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Von Ziegeln und anderen Modulen
von Thomas Edelmann
06.10.2015

Es ist Design-Festivalsaison. Allerorten sind mehr oder minder neue Stühle zu bewundern sowie Tische und Teppiche und neuerdings auch von Produktdesignern kreierte Düfte. Hersteller und Marken präsentieren ihre jüngsten Strategien und eröffnen Showroom-Flächen an mehr oder minder spektakulären Orten. Kurzum: Es herrscht gepflegte Langeweile. Weltweit gleicht sich das Angebot der Designfestivals. Es richtet sich an moderne Städter, an Planer wie Einrichter und Interessierte aller Art und versucht deren Bedürfnis nach Wohlbehagen im Chaos des Alltags zu befriedigen – vorgestern in Mailand, gestern in London, morgen in Dubai oder Peking. Eines der Designfestivals allerdings sprengt die Erwartungen. Es ist ein kuratiertes Festival, ursprünglich von der „Neigungsgruppe Design“ ins Leben gerufen, von Tulga Beyerle, Thomas Geisler und Lilli Hollein, die zwischen Schreiben, Ausstellen, Lehren und Kuratieren hin- und her oszillierten, verantwortet Lilli Hollein heute die Designwoche allein.

Soziologische Fragestellungen

In ihrer Aufgabe als Gastgeberin der Designszene Wiens und der Welt scheint sie ganz und gar aufzugehen. Wenn sie stets die Vielschichtigkeit und Vielgestaltigkeit von Design propagiert, steht sie dabei in der Tradition eines erweiterten Begriffs von Gestaltung, der sich ab den 1960er Jahren entwickelte, wobei die lebendige Wiener Architektur- und Designszene immer einen wichtigen Fixpunkt bildete. Mit ihrem jungen, engagierten Team aktualisiert sie theoretische wie praktische Momente des Designs, das sich von der Gestaltung von Massenprodukten in Regionen und Sphären entwickelt, die noch wenig abgegrenzt erscheinen. Dass es sich dabei soziologischen Fragestellungen und künstlerischen Interventionsformen annähert, zeigt sich mitunter als Schwäche und Ratlosigkeit. Gelegentlich aber bringt es anregende Konstellationen und Objekte hervor. Nicht alles ist festgelegt, dieser Tage in Wien, nicht alles von vornherein absehbar.

Bei der Vienna Design Week, die in diesem Jahr bereits zum 9. Mal stattfand, ging es weniger um Absatz und Präsentation neuster Produkte. Vielmehr thematisierte sich Design hier selbst, so umfassend in einer Weise und Bandbreite, wie das sonst selten zu erleben ist. Von Ende September bis Anfang Oktober waren überall in Wien Designausstellungen zu sehen, konnte man an Veranstaltungen Talks und Workshops teilnehmen. Die Bandbreite reichte von der Präsentation einer riesigen Meniskuslinse, die Architekt John Pawson für Swarovski entwarf und die nun für ein paar Tage im Eingang des Kunsthistorischen Museums ausgestellt wurde, bis hin zu Projekten des Social Designs, hier „Stadtarbeit“ genannt. Was sich Traditionsunternehmen in Kooperation mit Jungdesignerinnen und -designern ausdachten, war ebenso zu sehen wie die Ergebnisse des jüngsten österreichischen „Staatspreis Design“.

Gastland Frankreich

Mit Frankreich wurde zudem ein Gastland gewählt, das ein wenig quer zu den Themen der Veranstaltungswoche stand und doch auch wieder nicht. So erinnerte Pascal Teixeira da Silva, der französische Botschafter in Österreich anlässlich eines Empfangs an historische Allianzen der Formfindung. Was in Wien (und München) Jugendstil genannt wurde, hieß in Frankreich Art Nouveau, in Italien Liberty Style und in Katalonien Modernismo. „In Wien und Paris wurde gemeinsam die Moderne erfunden“, sagte der Botschafter mit Blick auf das frühe 20. Jahrhundert. Und so stammt das Botschaftsgebäude aus dem Jahr 1904 vom Architekten George Chedanne, der in Paris das Kaufhaus Galeries Lafayette geschaffen hatte.

