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Goodbye, Streets in the Sky!

In Erinnerung an den besten Beton Ostlondons
Trotz Fürsprecher wie Zaha Hadid und Richard Rogers, die sich für den Erhalt der Robin Hood Gardens aussprachen, konnte der Beschluss zum Abriss der Anlage nicht verhindert werden.
von George Kafka | 25.08.2017

In den letzten Tagen ihrer Existenz, die nun offenbar endgültig angebrochen sind, bekommen die beiden Gebäude der Robin Hood Gardens im Osten Londons langsam eine kriminelle Erscheinung. Wenn die Sonne in einem bestimmten Winkel auf die Fassade trifft, passt sich das Braun der mit Brettern vernagelten Eingangstüren auf eigentümliche Weise der Farbe des Betons an, und die dicht an dicht stehenden Fenster und Balkone erinnern an aufeinander gestapelte Kisten, die zum Abtransport bereitstehen. Der 45-Grad-Winkel der blauen Gitter, die schief in ihren ausgeleierten Scharnieren an den Treppenhäusern hängen, wirken wie eine Karikatur der kaputten Fenster.

Der kommunalpolitisch mindestens unterstützte, wenn nicht sogar gewollte Verfall des Ensembles markiert den schmerzlichen Niedergang eines Ost-Londoner Symbols. In einer von strahlendem Optimismus getragenen Zeit versprachen die 1972 fertiggestellten Bauten ihren Bewohnern eine neue Idee des Wohnens und generell eine leuchtende Zukunft für sich und die Stadt, ja, die gesamte Gesellschaft. Der wegweisende Bau beruhte auf einem Entwurf von Alison und Peter Smithson und bildete auf dem unvorteilhaft geschnittenen Grundstück eine neue Enklave – wie eine exzentrische Tante, die in der Ecke eines Pubs sitzt.

Diese alternde Exzentrikerin betrachtete ihre Umgebung eher misstrauisch und nur aus den Augenwinkeln, weil sie lieber für sich blieb. Und das blieb sie ja auch, hinter einer vielbefahrenen Straße zum Blackwall Tunnel, einem der wenigen Straßentunnels unter der Themse, der vor allem für seine Verkehrsstaus bekannt ist.

Die Robin Hood Gardens bestehen aus zwei Wohnblocks mit sieben und zehn Stockwerken. Die Fassadenseiten mit ihren epochalen "Streets in the Sky“, den überbreiten Laubengängen aus Betonfertigelementen, über die alle Bewohner zu ihren Wohnungen müssen, sind einander zugewandt. Hier sollten die Nachbarn sich treffen und kennenlernen, hier sollte das Leben in den Häusern auch nach außen hin sichtbar werden. 

Von den "Streets in the Sky" blickt man auf das, was den Londoner Immobilienmarkt heute prägt: Bürobauten und hochpreisige Wohnanlagen.

Dazwischen ist ein kleiner Park mit einem aufgeschütteten Hügel angelegt worden, ein urbanes Idyll für die spielenden Kinder und, später, auch für die Architekturstudenten. Der Park, der eindeutige Anklänge an Le Corbusier und dessen Ideale eines modernen Wohnens aufwies, war eines der schönsten und wichtigsten Elemente von Robin Hood Gardens, er bewahrte sich auch in den Zeiten des zunehmenden Verfalls (oder gerade deswegen?) einen Nimbus des Geheimnisvollen: Eine überwucherte und wilde, kleine grüne Oase, ein Ort zum Picknicken, Spielen oder Ausruhen. Von der Spitze des Hügels sieht man im Norden Erno Golfingers "Balfron Tower“ aufragen, ein Hochhaus voller Sozialwohnungen und Inbegriff einer vergangenen Utopie für London, ein vergangener Traum: eine Stadt mit einer Skyline, die zumindest teilweise aus Türmen des sozialen Wohnungsbaus bestand.

