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Superarchitettura
von Ludwig Engel | 18.07.2016
Die Errettung der historischen Zentren Italiens. (Euer Italien): Superstudio übte oft beißende Kritik an der Realität, so wie in dieser Collage von 1972 zum Wiederaufbau nach dem verheerenden Hochwasser in Florenz: „Salvataggi di centri storici italiani (Italia vostra)“. Foto © C.T. di Francia

Es ist der vierte November 1966 und in Italien herrscht Ausnahmezustand. Ein Jahrhunderthochwasser hat große Teile des Landes lahm gelegt und Florenz, wo die Architekturstudenten schon seit Wochen ihrer Unzufriedenheit Ausdruck verleihen, trifft es besonders hart. Zwei Tage lang strömt das Wasser des Arnos durch die Straßen und richtet ein unvorstellbares Ausmaß der Zerstörung an. Die stolze Stadt versinkt für Monate in Schlamm und Schutt.

Wer diese Bilder im Kopf hat, betritt die Retrospektive zum 50-jährigen Gründungsjubiläum von Superstudio, die derzeit im Maxxi in Rom gezeigt wird, mit einem anderen Blick. Denn dieses revolutionäre und bis heute oft als visionär gefeierte Architekturkollektiv formierte sich kurz nach dem Unglück im Milieu der aufgebrachten Studenten, die sich plötzlich mit den handfesten Folgen einer Naturkatastrophe konfrontiert sahen, und es ist sicher diesen außergewöhnlichen Umständen zuzuschreiben, dass sowohl ein linkes, politisches Bewusstsein als auch Szenarien möglicher (Natur-)Katastrophen die wichtigsten Bezugspunkte ihres Schaffens bildeten.

Die Ausstellung „Superstudio 50“ im Maxxi in Rom ist wohl die bisher umfassendste Werkschau. Die auffällige „Red Wall“ hilft Besuchern, die Ausstellung in chronologischer Reihenfolge durch die fließenden Foyers und über die Treppen von Zaha Hadids Museumsbau als Einheit zu verstehen. Foto © Fondazione Maxxi

Superarchittetura

Einen Monat nach der großen Flut eröffnete 1966 in Pistoia nahe Florenz die Ausstellung „Superarchittetura“. Hier formulierten Superstudio zusammen mit ihren langjährigen Mitstreitern Archizoom erstmals ihre unerhörte Kritik an der Architektur der Moderne und setzten ihr ein knallbuntes, organisches Interieur als alternative Vorstellung des künftigen Zusammenlebens entgegen. Mit ihrer interdisziplinären Arbeitsweise zwischen politischer Intervention und anthropologischer Untersuchung steht Superstudios Schaffen bis heute für eine revolutionäre Neubestimmung von Methoden, Strategien und Wirkweisen architektonischer Praxis. Gabriele Mastrigli, der die Retrospektive zusammen mit den Superstudio-Mitgliedern Adolfo Natalini, Cristiano Toraldo di Francia und Gian Piero Frassinelli kuratiert hat, schreibt: “Die visionären Projekte von Superstudio sind auch ein rhetorisches Mittel, um uns die Möglichkeiten und Grenzen vor Augen zu führen, Architektur als Kritik an der modernen Gesellschaft einzusetzen. In ihren Collagen und Zeichnungen, den Installationen und Filmen lernen wir, dass es in ihrer Architektur nicht um Objekte geht, sondern um eine bestimmte Art, über die Welt nachzudenken.“

Dass die Arbeiten dieser politischen, am Denken und nicht am Objekt interessierten Gruppe jetzt im Gebäude des Maxxi gezeigt werden, erscheint insofern erstmal unglücklich. Denn die von der Formenkünstlerin Zaha Hadid entworfene, auf ein ehemaliges Militärareal geschwungene und irgendwie L-förmige Betonskulptur – parametrisch, unpolitisch – steht den Ideen von Superstudio quasi diametral entgegen. Dennoch: Was man in der Ausstellung „Superstudio 50“ und in den seltsam verbogenen Innenräumen Hadids zu sehen bekommt, unterstreicht eindrucksvoll, wie stark die Arbeiten der Gruppe heute noch wirken. „Superstudio 50“ wartet nicht nur mit einer Rückschau auf das Werk der Meister der architettura radicale auf, sondern kann in einer Art von „Reunion“ wie man es eigentlich nur von alternden Rockstars kennt, noch ein neues Werk der Gruppe präsentieren: „Red Wall“ ist eine eindrucksvolle Intervention, die nicht nur die Wirkung der parametrischen Architektur gelungen konterkariert, sondern gleichzeitig als hilfreiches und funktionales Leit- und Displaysystem der Ausstellung fungiert.