Leicht konnte man sich verlieren in europäischer Geschichte und Kulturgeschichte, dieser Tage in Wien. Oftmals ist Tradition Spielmaterial für Neues. Etwa, wenn der Architekt Robert Roth, ein Experte des Wiener Geflechts, jener seit der Biedermeierzeit und besonders durch Michael Thonet verbreiteten nachgiebigen Bespannung für Sitz und Lehne, auf die in London lebende österreichische Designerin Stephanie Hornig trifft. Gemeinsam verarbeiteten sie die charakteristischen Flachstrukturen des Wiener Geflechts in Kombination mit Textilien und Leder zu dreidimensionalen Objekten, Taschen und Körben – ein zugleich kurioses und anregendes Projekt. Ein weiteres Projekt des Gastlandes Frankreich ist die Ausstellung von Glasobjekten der französischen Manufaktur Meisenthal in den Vogesen. Die traditionsreiche Glashütte wurde 1969 geschlossen und als Experimentalort für Designer später wieder belebt. In Kooperation mit der Hochschule für Bildende Künste Saarbrücken und der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe sowie mit freien Designern und Gruppen entstanden neue Objekte, die sich von Formen und Praktiken des Kunsthandwerks lösten und überraschende Glasobjekte mit neuen Methoden schufen.

Die Vienna Design Week lud dazu ein, die Stadt, aber auch die europäische Geschichte und Gegenwart zu erkunden, abseits der touristischen Trampelpfade. Die Vielfalt und Gegensätzlichkeit, die Mischung von Alltagsgestaltung und Alltagsveredelung ist dabei kein Betriebsunfall, sondern Programm. Ein umtriebiger Schneckenzüchter, der Feinschmeckerrestaurants beliefert, gehörte ebenso dazu wie der Vortrag eines Architekturhistorikers über brutalistische Architektur. Im Vitra-Showroom berichtete Hella Jongerius über ihre Arbeit an der Farbpalette des deutsch-schweizer Unternehmens, die sie entwickelt und verändert.

Ziegel für die Ringstraße

Das Festival ist 2006 aus den „Passionswegen“ hervorgegangen, bis heute ein bedeutender Programmschwerpunkt, bei dem jeweils junge einheimische und internationale Designer auf ortsansässige Traditionsunternehmen und Handwerksbetriebe treffen. Passion bedeutet dabei Begeisterung, Anstrengung und Leiden. Mitunter für die unmittelbar Beteiligten, aber auch für die Besucher, die manche Werkstätte an unerwartetem Ort aufspüren. Das kuratierte Projekt setzt auf Unternehmer mit eigener Designtradition, ebenso wie auf spezialisierte Handwerksbetriebe, die sich mit ihren Werkstätten in Wien noch immer inmitten mancher Wohnviertel befinden.

Neben dem Zentrum gab es Aktivitäten über die Stadt verstreut und doch wieder konzentriert, diesmal im 10. Wiener Bezirk namens Favoriten, dem so genannten „Fokusbezirk“ des Festivals. Als in diesem Jahr die Fertigstellung der Ringstraßen-Bauten vor 150 Jahren gefeiert wurde, hätte Favoriten eine besondere Rolle spielen können. Denn das riesige städtebaulich-architektonische Projekt der Ringstraße wurde mit Ziegeln gebaut, die vom Wiener Berg und der Firma Wienerberger stammten. In Favoriten ansässige Wanderarbeiter aus Böhmen und Mähren schufen das Baumaterial für die Ringstraßenpracht. Über die elenden sozialen Verhältnisse in den Ziegeleien, deren Arbeiter mit Blechmarken entlohnt wurden, mit denen sie nur in werkseigenen Läden überteuerte Waren erhielten, schrieb der Arzt Victor Adler Ende des 19. Jahrhunderts in seinen Undercover-Reportagen, die neben der Arbeiterschaft auch das Bürgertum mobilisierten. Später einte Adler die österreichische Sozialdemokratie.

Der Victor-Adler-Markt in Favoriten ist heute einer der letzten, deren Angebot sich nicht an den Touristen, sondern an den Bewohnern orientiert. Auf dem Platz stand ein in der diesjährigen Festival-Farbe gelb gestrichener Pavillon der Caritas. Während der Vienna Design Week veranstaltete hier die Architektin und Künstlerin Ebru Kurbak ihren Workshop „infrequently asked questions“. Der brachte Emigrantinnen zusammen, die sich über sehr spezifische Kenntnisse austauschten, die eben noch Teil des Alltagslebens waren, in ihrer neuen Heimat aber nutzlos erscheinen. Eine Frau aus Somalia demonstrierte, wie man einen Schwertfisch zerlegt, eine andere, ebenfalls aus Somalia, hat zeichnete auf, wie man ein Kamel melkt. Auch wurde demonstriert, wie man in Afghanistan Drachen baut.

