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Bauen in Deutschland
Das Jodeldiplom der Architektur
Eine Kolumne von Christian Holl
03.07.2015

Wer darüber klagt, dass mit der Bologna-Reform das gute deutsche Diplom entsorgt wurde, kann beruhigt werden. Es gibt es noch, das Diplom. Zum Beispiel das Diplom für Fachwerk-Gästeführer, eingeführt 2010. Schon an der echt deutschen Bezeichnung Fachwerk-Gästeführer-Diplom hätte Loriot seine Freude gehabt, vermutlich gerade weil es sich hier nicht um einen Spaß handelt.

Der diplomierte Fachwerk-Gästeführer ist ein mit den Eigen- und Besonderheiten des deutschen Fachwerks, wie sie an der Deutschen Fachwerkstraße zu finden sind, vertrauter Fremdenführer. Er wird ausgebildet von der Arbeitsgemeinschaft Deutsche Fachwerkstädte e.V. Die Fremden, die er führt, müssen dabei nicht einmal Fremde sein, auch Einheimische lassen sich gerne in die Geheimnisse der Zimmermannskunst einführen, wie sie gepflegt wurde, bevor es CNC-Fräsen gab. Sie werden in eine Kunst eingeführt, die ihnen fremd geworden ist, weil es heute keinen Grund mehr gibt, sie zu praktizieren. Fast keinen. Dazu später.

Das Fachwerk-Gästeführer-Diplom ist eine ernste Angelegenheit. Denn es geht auch um Geld. Um Tourismus, von dem die Stadt, die viel Fachwerk vorzuweisen hat, profitiert, und natürlich auch darum, dass der Fachwerk-Gästeführer-Diplom-Besitzer mit seinen Fachwerk-Gästeführungen Geld verdienen kann. Denn die Deutschen lieben das Fachwerk. Heute zumindest. Früher war es Notwendigkeit und Pragmatismus: Holz war verfügbar, die Konstruktion belastbar. Erst danach war Fachwerk unter Umständen Hausschmuck, viel öfter aber war es unter einer Schicht aus Putz oder Schiefer verborgen, damit es keinen Schaden nimmt. Die Häuser wurden also nicht verkleidet wie für einem Maskenball, damit man ihre wahre Identität nicht erkennt, sondern bekleidet. Damit sie geschützt sind, so wie wir uns bekleiden, um uns vor Kälte, und Regen zu schützen. Gut, es gab auch Verkleidungen. Die sollten das Haus wertvoller erscheinen lassen, als es ist.

Nicht zu jeder Zeit war man der Meinung, dass Fachwerk eine Zierde ist, es war manchmal auch ein Hinweis darauf, dass man sich ein Haus aus Stein nicht leisten konnte. Das waren die Zeiten, in denen Semper seine Bekleidungstheorie entwickeln konnte, in denen symbolische und technische Aspekte der Konstruktion oder, wie es Frampton hielt, repräsentierende und ontologische, unterscheidbar waren. Das Fachwerk repräsentiert den Zustand, in dem eine solche Unterscheidung nicht getroffen werden muss. Allgemein gesprochen: das, was repräsentiert, ist gleichzeitig das, was es repräsentiert. Alles ist, wie es ist, und ansonsten mit sich selbst im Reinen. Oder so. So stellt sich der moderne Mensch wahrscheinlich das Paradies vor. Wahrscheinlich, weil er nicht mehr so genau weiß, was er eigentlich ist oder sein soll. Und so kommt es, dass es heute scheinbar das Beste ist, was einer Stadt passieren kann: möglichst viele Fachwerkhäuser zu haben. Oder besser gesagt, möglichst viele Fachwerkhäuser zeigen zu können.

Wer nicht genug Fachwerk hat, macht sich welches, durch fachgerechte Restaurierung oder, wenn es nicht anders geht, eben mit Rekonstruktion. Noch 1979 hieß es, dass man auf dem Weg durch die Altstadt von Wetzlar „hier und da“ Fachwerkhäuser sehen konnte. Heute muss man sich verdammt anstrengen, keines zu sehen. Mit Rekonstruktionen ist es in puncto Fachwerkhäusern keine Herausforderung, denn die Wahrscheinlichkeit, dass auf einer Stelle, die historische besiedelt war, ein Fachwerkhaus gestanden hat, ist hoch. Wenn man nicht weiß, wie man Rekonstruktionen rechtfertigen soll, und nicht den Miesepetern wie dem Sozialgeographen Andreas Pott oder dem Kunsthistoriker Gerhard Vinken glauben will, dass die Altstadt „eine spezifische Herstellungsleistung des Tourismus ist“ (Pott) beziehungsweise „ein Produkt des modernen Städtebaus“ (Vinken), der muss die Identität bemühen. Fachwerkhäuser gehören zur Identität. Einer Stadt oder einer Region, mit der Nation ist man vorsichtig geworden, aber wenn man die Bezeichnung der Deutschen Fachwerkstraße ernst nimmt, ist auch das nur noch ein kleiner Schritt.

Ach, die Identität. Welcher Architekt weiß schon genau, was das eigentlich ist und wer wann und warum mit wem identisch sein oder sich identisch fühlen soll. Tatsächlich scheint die Identität ein scheues Reh zu sein. Sie scheint sehr bedroht zu sein, wenn man sie permanent herbeizitieren muss. Da hilft dann das Fachwerk. Vielleicht hilft es auch dabei, dass an anderen Orten außerhalb der für die Touristen und die identitätsschwachen Stadtbewohner aufgebretzelten Innenstadt aller möglicher Mist gebaut werden darf, der sich um keine Identität mit irgendwas bemühen muss und auch nichts weiter zu repräsentieren hat, außer vielleicht ökonomische Absichten. Dafür interessiert sich dann auch kein noch so gut ausgebildeter Gästeführer mehr. Die Ausbildung zum Fachwerk-Gästeführer dauert übrigens gerade einmal sechs Tage. Diridididudeldöö.

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Geschichte meets Geschichte. Ein Fachwerkhaus von 1734 mit originalem Nachkriegsimplantat aus Ladenlokal und Blumenfenster.
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Wildes Fachwerkimitat – so wird Deutschland im Europapark repräsentiert. Das jedes Jahr aufs Neue errichtete Haus auf dem Frankfurter Weihnachtsmarkt (s.o.) kommt wohl etwas näher an ein "richtiges" Fachwerkhaus. Alle Fotos © Christian Holl
Christian Holl