Kunststoff. Möbel sollten nicht länger allein repräsentieren, sondern als flexible Module neue Wohn- und Lebensformen ermöglichen. Die „neue häusliche Landschaft" war tatsächlich um einige Typologien reicher geworden, hatte manche Archetypen hinter sich gelassen und andere bewusst aufgegriffen und ins Absurde verzerrt.

Doch der Katalog bildete die Entwürfe der jungen, mehr oder weniger rebellischen Architekten und Designer nicht nur ab – wie wir das heute von den Newcomer-Büchern kennen –, er bewertete und kategorisierte sie auch nach ihren programmatischen Aspekten, nach ihren formalen und technischen Bedeutungen und „soziokulturellen Implikationen", nach größerer Flexibilität in der Nutzung und nach ihrer Bedeutung für „Umwelten" und „Gegenwelten". Dazu stellte er ihnen mehr als ein Dutzend Texte zur Seite: „Historische Artikel" erläuterten die Bezüge zum italienischen Jugendstil oder zu den Futuristen, „kritische Artikel" setzten Design und Architektur in Bezug zu sozialen und ökonomischen Fragen, zeigten sie als Ausdruck neuer Lebensformen und gesellschaftlicher Utopien.

Für manchen Leser mag das Buch heute lediglich wie eine Ansammlung altbekannter „Designklassiker" wirken, die nun problemlos in die Welt des Etablierten und Luxuriösen passen. Doch wer die Entwürfe mithilfe der Texte vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund sieht, dem vermitteln sie noch immer die Vorstellungen von gesellschaftlichem Wandel, von Visionen und Zukunftsutopien, die sich damals besonders deutlich in Architektur und Design ausdrückten. Es sind neue Produkt- und Wohnformen, die für die Suche nach einer neuen Gesellschaft stehen – und nicht in erster Linie die Kauflust befriedigen und dem neuesten Trend hinterher rennen wollen. Es sind Fragestellungen wie die nach dem Zusammenleben der Menschen in einer sich rasant verändernden Welt, nach dem Umgang mit Natur und Ressourcen oder nach sozialer Verantwortung, die allesamt noch heute – oder heute wieder – überraschend aktuell sind.

Denn das, was nun mit Schlagworten wie „sustainability" oder „social design" umschrieben wird, sind keine Neuerfindungen unserer Zeit, sondern grundlegende Werte des Designs, die sich in den Anfängen der Disziplin, aber auch in den gesellschaftskritischen Entwürfen der MoMA-Ausstellungen finden lassen. Als legendärer Moment der Designgeschichte ist „Italy – The New Domestic Landscape" deshalb bereits für die dritte Gestaltergeneration eine Inspirationsquelle, die den Utopiekern in den Entwürfen entdeckt und sie als Beispiele dafür begreift, was Design im besten Fall leisten kann. Sie ist Anregung, wenn es darum geht, sich vom Ballast des Überholten zu befreien und sich Gedanken über die gesellschaftliche Relevanz der eigenen Arbeit zu machen und dennoch zu ausdrucksvollen und emotionalen Entwürfen zu kommen.

So befassten sich an der New Yorker Columbia University im Frühjahr 2009 eine Ausstellung und ein Symposium intensiv mit der legendären Ausstellung, forderten Zeitzeugen und damalige Akteure zu einer Bewertung aus heutiger Sicht auf und versuchten, die Kategorien und Aufgaben der damaligen Zeit mit denen der Gegenwart abzugleichen. Denn noch heute kann die Ausstellung als Vorbild einer Umbruchs- und Aufbruchszeit gelten: Hier hatte sich eine ganze Gestaltergeneration von Dogmen und Zwängen befreit, hatte – was noch immer als gestalterische Tugend gilt – viele Dinge wirklich neu gedacht, neuen Materialien, veränderten Werten und einem neuen Lebensgefühl ihre adäquaten Ausdrucksformen gegeben. Fast vierzig Jahre nach seinem Erscheinen belegt der Katalog zu „Italy – The New Domestic Landscape" noch immer eindrucksvoll, dass eine solche gestalterische Haltung zu Entwürfen führen kann, die zwar deutlicher Ausdruck der Ideen ihrer Zeit sind, aber gleichzeitig auch zu richtungweisenden Typologien werden können, die auf Dauer Bestand haben.

In unserer Serie zu den Produkttypologien sind bisher erschienen:
› „Alles, was Möbel ist" von Thomas Wagner
› „Nicht anlehnen!" über Hocker von Nina Reetzke
› „Von Ruhe und Gemütlichkeit" von Mathias Remmele

Fotos: David Giebel, Stylepark