Mit eigenen Objekten, die im Stilwerk Wien gezeigt werden, thematisierte Kurbak „den mikroelektronischen Raum, der den menschlichen Körper umgibt, als Alternativraum künstlerischer Interventionen. Ihr „Knitted Radio“ sowie ihre digital steuerbaren Straußenfeder-Objekte blieben hinter den Glasscheiben des Ausstellungsortes dabei leider etwas abstrakt.

Gemeinsam Entwerfen

In Favoriten ist die Festivalzentrale in den umgebauten Teilen einer historischen Brotfabrik untergebracht. Zur Eröffnung drang die Wiener Designszene zu hunderten auf unbekanntes Territorium vor: Hier gab es so etwas wie eine kleine Messe verschiedener Aussteller. Überraschende Präsentationen zum Handwerk der Roma etwa, deren archaische Handwerksgegenstände von der rumänischen „Romano ButiQ Association“ verbreitet werden. Eine Ausstellung zur Geschichte und Gegenwart polnischen Möbeldesigns grenzte an eine zu Entwurfsprojekten österreichischer Designhochschulen. Wer nach greifbaren Gegenwartstendenzen suchte, wurde ebenfalls fündig. Überraschend ist etwa die „Interioe“-Kollektion, die Österreich-Kollektion des Einrichtungs-Filialisten „Interio“, mit Entwürfen von Patricia Domanska, Robert Rüf, March Gut, Thomas Feichtner und anderen, kuratiert von Lilli Hollein. Während „interioe“ auf preiswerte Qualitätsmöbel setzt, widmen sich andere vorwiegend dem Experiment. Etwa Mischer’Traxler, die mit zwei aktuellen Projekten vertreten sind oder Gruppen wie breadedEscalop, die im vergangenen Jahr am Projekt „collective furniture“ teilnahmen, wobei Besucher Funktionen und Gestaltung des Möbels mitbestimmen konnten. Die Neue Wiener Werkstätte präsentierte in diesem Jahr den daraus resultierenden Prototyp des „Collective Desks“, der in Serie gehen soll. Das Büromöbel kann sich mit einlegbaren Platten unterschiedlicher Größe in einen mehrdimensionalen Stauraum für Krimskrams und Büroelektronik verwandeln, in eine Art Werkbank oder aber in eine ruhige Schreibunterlage für Papier und Laptop.

Mit der „Ganz neuen Galerie“ eröffneten im Hinterhaus eines wunderschönen historischen Gebäudes im 1. Bezirk breadedEscalop, cmara.rosinke Patrick Rampelotto und Kosmos Project aus Warschau ihren gemeinsamen Raum für „experimentelle Formgebung“. Dort zeigten sie neueste Entwürfe, wollen monatlich zur Diskussion einladen, die Geschichte moderner experimenteller Strömungen nachvollziehen und ganz ohne falsche Bescheidenheit Kollektionen entwickeln wie es einst Memphis in Mailand tat. Ihr Hintergrund und Bezugsfeld dabei: Designer und Strömungen aus Ost- und Mitteleuropa.

Offene Gesellschaft?

Das eng verwobene Designnetz aus Akteuren, Herstellern, Werkstätten und Institutionen zeigte sich dieser Tage äußerlich gelassen, zugleich in angespannter Stimmung. Wien erscheint im Herbst 2015 als beispielhafte Stadt: Zu Tausenden kommen Flüchtlinge – unter ihnen viele Familien mit Alten und kleinen Kindern – an den Bahnhöfen an, lagern auf Querbahnsteigen am Rand und inmitten des neuen Hauptbahnhofes. Sie treffen auf Helfer, die sie mit dem Nötigsten versorgen, die ihre Unterbringung oder Weiterreise so gut es geht organisieren. Dem Engagement der Helfer, die sich in Gruppen wie „Train of hope“ organisierten, steht ein diffuses, oftmals unartikuliertes Gefühl der Angst gegenüber. Die politischen Parteien wissen nicht, wie man diese Angst auflösen oder mit Reformen und Veränderungen beantworten kann. Es stehen Wahlen bevor und erstmals in demokratischen Zeiten ist denkbar, dass die SPÖ dabei marginalisiert und von der populistischen FPÖ als maßgeblicher Machtfaktor abgelöst werden könnte. „Wir grenzen niemanden aus – … schon gar nicht unsere Wiener“, plakatiert die FPÖ, als hätte sie mehr zu bieten als Stammtischparolen. Veranstaltungen wie die Vienna Design Week existieren nur in einer offenen Gesellschaft, sie bieten nicht nur Foren für Diskurs und Austausch, sie gedeihen in einer lebendigen Stadt, die mehr kennt als „unsere Wiener“.

www.viennadesignweek.at


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