Superstudio sind vor allem für ihre starke Bildsprache und ihre Arbeiten mit unterschiedlichen Medien und Formaten bekannt. Entsprechend handelt die Erzählung dieser Ausstellung auch von Objekten, Collagen und begehbaren Environments, die das, was man von einer Architekturausstellung erwarten würde, weit hinter sich lässt: Über 200 teils unveröffentlichte Zeichnungen und Collagen, Möbel, Publikationen, Filme und temporäre Installationen haben die Ausstellungsmacher zusammengetragen und verdeutlichen damit Superstudios Ansatz, bei dem aus der Auseinandersetzung mit Architektur politische Kunst entstanden ist.

So hat alles angefangen: Im Eingangsbereich des Maxxi trifft man auch einen Nachbau der knallbunten „Superarchittetura“von 1966. Foto © Fondazione Maxxi

Eintauchen und Auflösen

Die chronologisch aufgebaute Ausstellung nimmt die Besucher mit auf eine emanzipatorische Reise, die Superstudio im Laufe ihres Bestehens durchschritten haben. Der Nachbau der ersten, das Gründungsdatum manifestierenden Ausstellung „Superarchittetura“ steht noch etwas verloren im Eingang herum, doch einmal in der Haupthalle im ersten Stock angekommen, steigt man den mit Treppen überbauten Raum entlang des roten Monuments hinauf und taucht dabei schrittweise in die Vorstellungswelt von Superstudio ab.

Der Weg durch die Ausstellung rekonstruiert dabei auch die Entwicklung der politisierenden Architektur von Superstudio in Folge der zunehmenden Politisierung der gesamten italienischen Gesellschaft in den 1960er- und 1970er-Jahren. Da finden sich zu Beginn noch fröhliche, bunt-organische Möbelentwürfe wie die wunderschöne Wolkenlampe „Passiflora“ (1967), die sich, ganz der Popart verpflichtet, der Tristesse des zerstörten Florenz entgegenstellt. Doch dann verschwinden die weichen Farben und die runden Formen zugunsten des schroffen, cartesianischen Rasters auf hartem, weißem Grund. Die Besucher werden zu Zeugen, wie aus den „Istogrammi“ der „Misura“-Serie die unzähligen Collagen des „Continuous Monument“ entstehen, Superstudios sicherlich bekannteste Werkserie. Da wird im Verlauf des Jahres 1969 aus kleineren Objekten, die als weiße, von einem schwarzen Raster überzogene Monolithe vielleicht Häuser, Tische oder Hocker darstellen, eine immer größere, immer gewaltigere Struktur, die sich am Ende über die Städte und Landschaften unserer Welt wirft.


Roberto Magris, Adolfo Natalini und Cristiano Toraldo di Francia von Superstudio auf einem Werbefoto von 1968 mit ihren Entwürfen für Poltronova. Foto © C.T. di Francia

Die Auflösung der Architektur und der Versuch, eine zweite Natur als Architektur zu erschaffen, führt unter anderem in die bildgewaltigen Narrative der „12 Ideal Cities“ (1971). Die Menschheit ist nun Opfer der Architektur, es ist die dystopische Beschreibung eines „menschenfressenden Urbanismus“ in verschiedenen, lustvoll und ironisch illustrierten Horror- und Science Fiction-Varianten. Darunter ist auch ein Nachbau des Environments „Supersurface – An Alternate Model of Life on Earth“ aus der berühmten MoMA-Ausstellung „Italy: The New Domestic Landscape“ von 1972: der verspiegelte Kubus ist heute noch beeindruckend und könnte auch als zeitgenössische Kritik an einer volldigitalisierten Welt frei von menschlich-physischen Bezügen gelesen werden. Etwas weiter gibt es eine der einfachsten und vielleicht schönsten Arbeiten der Gruppe zu entdecken: „The Wife of Lot“ ist eine 1978 für die Architekturbiennale in Venedig geschaffene Serie von basalen Architekturformen (Zylinder, Kubus, Quader etc.). Sie sind aus Salz und lösen sich durch herabtropfendes Wasser langsam auf, so wie sich alles menschliches Schaffen auf dieser Welt, auch die Architektur, unaufhaltsam auflöst.

