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Schneller als jede Wissenschaft

Raphael Gielgen sucht für Vitra nach der Zukunft der Arbeit. Im Perlflussdelta, der größten Boomregion der Welt, hat er eine Reihe von Antworten gefunden.
von Fabian Peters | 03.02.2020

"Was passiert, wenn 100.000 Ingenieure und Designer jeden Tag mit dem Willen aufstehen, etwas Neues zu erfinden?" Um das herauszufinden ist Raphael Gielgen, Trendscout "Future of Work" des Möbelunternehmens Vitra, mit einer Gruppe Unerschrockener dorthin losgezogen, wo das asiatische Jahrtausend gerade mit beeindruckender Vehemenz Gestalt annimmt: Ins Perlflussdelta – jene chinesische Sonderwirtschaftszone, die im weitesten Sinne das Hinterland der ehemaligen Kolonien Hongkong und Macao bildet. Fast 70 Millionen Menschen leben dort mittlerweile auf einer Fläche, die weniger als halb so groß ist wie die Schweiz. "Praktisch niemand kommt von dort" sagt Gielgen, "alle sind zugezogen. Die Chancen, die die Sonderverwaltungszone bietet, zieht Macher aus ganz China und zunehmend auch darüber hinaus an." Gerade wurde dort etwa die längste Brücke der Welt, die Hongkong-Zhuhai-Macau-Brücke fertiggestellt, die das Perlflussdelta überspannt und das Wegenetz des Ballungsraums erheblich verbessern soll. Weitere Megaprojekte sind längst im Bau und in der Planung.

"Learning Journey" nennt Raphael Gielgen die Expeditionen, die er in regelmäßigen Abständen mit wechselnden Experten, Unternehmern, Architekten und Querdenkern durchführt. Immer geht es darum, dem Zeitgeist den Puls zu fühlen, globale Entwicklungen in frühen Stadien zu beobachten und Dynamiken zu analysieren. Das Thema "Design to Production" stand im Fokus der Reise in das Perlflussdelta. "In dieser Region gibt es eine ungeheure Bandbreite von Betrieben – vom Ein-Mann-Betrieb bis zur vollautomatisierten "Dark Factory". Was sie aber alle gemeinsam haben, ist eine ungeheure Flexibilität: Praktisch überall kann die Produktion unmittelbar anlaufen oder die Produktionskapazität von einem auf den anderen Tag verdoppelt werden", beschreibt Gielgen eine der Ursachen für den Boom des Ballungsraums. "Diese Vielfalt an Produzenten in Kombination mit dem zur Verfügung stehenden Kapital und den "Incubators", in denen Start-ups an neuen Ideen brüten, erzeugen ein ungeheures wirtschaftliches und technisches Momentum."

Trotz allem eigenen Entwicklergeist: Was Gielgen und seine Mitreisenden von vielen chinesischen Gesprächspartnern vermittelt bekamen ist eine tiefe Bewunderung für deutsche Ingenieurskunst und deutsches Industriedesign. Allerdings ist der chinesische Ansatz bei jeder Form von Produktentwicklung ein – noch – ganz anderer, wie Raphael Gielgen beobachtet hat: "Diese ganze Region befindet sich in einem permanenten Beta-Status, verbunden mit einer fröhlichen Naivität beim Entwickeln. Hier ist nichts alt, nichts eingefahren, nichts 'bewährt'. Das verleiht allen eine gewisse Leichtigkeit. Es muss nicht immer die Lösung gefunden werden." Diese Haltung, glaubt er, könne auch für den Westen eine Befreiung bedeuten – eine Befreiung vom permanenten Optimierungswahn, dem ewigen 'schneller, höher, weiter' "Wir könnten stattdessen wieder zu echten Gestaltern, Forschern und Entdeckern werden."

Anders als in Europa oder, noch ausgeprägter, in Japan gebe es keine Prozesshaftigkeit in China, sagt Gielgen. Es gebe auch keine Vorstellung von Langlebigkeit, weil niemand damit Erfahrung habe. "Alles ist neu, aber das heißt auch: Es gibt keine Routinen." Das im Westen so beklagte Silodenken habe noch gar keine Zeit gehabt einzusetzen. Dieser Zustand, so glaubt Gielgen, der in den alten Industrienationen längst vergessen sei, könne hier wiederentdeckt werden. "Wenn man etwas von hier mitnehmen kann, dann den Mut, auf Lücke zu arbeiten."

Musste man, um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, selbst nach China reisen? "Nichts ist stärker als die physische und persönliche Erfahrung, die ein Mensch machen kann. Das Ein- und Abtauchen in einen völlig anderen Kulturkreis und die damit vielfältigen Wahrnehmungen brechen persönliche Denkroutinen auf", glaubt Raphael Gielgen. Er sei im Übrigen erstaunt gewesen, wie wenig Publikationen, geschweigen denn wissenschaftliche Untersuchungen, es zum Wirtschaftsboom im Perlflussdelta und seinen Grundlagen gebe. Vielleicht gerade auch, weil die ganze Entwicklung, die im Perlflussdelta gerade im Gange ist, nicht prozesshaft und regelgesteuert abläuft. "Hier ist der westliche Ansatz, alle Probleme mit einer Excel-Tabelle oder einer Powerpoint-Präsentation in den Griff zu bekommen, zum Scheitern verurteilt."