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Über die Wirklichkeit der Dinge
von Claudia Beckmann | 17.12.2009

Die Serpentine Gallery in London gilt seit Jahren als der heilige Gral der modernen und zeitgenössischen Kunst in Großbritannien und genießt weltweit einen bemerkenswerten Ruf. Vor knapp zehn Jahren ergänzte das Museum seine Aktivitäten um den inzwischen legendären Serpentine Pavillon, der jedes Jahr von einem Architekten oder einer Architektin als temporäre Struktur errichtet wird und seitdem als Gradmesser für Innovationsfreudigkeit und Kreativität gilt.

Nun fehlte im Reigen von Kunst und Architektur nur noch eines: das Design. Den Anfang macht nun die Ausstellung „Design Real" von Konstantin Grcic, der auf ungemein charmante und kluge Weise den Spagat schafft, eine Designausstellung an einem Ort der Kunst zu realisieren. Aber wie ist das gelungen?

Zunächst war es eine richtige Entscheidung, in der Ausstellungskonzeption nicht zu nah an die Kunst heranzurücken. So sind bewusst nur Industrieprodukte ausgestellt. Im Gegenzug, das heißt im Umgang mit den Exponaten und der Art, wie sie gezeigt werden, wird mit den Modi der Kunst gespielt. Also nimmt man die Gegenstände wie Kunstobjekte wahr: Sie hängen wie Gemälde an der Wand, stehen wie Skulpturen auf einem Sockel oder liegen einfach auf dem Boden - ohne Kommentar und Erklärung stehen sie dem Besucher und dessen Rezeption offen. Es wäre aber für eine Ausstellung von Grcic zu kurz gedacht, wenn die Inszenierungsform sowie die Trennung von Objekt und Information der ganze Kniff wären. Es gibt die Informationen, den Kontext, den die Gegenstände brauchen, beides ist nur voneinander getrennt. In der Mitte der Ausstellung gibt es einen eigenen Rechercheraum, der sich ausschließlich der Kommentarebene widmet und sich mit dem jeweiligen Kontext der Dinge beschäftigt. Und tatsächlich, das Experiment gelingt.

Das Einzige, was man in den Ausstellungsräumen als Hilfestellung geliefert bekommt, sind Gattungsnamen. So steht unter einer High-Tech-Schweißmaske schlicht „mask", unter dem Karbonfaser-Koffer von Ross Lovegrove für Globe-Trotter nicht mehr als „luggage" und unter dem Spoiler eines Lamborghini Gallardo LP 560-4 Spyder lediglich der Hinweis „spoiler". Weiter nichts, kein Designer, kein Markenname, keine Jahreszahl. Wenn die Produkte nicht ohnehin anonym gestaltet worden sind. Und so läuft man durch die Räume und setzt die Objekte in einen Zusammenhang, verbindet sie auf ganz eigene Weise.

Es ist keine Auswahl nach wissenschaftlichen Kriterien, die Grcic getroffen hat. Auf den ersten Blick sind es nicht einmal spezielle Themen oder Kategorien, die systematisch abgedeckt werden. Vielmehr scheint es sich um eine intuitive, subjektive Auswahl von Gegenständen zu handeln, die bei näherer Betrachtung gleichwohl eine überraschende Geschlossenheit erlangen.

Zunächst verbinden die 43 Exponate zwei Merkmale: Sie sind allesamt nicht älter als zehn Jahre, sprich sie gehören dem gestalterischen Denken und der Haltung des 21. Jahrhunderts an. Ferner handelt es sich um klassische Industrieprodukte, nicht etwa um limitierte Editionen oder spezielle Entwürfe für Galerien. Doch je länger man durch die Ausstellung läuft, umso klarer wird einem, dass die Dinge darüber hinaus noch etwas anderes eint: Es sind alles Produkte, bei denen zwei wesentliche Elemente zusammenkommen - technische Innovation und ikonische Qualität. Ausnahmslos handelt es sich um hochkomplexe und vielschichtige, mitunter sogar widersprüchliche Produkte, die in ihrer technischen, materiellen, ökonomischen oder formalen Perfektion zum Archetyp einer Typologie geworden sind. Mal sind es die ersten ihrer Art, mal die besten.

Und zwischen all den Objekten, in denen Zukunft, Innovation und Design mitklingen, steht plötzlich ein Produkt, das sich nicht so recht einordnen mag: Eine archaisch anmutende, riesige Kastenbatterie, eben jene Batterie, die im Tesla Roadster versteckt ist, dem Wahrzeichen einer mobilen Zukunft. Es ist ein eigensinniger schwarzer Klotz, der da steht und der doch unsere Zukunftsvisionen möglich machen soll. Es ist einerseits dieser ironische Bruch mit den anderen Exponaten, der den Reiz ausmacht, aber auch, dass hier nicht das Objekt in seiner formalen Beschaffenheit, sondern dessen innovatives Potenzial im Zentrum steht. Was ebenfalls nicht mehr Erklärung braucht als schlicht: battery.

Die ausgewählten Produkte erfüllen nicht nur auf besonders nachhaltige und überzeugende Weise ihren Zweck, sondern der Zweck selbst ist bereits entscheidend. Sie werden gleichsam zu einem Bild oder Stellvertreter: So ist der Flügel einer Windturbine nicht nur in seiner materiellen Beschaffenheit und Ästhetik herausragend, er symbolisiert zugleich den Handel mit Energie, der in unserer heutigen Welt einen ganz eigenen Wert hat. Nicht anders die Röhre mit integriertem Wasserfilter und einem Strohhalm, der es Menschen in Entwicklungsländern ermöglicht, sauberes Wasser direkt aus Flüssen zu trinken. Gutes Industriedesign überzeugt eben nicht nur ästhetisch.

Dem Kern des Industriedesigns - dessen Bedingungen und Prozessen, der industriellen Produktionsweise und ihren gesellschaftlichen Hintergründen - widmet sich jener Raum, der wie eine Schaltzentrale in der Mitte der Ausstellung liegt. Eine Schatzkammer, in der man auf Sandsäcken sitzt und auf Flatscreens und e-books das Wissen um die Dinge abrufen kann.

Am Ende des Rundgangs fragt man sich, was denn nun besonders „real" an den Produkten ist, über die Tatsache hinaus, dass allesamt tatsächlich industriell produzierte Objekte sind, je nach Funktion und Bedarf mal in hoher, mal in geringer Zahl. Sind Dinge nicht per se real? In diesem Fall sind sie wohl real, weil sie alle Lösungen für tatsächliche Probleme bereithalten und Industriedesign im besten Sinne sind. Mehr noch: dass diese Entwürfe zu Stellvertretern einer ganzen Typologie taugen.

Begleitet wird die Ausstellung von einem Katalog, der jedes Objekt benennt und mit Informationen versieht, wobei die Gattungsbegriffe aus der Ausstellung die dazwischen geschobenen Seiten gliedern - in kleinen Dreierpäckchen, wie beispielsweise: bench, mirror, robot. „Beim Lesen", erzählt Konstantin Grcic, „verbinden sie sich zu Kurzgeschichten oder kleinen Gedichten".


Design Real
Serpentine Gallery London
Vom 26. November 2009 bis 7. Februar 2010

www.serpentinegallery.org

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