Die „Fundamental Acts“ markieren 1971-1973 eine deutliche Wende im Schaffen der Gruppe und im Maxxi erhalten sie endlich und vielleicht erstmals die Aufmerksamkeit, die sie verdienen. Auf fünf Screens werden sie als Filme oder Storyboards, von Superstudio gezeichnet und teilweise verfilmt, als Meditationen über Natur-Architektur in ihrer ganzen poetischen Tiefe erfahrbar.

Superstudio superproduktiv: Von städtebaulichen Untersuchungen, über Zukunftsvisionen bis zu Möbelentwürfen reichte ihr Repertoire, im Vordergrund ihr modulares System „Sofo“ von 1968 als Nachbau in der Ausstellung. Foto © Fondazione Maxxi

Im Bildergewitter

Mit diesen Screens lässt der Besucher die „Red Wall“ hinter sich. Die Installation hat aus den komplizierten Foyers und Zwischenräumen des Maxxi einen flüssigen, sinnvollen Ausstellungsparcours gemacht, der die Besucher nun quasi ans Ende der Architektur geführt hat. In einem Gang betritt man nun eine Art Asservatenkammer, in der die fundamentalen Texte von Superstudio, eine recht erratische Sammlung von Schnappschüssen sowie die bemerkenswerten Fotos von Stefano Graziani des Superstudio Archivs und ein Dokumentarfilm von Matteo Giacomelli gezeigt werden. Im Bildergewitter, das die Arbeiten von Superstudio zu entfalten vermögen, fällt es kaum auf, aber die Ausstellung hätte es sich in ihrer präzisen Präsentation durchaus leisten können, die Texte den Bildern mutiger gegenüberzustellen. Denn die Erläuterung ihrer Ideen in Worten ist eine der größten Stärken dieser Gruppe.

Lediglich die wenigen zeitgenössischen Positionen, die sich in der Ausstellung mit Superstudios Vermächtnis auseinandersetzen sollen (Renee Dalder, Hironaka & Suib), lassen den Besucher zweifelnd zurück, ob eine solche politische Positionierung der Architektur heute noch Bestand hätte? Wenn man die aktuelle Architekturbiennale in Venedig ansieht, die sich das Ausstellen von politischer Architektur auf die Fahnen geschrieben hat, wird eine große Lücke zwischen dem gezeigten Pragmatismus und dem radikalen Furor der Arbeiten von Superstudio deutlich. Politische Architektur bedeutet heute offensichtlich das Arbeiten in der Realität. Superstudios Ansatz hingegen war ein Arbeiten an der Realität. Diese Form von Architektur vermissen wir heute schmerzlich.

Ausstellung:
Superstudio 50
MAXXI - Museo nazionale delle arti del XXI secolo
Via Guido Reni 4/A, 00196 Rom
Bis 4. September 2016
www.fondazionemaxxi.it

Katalog:
Superstudio
Opere 1966-1978
hrsg. v. Gabriele Mastrigli
790 Seiten, 545 farbige Abbildungen, Italienisch
Quodlibet, Macerata/Italien, 2016
ISBN 978-8874628131
68 Euro


Links: „Bazaar“ von 1969 für Giovanetti; rechts: Lampen aus der Serie „Gherpe“ für Poltronova von 1967. Fotos © C.T. di Francia
„Amore. La macchina innamoratrice“ von 1972: Architektur solle sich wieder um die wirklich wichtigen Dinge kümmern, war eine Forderung in Superstudios Collagen-Serie „Atti Fondamentali“. Foto © Fondazione Maxxi