Aus diesem Traum erwacht man am Schnellsten mit einem raschen Blick nach Süden, denn dort erheben sich die Glas- und Stahlkolosse von Canary Wharf als Zeugen dessen, was in den Jahrzehnten seit den Smithsons in London geschah. Um den Bau von möglichst vielen Eigentumswohnungen im Luxussegment zu ermöglichen, wurden an allen Ecken und Enden die alten Häuser niedergerissen und durch möglichst große, hohe Neubauten ersetzt. Mit der Folge, dass in der zunehmend fragmentierten und durch soziale Asymmetrie geprägten Stadtlandschaft nur noch sehr vereinzelt sozialer Wohnungsbau entstand – der außerdem meist irgendwo in der Peripherie und jedenfalls nicht im Stadtzentrum errichtet wurde.

Was nach dem Abriss kommt

"Blackwall Reach“ heißt das neue Entwicklungsprojekt, für das die Robin Hood Gardens nun bald abgerissen werden. Aber Blackwell Reach ist natürlich größer als „nur“ die Robin Hood Gardens, so wie alle Projekte heute in London vor allem eines sind: groß. Das Projekt eines privaten Investors umfasst insgesamt acht Hektar der Umgebung, es wird viele Luxuswohnungen schaffen wie die Penthouse-Wohnungen im 24. Stock, die im Werbeprospekt mit Concierge-Service und integrierten Weinkühlern angepriesen werden. 

Immerhin, und abgesehen von den sozialen Konnotationen des gesamten Projektes, die neue Bebauung erscheint für Anwohner und Architekturkenner insgesamt vielversprechend: Das Londoner Büro Metropolitan Workshop hat hier zusammen mit den Stirling-Preisträgern Haworth Tompkins einen Entwurf erarbeitet, der den Park-Hügel der Smithsons als Zentrum der kleinen Siedlung erhält. Um ihn herum sollen vier mittelhohe, terrassenförmig angelegte Wohnblocks entstehen, die von verschiedenen Architekten entworfen werden und in denen auch „genügend günstige Wohnungen für alle ehemaligen Bewohner“ der Robin Hood Gardens zur Verfügung gestellt werden sollen, so Haworth Tompkins. Über diese günstigen Wohnungen für die aktuellen Bewohner hinaus sind weitere 561 mietgebundene Sozialwohnungen für Ortsansässige geplant – das sind gut doppelt so viele wie sie bisher in Robin Hood Gardens zur Verfügung standen. 

Allerdings wurden den Mietern von Sozialwohnungen überall in London in den vergangenen Jahren schon viele ähnliche Versprechen gemacht – insbesondere in den Arbeitersiedlungen Carpenter und Heygate im Stadtteil Stratford, aber auch zum Beispiel im Viertel Elephant and Castle –, die dann nicht eingehalten wurden. So bleibt abzuwarten, ob die "Swan Housing", die den gesamten Wohnbestand von Blackwall Reach übernommen hat, den Mietern von Robin Hood Gardens am Ende wirklich die versprochenen "geschützten und gesicherten" Mieterverhältnisse anbieten wird – denn das ist in einer Stadt mit derzeit heiklen Wohnverhältnissen wohl das größtmögliche Versprechen. Wenn das gelingt, könnte Blackwell Reach ebenfalls ein ikonisches Projekt werden und eines der höchst seltenen Beispiele für ein Londoner Immobiliengeschäft, von dem die zuvor hier ansässigen Bewohner profitieren könnten.

Vom Hügel aus hat man einen herrlichen Ausblick auf den brutalistischen Bau.

Architektonisch ist der Verlust der exzentrischen Tante in der Ecke dennoch schmerzlich. Die Robin Hood Gardens sind zwar an den Rändern etwas angerostet, ein bisschen altmodisch und vielleicht auch nicht wirklich funktional. Aber sie sind auch ein einzigartiges Beispiel für die Architektur ihrer Zeit und ein wichtiger Bestandteil der Stadt. Was an ihre Stelle tritt, wird vielleicht zeitgemäße Wohnungen bieten, allerdings dürften diese die Fantasie ganzer Generationen von Architekturstudenten und -liebhabern weniger anhaltend beflügeln. Mit dem Abriss von Robin Hood Gardens gehen der Charme, die Geschichten, die Träume einer einzigartigen gebauten Zukunft verloren. Und was kommt dann? Ein Yuppie im gut geschnittenen Anzug mit einem allzu vorhersehbaren Erscheinungsbild. Funktional – aber auch ein bisschen langweilig?

