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Was berührt die Seele?
26.04.2016
Der Designer Jerszy Semour mit seiner Serie von Hockern und Tischen, entworfen für Magis. Foto © Uta Abendroth

Jerszy Seymour ist schwer zu fassen. Sein Design ist eigenwillig und nicht immer leicht zu goutieren. Zumindest nicht für den „normalen Markt“. Der Kosmopolit, der in Berlin geboren wurde und in London aufwuchs, will mit seinem Design Situationen schaffen, die uns Menschen zur Auseinandersetzung mit dem Objekt, aber auch mit uns selbst und mit der Umwelt herausfordern. Uta Abendroth hat mit dem 48 Jahre alten Künstler-Designer über Humor, Poesie und Happyends gesprochen.

Uta Abendroth: Jerszy Seymour, in Mailand haben Sie Tische und Hocker bei Magis unter dem Namen „Bureau for the Study of Vivid Blue Every-Colour Inhabitations of the Planet, the Transformation of Reality, and a Multitude of Happy Endings“ präsentiert. Was für ein Statement wollten Sie damit abgeben?

Jerszy Seymour: Ich würde sagen, der Titel ist weniger ein Statement als ein poetisches Angebot. Die Kollektion lädt dazu ein, sich unsere Zukunft anzugucken, wie wir auf diesem Planeten leben möchten – und vielleicht auch, wie es in unseren Köpfen aussieht. „Vivid Blue“ könnte eine höhere Gewalt sein, die Leere oder das Göttliche, und „Every-Colour“ eine Vielzahl fleischlicher Existenzen. Die Transformation der Realität wäre eine Form der Evolution oder Revolution und die „Happy Endings“ wären das Ziel. Wirkliche Happyends können flüchtig sein. Und die Doppeldeutigkeit eines Happyends im Massagesalon und bei Walt Disney sollen sowohl Scheitern als auch Erfolg suggerieren. Aber in Wahrheit streben wir doch alle nach einem Zustand des Glücks.

Was ist neu an diesen Objekten?

Jerszy Seymour: Vielleicht nichts… Es sind hohe Hocker und Tische, gefertigt in einer Standard-Schweißtechnik und mit einem kleinen Dreh in der Geometrie der Beine. Die Lage der Träger mit dem geklecksten Oberflächen-Finish soll den Objekten alle materielle Realität nehmen und stattdessen Platz machen für Projektionen. Die Tische und Stühle schaffen eine flexible Arbeits- und Geselligkeitssituation, die als Metapher für gesellschaftliche und individuelle Organisation gesehen werden kann.

Warum haben Sie gerade Aluminium dafür gewählt?

Jerszy Seymour: Es ist sehr leicht, robust, recycelbar und trotzt den Elementen. Folglich können die Möbel sowohl drinnen als auch draußen benutzt werden, egal ob auf der Straße oder unter einem Baum.

Mal generell gesprochen: Ihre Produkte sind nicht gerade für den gewöhnlichen Markt gedacht. Wen haben Sie im Kopf, wenn Sie gestalten?

Jerszy Seymour: Abhängig vom Kontext, ob ich in einer Institution, einer Kunstgalerie oder für die Industrie tätig bin, arbeite ich unterschiedlich komplex. Aber ich bin stets daran interessiert, was die Seele des Menschen berührt, und wohin wir uns damit bewegen könnten. Für mich bedeutet dieses „gewöhnlich“ das gewisse Extra an einem Ding, etwas, das uns alle tief drinnen berühren kann – so wie Shakespeare im „Kaufmann von Venedig“ sagt: „If you prick us, do we not bleed...“ – wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht?

Was bedeutet Ihnen Realität im Designprozess? Oder geht es vielmehr um Visionen?

Jerszy Seymour: Hmm… Realität und Visionen. Die drei Hauptideen, die ich benutze, um meine Arbeit zu erklären, sind die folgenden: Erstens die Idee des Nicht-Gesamt-Gesamtkunstwerks, des nicht total totalen Kunstwerks – was ein Weg ist, um auf eine Gesamtheit zu blicken, ohne totalitär zu sein. Zweitens die Idee der Every-topia, ein Weg, den modernen Umgang mit dem Hier und Jetzt und dem Leichtverfügbaren zu vereinfachen. Und drittens das Konzept des Humors – wie wird es möglich, dass jemand lacht? Das ist ein Weg, das Dogma zu vermeiden und darauf hinzuarbeiten, dass er als Antwort kichert. In gewisser Weise stehen meine Arbeiten ganz direkt in der Realität – siehe die standardgeschweißten Aluminiumrohre. Sie sollen aber auch als Prototypen dienen, als Benutzerhandbücher und Memos im Hinblick auf mögliche Realitäten.

Wie beginnen Sie ein Projekt, was ist die Initialzündung?

Jerszy Seymour: Inzwischen gibt es durchaus eine logische Folge in meinen Arbeiten, eine Art Konstellation, die präzise Räume eröffnet, um etwas in Angriff zu nehmen. Dann schaue ich mir den Kontext an – eine Kunsthalle, einen Berg, eine Industrie – und arbeite heraus, was passt. Natürlich gibt es immer das Ziel vor Augen.

Sie organisieren regelmäßig Workshops. Inspiriert Sie diese Arbeit?

Jerszy Seymour: Im Allgemeinen hinterfrage ich meine Rolle als Schöpfer von Situationen, deshalb sind Menschen von grundlegender Bedeutung für die Projekte. Mit der frühen Serie von Ausstellungen über den „Amateur“, bei der ich mit Wachs gearbeitet habe, handelte es sich um Ausstellungen in Form von Workshops. Als eine Konsequenz daraus habe ich vor viereinhalb Jahren das „Dirty Art Department“ mitbegründet, ein Master-Programm am Sandeberg Instituut in Amsterdam, dessen Direktor ich bin. Wir haben eine große Zahl von Studenten und Alumnis mit einer Energie, die Raketen in den Weltraum schicken kann. Während des Salone haben wir in Zusammenarbeit mit dem Centro Sociale Macao eine vierwöchige Performance namens „The Wandering School“ auf die Beine gestellt – und ich glaube nicht, dass ich jemals etwas so Erstaunliches erlebt habe.

Sie haben einen multikulturellen Hintergrund und wohnen in verschiedenen Städten. Wie beeinflusst das Ihre Arbeit?

Jerszy Seymour: Es bedeutet, dass die Idee von Nationen okay ist, wenn es um Käse und Wein geht, aber nicht, wenn es um nationale Grenzen geht.

Was würden Sie tun, wenn Sie nicht als Designer arbeiten würden?

Jerszy Seymour: Ich würde in den Bergen in einem Whirlpool liegen und Tag und Nacht in die Sterne schauen.

www.dirtyartdepartment.com
www.macaomilano.org
www.wanderingschool.com

  • Seymour versteht sich als Kosmopolit, geboren in Berlin und aufgewachsen in London. Foto © Uta Abendroth
  • „Bureau for the Study of Vivid Blue Every-Colour Inhabitations of the Planet, the Transformation of Reality, and a Multitude of Happy Endings“ betitelt Seymour seine Kollektion. Foto © Uta Abendroth
  • Die aus Aluminium gefertigten Möbel sollen flexible Arbeits- und Geselligkeitssituationen ermöglichen. Foto © Uta Abendroth