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Vor mehr als zehn Jahren hat Nauris Kalinauskas den Faltstuhl „Mutabor“ entworfen. Foto © Nauris Kalinauskas
Drei Stühle und litauisches Design
von Norkus Vaidas
12.07.2013

Litauen? Ja, das ist ein winziges Land an der Ostseeküste. Nein, Riga gilt nicht als die Hauptstadt, denn Vilnius hat diese honorige Bezeichnung verdient. Und nein, die litauische Sprache hat keine Ähnlichkeiten mit Russisch. Obwohl die Ü40-Generation die russische Sprache immer noch relativ gut versteht und spricht – als Schüler mussten sie Auszüge aus den Romanen von Dostojewski lesen und Puschkins Gedichte in der Originalfassung auswendig lernen.

Dies sind wohl die typischen Fragen, die man für gewöhnlich über das kleine Land an der nördlichen Peripherie der EU stellt und die die Litauer selbst immer wieder beantworten müssen. Die Frage nach litauischem Design wird leider nicht so oft gestellt und man kann sich sogar fragen, ob das Thema überhaupt noch zeitgemäß ist.

In den frühen Neunzigern haben sich die drei baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland vorsichtig verbündet, ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion erklärt und sind alsdann der Europäischen Union beigetreten. Seitdem hat sich aber die Idee einer vereinten baltischen Region so gut wie verflüchtigt. Daher sollte man jedem Hinweis auf nationales Design in diesen Ländern differenziert nachgehen, denn die Länder unterscheiden sich. Nach der Kultur zu urteilen, ist Estland den skandinavischen Ländern am nächsten. Die Litauer lachen viel über die angebliche Trägheit der Esten, die aber in Wirklichkeit am eifrigsten den anderen, modernen europäischen Ländern hinterhereilen. Philosophisch und ästhetisch und mit ihrer Betonung auf das Funktionale, kommt das estnische Design dem skandinavischen Stil am nächsten. Litauen und Lettland sind Nachbarn und ihre jeweilige Landessprache stammt aus derselben der baltischen Sprachfamilie. Heute sind jedoch ein Drittel der Einwohner Lettlands russische Staatsbürger und das beeinflusst sowohl die kulturelle als auch die wirtschaftlich Entwicklung des Landes erheblich. In Folge dessen trägt das lettische Industriedesign auch Anzeichen jener überzogenen Emotionalität und stilistischen Überbordung, die für die traditionelle slawische Kultur so bezeichnend ist.

In Litauen leben mehr als 80 Prozent aller Litauer, und das Land teilt eine Meeresgrenze mit Schweden, obwohl es am weitesten von Skandinavien weg liegt. Dank der bescheidenen Formensprache, der funktionalen Ausrichtung und dem behutsamen Umgang mit der Tradition sind gewisse Ähnlichkeiten zwischen litauischer und skandinavischer Gestaltung nicht von der Hand zu weisen. Die Designer selbst werden unweigerlich behaupten, die litauischen Produkte seien viel emotionaler, wärmer und ironischer als die der nordischen Konkurrenz. Das litauische und das skandinavische Design haben ihre Wurzeln im Kunsthandwerk, aber das Industriedesign Litauens entstand erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Leider betrachtet man im heutigen Litauen Design nicht als integralen Bestandteil des Alltags beziehungsweise der Lebensqualität, wie es in Skandinavien der Fall ist. Das Land ist seit 20 Jahren von der Sowjetunion unabhängig, also kann man den Russen nicht die Schuld an dieser Einstellung geben.

Einer der wichtigsten Industriezweige im heutigen Litauen ist die Holzverarbeitung und die Möbelherstellung. Dank ihrer technischen Fähigkeiten konkurrieren die litauischen Firmen mittlerweile auf Augenhöhe mit Unternehmen in Westeuropa. Das ist einer der Gründe, warum eine wachsende Zahl europäischer Möbelhersteller skandinavischen Firmen folgt und mittlerweile die baltischen Ländern China als Produktionsstandort vorzieht.

Aber das Verhältnis zwischen den litauischen Möbelherstellern und den hiesigen Designern ist nach wie vor unterkühlt, und das obwohl die Unabhängigkeit bereits vor 20 Jahren errungen wurde. Möbelhersteller begnügen sich mit gewinnbringenden Produktionsaufträgen aus dem Ausland beziehungsweise von Unternehmen wie zum Beispiel Ikea. Ihrer Meinung nach ist der nationale Markt zu klein, um die Gestaltung und Herstellung von authentischen Designobjekten lohnenswert zu machen. Sowohl der langfristige Charakter von Investitionen in die Produktion von Mehrwert schöpfenden Gütern als auch die Konkurrenz im Ausland scheinen einen guten Grund zu liefern, sich gegen die angeblich riskantere Option, zur Gewinnerzielung beträchtlich in den lokalen Markt zu investieren, zu wehren. Wem wundert’s, dass nur einige wenige große Firmen diesen Weg beschritten haben.

