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Wovon das Bauhaus noch nichts ahnen konnte
von Nina Reetzke | 18.10.2010

In den Werkshallen der Firma Thonet befinden sich modernste Maschinen und computergesteuerte Roboter, die komplexe Arbeitsgänge inklusive Werkzeugwechsel selbst durchführen. Sie biegen Stahlrohr, eine Konstruktionsweise, die inzwischen selbst schon zum Mythos geworden ist. Daneben führen Fachkräfte sorgfältig Arbeiten von Hand aus: Polster und Applikationen werden in aufwendiger Handarbeit ergänzt. Dahinter steckt eine jahrzehntelange Erfahrung, man kann fast schon von einer eigenen Tradition sprechen. Für einen Werksbesucher erschließt sich häufig nicht sofort, zu welchen Möbelstücken die einzelnen gebogenen Elemente später gehören werden, ob es sich um einen originalen Bauhausentwurf handelt, um die Re-Edition eines Produkts aus den siebziger Jahren oder um ein aktuelles Projekt.

Natürlich denkt man bei Stahlrohrmöbeln an das Bauhaus. Gegründet wurde es 1919 in Weimar und 1933 unter dem Druck des Nazi Regimes aufgelöst. Die Schule bestand nacheinander in drei deutschen Städten, zunächst in Weimar, dann in Dessau und schließlich in Berlin. Vor allem das Bauhaus in Dessau wurde durch seine Stahlrohrmöbel bekannt. Mart Stam entwickelte von 1926 an den sogenannten Kragstuhl - „kragen" im Sinn von „überstehen". Sein Rahmen besteht aus Gasrohren, er hat keine Hinterbeine und die Sitz- und Rückenflächen bestehen aus Flachsgeweben. Ausgehend von diesem ersten Modell entwarf Mart Stam weitere Versionen, die heute noch von Thonet produziert werden, so zum Beispiel den Stuhl „S 33".

In der Ausstellung „Stuttgarter Weißenhofsiedlung" präsentierten 1927 neben Mart Stam auch andere Designer ihre neuesten Stahlrohrentwürfe. Mies van der Rohe hatte mit der Rahmenkonstruktion experimentiert. Er entdeckte, dass der Rahmen eines Kragstuhls - je nach Material - unter dem Gewicht einer Person federt, leicht nach hinten nachgibt und somit der Sitzkomfort gesteigert wird. Aus diesen Überlegungen entstand der erste Freischwinger. Marcel Breuer wiederum entwickelte unterschiedliche Garnituren. Am bekanntesten ist sein Freischwinger „Cesca", dessen Bezeichnung er vom Namen seiner Tochter - Francesca - abgeleitet hat. Cesca wird heute bei Thonet unter dem Namen „S 32" geführt.

Anfang der dreißiger Jahre begann Thonet, ein Hersteller der bis dahin auf Bugholzmöbel spezialisiert war, mit der Produktion von Stahlrohrmöbeln. Thonet kaufte die Firma Standard-Möbel und trat mit dessen Geschäftsführer Anton Lorenz in Verhandlungen über die Produktion und den Vertrieb von allen Stahlrohrentwürfen von Mart Stam, Mies van der Rohe und Marcel Breuer ein. Doch blieb die Entwicklung in Sachen Stahlrohr keineswegs in den dreißiger Jahren stehen. Bis heute kommen immer wieder neue Entwürfe hinzu, die Stahlrohr in ein anderes Licht stellen. Offensichtlich ist das Potenzial der Konstruktionstechnik noch nicht ausgereizt, auch wenn die Assoziation mit dem Bauhaus wohl immer bestehen bleiben wird.

So nannte der Designer James Irvine die Entwürfe nach der Bauhauszeit auch nicht grundlos „What the Bauhaus has forgotten". Dazu gehört der Schaukelstuhl „S 826" von Ulrich Böhme aus dem Jahr 1971. Beim S 826 kommt zusätzlich zum Federn das Schaukeln des Stuhls hinzu, und so kann man, durch die ergonomisch geformte Sitz- und Rückenschale, in einer halb liegenden und sehr komfortablen Position entspannen. Formal erinnert der Stuhl an eine endlos geschwungene Schleife. Mit diesem Entwurf knüpft Ulrich Böhme auf vielfältige Weise an die Tradition von Thonet an. In Typus und Form ist der S 826 eine Neuinterpretation des klassischen Bugholz-Schaukelstuhls „No. 1" von 1860, und beim Material orientiert er sich an den zu diesem Zeitpunkt längst „klassischen" Stahlrohrmöbeln. Der S 826 blieb für achtzehn Jahre im Programm; seit 2006 ist er als Re-Edition erhältlich.

Aktuell arbeitet James Irvine als Designer und Kreativdirektor für Thonet. Als Resultat seiner Beschäftigung mit Stahlrohr entstand unter anderem die Sofagruppe „S 5000". Während die ersten Stahlrohrstühle aus den zwanziger Jahren kaum mit Polstern ausgestattet waren, entwickelte Thonet bereits Mitte der dreißiger Jahre eine Reihe von gepolsterten Sofas und Sesseln. Der Fauteuil „S 411" von 1932 markiert hier vermutlich den Anfang. Man denke auch an die Polstermöbel von Le Corbusier, Pierre Jeanneret und Charlotte Perriand, darunter den „Fauteuil à grand comfort", die in den dreißiger Jahren von Thonet produziert wurden. Inzwischen sind die Ansprüche an Komfort, Variabilität und Verarbeitung gestiegen. Die Sitzwinkel haben sich verändert, so dass man nicht mehr vornehm aufrecht und relativ steif sitzt, sondern gerne eine flachere, mehr liegende Position einnimmt. Zusätzlich sind die Sofas und Sessel heutzutage mit einer hochwertigen Federkernpolsterung ausgestattet, was den Sitzkomfort zusätzlich steigert. Um mit den Worten von Le Corbusier zu sprechen: Das Sofa als Sitz-„Maschine" ist im Laufe der Zeit wesentlich bequemer geworden.

Das neueste Stahlrohrprodukt namens „Lum" präsentierte Thonet im Mai 2010. Es handelt sich um eine Stehlampe, die von Ulf Möller entworfen wurde. Sie besteht aus einem gebogenen Rohr, das gleichzeitig Ständer und Leuchtenfassung bildet. Außerdem kaschiert das Rohr das Anschlusskabel. In dem Profil ist eine Reihe aus acht LED-Leuchten eingearbeitet. Zum An- und Ausschalten sowie zum Dimmen berührt man die äußerste LED-Leuchte. Das Profilstück mit den eingebauten Leuchten lässt sich überdies drehen, so dass der Winkel, in dem das Licht abgestrahlt wird, verändert werden kann. Im Schauraum von Thonet steht die Lampe sowohl neben den Bauhaus-Klassikern als auch neben den zeitgenössischen Stahlrohrentwürfen von James Irvine - und scheint damit eine Klammer zwischen Klassikern und Zeitgenossen zu bilden.

www.thonet.de

Eingang zum Produktionsbereich
Historisches Logo am Eingang zum Firmengelände
Peter Thonet
Frisch lackierte Sitzflächen und Rückenlehnen
S 34 von Mart Stam
Lum von Ulf Möller für Thonet
Dimmen der Leuchte
Näharbeiten von Hand, Alle Fotos © Nina Reetzke, Stylepark
Maschinen zum Biegen von Stahlrohr
Politur eines S 411, Werksentwurf von Thonet
Kollage im Firmenmuseum
Lum neben dem S 35 von Marcel Breuer