Langsamer Tod durch die Kommunalverwaltung

Hätten die beiden Gebäude nicht doch modernisiert und in das Neubauprojekt integriert werden können? Na klar, Robin Hood Gardens war sehr heruntergekommen und sein Ruf hatte gelitten – unsere exzentrische Tante schwankte zwischen weiser alter Dame und peinlicher Verwandtschaft. Einige prominente britische Architekten um Richard Rogers hatten sich in einem offenen Brief für den Erhalt der Gebäude ausgesprochen, deren skandalöser Zustand ja vor allem aus einem Mangel an Wartung und Pflege stammte, nicht aus irgendwelchen architektonischen Mängeln. Und selbst in diesem beklagenswerten Zustand blieb die Meinung der Bewohner unentschieden: In zwei Umfragen von 2008 und 2009 sprachen sich fast gleich viel Bewohner für einen Abriss wie für eine Modernisierung aus.

Glaubt man den Projektentwicklern, werden auf dem Grundstück mehr Sozialwohnungen entstehen, als sie bisher dort existierten.

Der entscheidende Tiefschlag erfolgte 2009, als Historic England (damals noch English Heritage) der brutalistischen Wohnanlage aufgrund ihrer „Trostlosigkeit“ den Status eines Denkmals verweigerte. Dabei hätte die Großzahl der Mängel wie undichte Dächer und einfachverglaste Fenster durch die zuständige Kommunalverwaltung leicht behoben werden können – wenn diese sich jemals ernsthaft mit langfristigen Investitionen zur Erhaltung ihres Bestands an Sozialwohnungen befasst hätte. Alison Smithson hatte 1970 selbst darauf hingewiesen, dass „die Erhaltung von hochwertigen Objekten eine absolute kulturelle Notwendigkeit“ sei. Davon abgesehen: eine kontinuierliche Pflege der Anlage hätte die dort lebenden Bewohner vielleicht auch nicht geschützt. Die Gentrifizierung von Goldfingers "Trellick Tower" in Londons Westen hat uns das bereits gelehrt.

Wenn das Versagen seitens der Kommunalverwaltung dann schließlich dazu führt, dass zusätzliche und besser instand gehaltene Sozialwohnungen zur Verfügung stehen, dann ist das nicht das schlechteste Ergebnis. Die Wohnungsnot in London ist tatsächlich massiv und Kompromisse daher unerlässlich. Es gilt also im Blick zu behalten, was London in einer Zeit der ehrgeizigen Sparmaßnahmen und knappen Budgets tatsächlich braucht. Mittlerweile steht das erste der beiden Gebäude von Robin Hood Gardens leer, die Fenster und Türen sind vernagelt. Ob die Investoren mit Abriss und Neubau noch darauf warten, auch das zweite Gebäude vollständig zu entmieten, ist derzeit unklar. Klar ist, dass die ehemaligen Mieter des ersten Gebäudes nun bereits eine Weile in andere Wohnungen umverteilt wurden und das ihre Rückkehr unwahrscheinlicher wird, je länger dieser Interims-Zustand dauert. Dann wird es auch schwerer, all die Versprechen einer sozial verträglichen Neugestaltung des Gebietes einzuhalten, woran im Anschluss sicher niemand Schuld gewesen sein wird.

Derweil sollten wir unser Glas erheben und noch einmal, vielleicht ein letztes Mal, auf unsere exzentrische alte Tante und Freundin Robin Hood Gardens trinken: Auf dass die "Streets in the Sky" noch lange die Träume dieser Stadt beleben. 

Alison und Peter Smithson in der BBC-Dokumentation zu ihren Wohnprojekte.