Zurzeit konzentriert sich das litauische Industriedesign vor allem auf den Haushaltsbereich – Möbel, Leuchten, und Accessoires – und überzeugt hier durch die Feinheiten. 70 Prozent der Fläche Litauens ist bewaldet und es ist daher kein Wunder, dass Holz das bevorzugte Material der Kreativen und Designer ist. Die meisten in Litauen entworfenen Designobjekte beschränken sich eher auf kleinen Serien und haben wenig Ähnlichkeit mit Massenware. Meistens wird für den lokalen Nischenmarkt entworfen – sprich es herrscht wenig Optimismus bezüglich der Zukunft.

Es ist nicht leicht, eine Erklärung dafür zu finden, warum litauische Designer so liebend gerne Stühle entwerfen. Selbst Designer Mindaugas Žilionis behauptete einst, dass dem Entwurf eines Stuhls für einen Designer eine ähnliche Bedeutung zukomme wie das Bauen einer Kirche für einen Architekten. Die Litauer sind dauernd damit beschäftigt, Mehrzweckstühle zu entwerfen, seien es Hocker, Schaukelstühle oder Sessel. Und selbstverständlich beruhen neun aller zehn Entwürfe auf Holz als Material.

Vor mehr als zehn Jahren hat Nauris Kalinauskas, einer der wohl berühmtesten Designer des Landes, den Faltstuhl „Mutabor“ entworfen. Aus massivem Karton gefertigt, besteht er nicht aus Holz, jedoch aus einem damit verwandten Material. In Litauen erfreut sich der außerordentlich preiswerte „Mutabor“ immer noch höchster Beliebtheit. Wenn man ihn online direkt vom Hersteller kauft, kostet er ganze 18 Euro, in Litauen selbst noch weniger. Einmalige Designerobjekte haben einen objektiven Preis und sind für die meisten Litauer zu teuer; einer der Hauptgründe, warum zeitgenössisches Design in Litauen so wenig Beachtung findet. „Mutabor“ ruft zwei Fragen bei den Käufern hervor. Erstens: Ist er wirklich so billig? Wie wir nun wissen, ja. Zweitens: Ist er stabil? Ganz bestimmt, denn er kann Lasten bis zu 100 Kilogramm tragen. Vielleicht ist die permanente Konfrontation mit der zweiten Frage der Grund, warum Kalinauskas auch eine Variante aus Metall entworfen hat.

Jungdesigner Paulius Vitkauskas hat den ersten Prototyp für den Schaukelstuhl „Ku-dir-ka“ aus Sperrholz in seiner Küche entworfen. Hinsichtlich der Form und Funktion von Schaukelstühlen brach der Designer mit bestimmten Konventionen. Dadurch, dass sich die Beine fest in einer aufrechten Sitzposition arretieren lassen, kann man nicht nur schaukeln, sondern den Stuhl auch zum Essen oder Arbeiten benutzen. Der wohl der beliebteste litauische Stuhl hat in etlichen berühmten internationalen Designzeitschriften und auf verschiedenen Webseiten debütiert. Der berühmte Litauer Vincas Kudirka hat im 19. Jahrhundert die Nationalhymne verfasst – und wäre heute äußerst erstaunt, dass sein Name Dank eines Schaukelstuhls weltweite Bekanntheit erlangt hat.

„Spina“ („Schloss“) wurde von Mindaugas Žilionis entworfen. Dem Designer ging es weniger um ein spezifisches Möbelstück als vielmehr um ein einmaliges Profil. Die Komponenten lassen sich unterschiedlich miteinander kombinieren; so entsteht ein sehr bequemer Liegestuhl, ein Kaffeetisch, ein Raumteiler, eine Bank oder gar ein Bett. Der Designer hat diese raffinierte Idee bereits vor einigen Jahren entwickelt, aber sie wartet noch darauf, richtig zu reüssieren.

Diese drei Stühle bezeugen die Originalität, die Kreativität und das Potenzial litauischen Designs. Ob diese Qualitäten es auch bis in die globalisierte Welt schaffen werden, mag dahin gestellt sein. Vielleicht ist dies auch gar nicht nötig. Denn im 21. Jahrhundert geht es ja bekanntlich nicht um die Herkunft, sondern um die eigene Persönlichkeit.


www.designers.lt

„July” von Zilvinas Stankevicius. Foto © Zilvinas Stankevicius
„Mutabor M” von Nauris Kalinauskas. Foto © Nauris Kalinauskas
„Pirst“ von Dalius Razakuas steht auf dem Teppich „Rug“ von Nauris Kalinauskas. Foto © Dalius Razakuas
Keine Angst vor Konventionen: Der Schaukelstuhl „Ku-dir-ka“ von Jungdesigner Paulius Vitkauskas. Foto © Paulius Vitkauskas
„Mutabor Table” von Nauris Kalinauskas. Foto © Nauris Kalinauskas
Die Komponenten von „Spina“ (Schloss) lassen sich unterschiedlich miteinander kombinieren. Foto © Mindaugas Žilionis
Bei „Spina“ von Mindaugas Žilionis geht es um ein einmaliges Profil. Foto © Mindaugas Žilionis
Der Designer hat diese raffinierte Idee bereits vor einigen Jahren entwickelt, aber sie wartet noch darauf, richtig zu reüssieren. Foto © Mindaugas Žilionis
„Pixel” Stuhl und Tisch von Nauris Kalinauskas. Foto © Nauris Kalinauskas