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Von A bis Y
von Annette Tietenberg | 13.10.2010

Nichts liegt Hussein Chalayan so fern wie das Fixieren eines Zustands. Im animierten Film, im Video und auf dem Laufsteg führt er vor Augen, dass alles veränderbar ist: die Position des Körpers im Raum, die Länge von Rock und Hemd, die Grenze zwischen Inneneinrichtung und Außenhaut. Derzeit versetzt er Museumsbesucher in Bewegung. Folgen sie den Buchstaben, die der britische Modeschöpfer türkisch-zypriotischer Herkunft im Istanbul Museum of Modern Art als Köder ausgelegt hat, so erschließt sich ihnen Koje für Koje Chalayans Gedankenwelt. A, das ist ein braunes, schrundiges Gewand, das Chalayan 1993 nach Abschluss seines Studiums am St. Martins College of Art and Design in London im Erdboden vergraben und erst nach Monaten wieder ausgebuddelt hat. Dass ein solcher Entwurfsprozess Werden und Vergehen einschließt und auf Bestattungsrituale, Exhumierungen und den malerischen Akt anspielt, blieb in Modekreisen nicht unbemerkt. Das Interesse an dem lehmbehafteten Kleidungsstück Temporary Interference, das die Unschuld reinweißer Seide gegen eine unverwechselbare Identität, erwachsen aus Farbe, Form und Historizität, eingetauscht hat, war so groß, dass Chalayan sich 1994 dazu entschloss, ein eigenes Label zu gründen.

Was uns zu C führt. Gefertigt aus dem unverkennbaren, dünnen Papier der Luftpostbriefe und mit sämtlichen notwendigen Instruktionen für Zuschnitt, Vernähen und Falten versehen, verbreitet Airmail Dress (1999) die Botschaft der Mode: Auf den Entwurf kommt es an. Obendrein lässt sich Airmail Dress leicht und anstrengungslos verschicken, kürzen oder längen und in der kleinsten Handtasche verstauen - und ist somit die Papier gewordene Antwort auf drängende Kleiderfragen des nomadischen Lebens. F markiert einen Wendepunkt in Chalayans Schaffen. Die Modenschau After Words (2000) brachte ihm international Anerkennung ein. Eine Filmdokumentation lässt den Museumsbesucher teilhaben an der Euphorie, die sich in Freudenschreien äußerte, als ein Model in einen Couchtisch stieg, mit leichter Hand an einer Vorrichtung zog und sich - wie eine Ziehharmonika - ein Reifrock entfaltete, der seiner Trägerin von der Hüfte bis zu den Fesseln reichte. Was in der Kulturtheorie wieder und wieder beschrieben worden ist, wurde szenische Handlung und Bild zugleich: Die Frau, das Gewand und das Interieur verschmolzen zur Einheit.

Die Geschichte der Mode erzählt Chalayan in einhundertelf Kapiteln unter dem Buchstaben R. Im Sommer 2007 ließ er im Zeitraffer Entwürfe von Coco Chanel, André Courrèges, Mary Quant, Paco Rabanne, Yohji Yamamoto und Vivienne Westwood wiederauferstehen, vergaß aber auch nicht, die Einflüsse zu erwähnen, die Kriege, Umsiedlungen, veränderte Arbeitsbedingungen und das Eintauchen in fremde Kulturen generell auf die Mode ausüben. One hundred and eleven gipfelt in einer Feier neuer Technologien, von denen sich unsere Gegenwart Wissen und Erlösung verspricht. Wiederum dokumentiert das Video nicht nur die Schritte der Models auf dem Laufsteg, sondern auch den aufbrausenden Applaus, wenn sich wie von Zauberhand Rocksäume nach oben schieben, Ärmel raffen, Kragen umklappen und Hüte zusammenziehen.

Manche nennen ihn den Philosophen unter den Modemachern, weil er weder vor Ludwig Wittgensteins Sprachspielen noch vor Samuel Becketts Stücken Halt macht. Chalayan selbst bevorzugt die Bezeichnung Künstler. Reminiszenzen an den Licht-Raum-Modulator von Laszlo Moholy-Nagy oder das Triadische Ballett von Oskar Schlemmer scheinen ihm recht zu geben. Aber trifft es das? Chalayan arbeit als Kreativchef für Puma und als Modemacher an eigenen Kreationen. Er weiß um die Macht von Körperpolitiken und kontert mit der Überzeugungskraft des Performativen. Er arbeit im Team und allein, mit Menschen und Medien. Sein Spektrum reicht von Mobilitätskonzepten - im Film gleitet eine Frau in einer Eizelle namens Spacemobil von London nach Istanbul - bis zu Ausflügen in die Popkultur. So trug beispielsweise Björk seine Airmail Clothes beim Shooting für ihr Album Post Cover.

Wie also nennt man einen, dem nichts fremd zu sein scheint? Einen, der die Bestandteile der Kulturindustrie wieder und wieder auseinanderzunehmen und neu zusammenzusetzen versteht? Einen, der das Individuelle in einer temporären Konstellation aus Stereotypen vermutet? Einen, der weiß, dass man Sätze besser nicht zu Ende spricht, damit andere sie ergänzen können? Chalayan, 1970 in Nikosia geboren, gab einer Kollektion, die so variabel gestaltet ist, dass unter den Bestandteilen der türkischen und griechischen Tracht das „kleine Schwarze" - die Uniform der westlichen Intellektuellen - zutage tritt, den Titel Ambimorphous. Ambimorph, so könnte man auch seine Vorgehensweise, sein Denkmodell nennen. Nichts ist unveränderlich, nichts homogen, nichts vollkommen. Die kulturelle Transformation, sie ist immer im Gange. Getragen von den Erfindungen und Imaginationen der Künstlern, Modemacher, Schriftsteller und Ingenieure, aber auch von Produktionsbedingungen, Traditionen und Gebräuchen. Ein Z sucht man in der Ausstellung, die von Donna Loveday kuratiert wurde und nach Stationen im Design Museum London und im Museum of Contemporary Art in Tokio nun in Istanbul zu sehen ist, vergebens. Die Schau, sie reicht von A bis Y. Z kommt im Namen Chalayan ja auch nicht vor. Ende offen. Umso besser.

Hussein Chalayan: 1994-2010
vom 15. Juli bis 7. November 2010
Istanbul Museum of Modern Art

istanbulmodern.org
www.husseinchalayan.com

Hussein Chalayan, Foto © Thomas Wagner, Stylepark
Hussein Chalayan, Foto © Thomas Wagner, Stylepark
Hussein Chalayan, Foto © Thomas Wagner, Stylepark
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Hussein Chalayan, Foto © Thomas Wagner, Stylepark
Panoramic AW, 1998, Foto: Luke Hayes
Hussein Chalayan, Foto © Thomas Wagner, Stylepark
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Hussein Chalayan, Foto © Thomas Wagner, Stylepark
Afterwords, 2000, Foto: Chris Moore
Hussein Chalayan, Foto © Thomas Wagner, Stylepark
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Hussein Chalayan, Foto © Thomas Wagner, Stylepark
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Hussein Chalayan, Foto © Thomas Wagner, Stylepark
Hussein Chalayan, Foto © Thomas Wagner, Stylepark
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Temporal Meditations SS, 2004, Foto: Luke Hayes
Intertia, Spring, Summer 2009, Foto: Chris Moore
Airborne, Autumn, Winter 07, Photo: Chris Moore
Palace to Passage, 2003, Foto: Luke Hayes
Hussein Chalayan, Foto © Thomas Wagner, Stylepark