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Grenzgänger im Moïtel
von Andrea Eschbach | 21.12.2009

Sie drehen sich mal sacht, mal schnell: Die an der Decke hängenden Stoffobjekte wirbeln wie Röcke durch die Luft. Die unterschiedlichen Ausschnitte des Stoffes bestimmen die Bewegungen, denen man gebannt folgt. Alles verdoppelt sich in den Spiegeln am Boden - ein Feuerwerk in Rot und Fuchsia. Man denkt an Flamencotänzerinnen, aber auch an den tranceartigen Tanz der Derwische.

Mit der Installation „Les Danseuses" feierte das Westschweizer Atelier Oï Ende September seinen Umzug in neue Räumlichkeiten. Ein gelungener Auftakt für eine neue Ära der Designer aus La Neuveville. Schließlich demonstriert diese Arbeit aufs Schönste, wie das Team arbeitet. In „Les Danseuses" haben sich die Gestalter mit dem Thema Bewegung auseinandergesetzt. Ob daraus ein Ventilator wird, eine Leuchte oder gar eine Schale - alles ist offen. „Es ist nur der Anfang einer Geschichte", sagt Aurel Aebi, Mitbegründer von Atelier Oï. Seit achtzehn Jahren arbeitet er gemeinsam mit Patrick Reymond und Armand Louis. Ihr Name ist Programm: Atelier Oï leitet sich aus dem Doppellaut von Troika ab, dem Dreigespann vor einem Karren. Patrick Reymond und Aurel Aebi studierten zusammen an der Architektur- und Designschule Athéneum in Lausanne. Ein Wettbewerb brachte sie mit dem Bootsbauer Armand Louis zusammen: Das Bett „Lit dive" (1991) entwarfen sie aus gebogenem Holz. Arbeitete das Trio anfangs häufig ohne Mandat, sind sie heute eines der erfolgreichsten Designkollektive der Schweiz.

Im Dazwischen zuhause

Von La Neuveville aus erobern sie die Welt. Ihre Projekte umspannen, wie eine Weltkarte eindrücklich zeigt, den Globus - von Kiew über Toronto bis Shanghai. Ein Umzug stand nie zur Debatte. Im Gegenteil: Die Lage des ruhigen Winzerstädtchens zwischen Bielersee und Jura - direkt am Röstigraben - sei ideal, erklären die mehrfach preisgekrönten Gestalter. „Im Dazwischen liegt oft das Wesentliche", sagt Aebi. Das gilt auch für ihre Arbeit. Er und seine Mitstreiter bewegen sich virtuos zwischen den Disziplinen: Sie sind Architekten, Innenarchitekten, Szenographen und Designer. Sie entwerfen Möbel und Leuchten für Unternehmen wie Röthlisberger, Wogg, B&B Italia, Ikea und Foscarini. Sie inszenieren Ausstellungen und konstruieren Einfamilienhäuser ebenso wie die Schmuckfabrik „Dress your Body". Und sie gestalten für Uhrenmarken wie Swatch, Breguet und Audemars Piguet Messestände, Shops und Showrooms. „Anfangs konnte man uns nicht recht einordnen", sagt Aebi. „Mal machten wir Ausstellungsgestaltung, dann wieder Möbel". Heute laufen die Projekte nebeneinander - von der Verpackungsgestaltung bis zum Fabrikgebäude.

„Die Summe aller Projekte, egal in welchem Maßstab, macht Atelier Oï aus", erklärt Armand Louis. Inzwischen ist aus dem Dreiergespann ein Team von dreißig Mitarbeitern geworden. „Wir sind auf einer gestalterischen Reise", sagt Aebi. Ihre Angestellten - Architekten, Innenarchitekten und Designer, aber auch Landschaftsarchitekten und Hochbauzeichner - begleiten die Drei eine Zeitlang, bevor sie weiterziehen.

Das neue Domizil spiegelt diese temporäre Zusammenkunft wieder: Sie haben die zu klein gewordene Uhrmacherfabrik, in der sie bislang residierten, gegen ein ehemaliges Motel eingetauscht. Das langgestreckte Gebäude aus den sechziger Jahren an der Strasse nach Biel stand seit 2002 leer. Atelier Oï erwarb den denkmalgeschützten Bau und machte aus ihm seine neue Schaltzentrale. Wo früher Reisende einen Stopp einlegten, sind nun auf 900 Quadratmetern und drei Stockwerken alle Aktivitäten des Studios zusammengefasst. Das „Moïtel" ist Atelier, Materialsammlung, Bibliothek, Showroom, Modellbauwerkstatt und Laboratorium in einem. Ein Zimmer wurde - als Reminiszenz an den ehemaligen Motelbetrieb - konserviert, um Praktikanten oder auch Kunden beherbergen zu können.

Das Material als Ausgangspunkt

Der Seeblick lockt: Die Projekt-Teams arbeiten nun nach Themen in den ehemaligen Zimmern, die zum Erschließungsgang hin geöffnet wurden. Eine Art Schaufenster schließt den Bau rückwärtig ab. In den Nischen sind Objekte, Prototypen und Materialrecherchen versammelt. Hier wird deutlich, wie viel Engagement Atelier Oï in Experimente und konzeptuelle Arbeit steckt. Mandate von großen Marken, für die das Studio immer häufiger tätig ist, geben ihnen den Freiraum dafür. „Wir arbeiten nach dem Hefe-Prinzip: Ein Projekt führt zum nächsten", sagt Aebi. So erkundeten die Gestalter beispielsweise intensiv die gestalterischen Möglichkeiten der Kordel. Seile winden sich da zur Garderobe und schlingen sich zur Sitzgelegenheit, die Kordel wird sprichwörtlich zum roten Faden in einer Ausstellung des Mudac in Lausanne, Schnüre umspannen wie eine Nähgarnspule die Hocker „Reel" (2009) für B&B Italia. Durchexerziert wird auch das Thema Stäbe: Bei der Schweizer Landesausstellung „Expo.02" bekommt das Ausstellungsgelände am Seeufer der Stadt Neuchâtel ein leuchtendes Schilffeld aus Stäben. Bronzefarbene Stangen prägen die Breguet-Shops weltweit, metallische Stäbe bringen die poetischen Leuchten „Allegretto" (2009) für Foscarini zum Klingen. Kreative Kettenreaktionen, nennt dies Aurel Aebi. Neuerdings haben sie das Material Glas erkundet. Anlass war ein Auftrag von Bulgari, einen Flakon für das Parfüm „BLV II" zu entwerfen. „Wir mussten einen Duft in Szene setzen, ein ebenso flüchtiges wie kostbares Gut". Lange tüftelte man an dem richtigen Farbton des Parfüms, dessen zartes Blau nun die linearen und geschwungenen Formen des kristallenen Gehäuses betont.

„Unser reicher Fundus an Themen, Strukturen und Materialien", sagt Aebi, „ist Nahrung für unsere Projekte." Auch 2010 steht der Mehrkampf im Vordergrund. Für die Designkollektion des Schweizer Möbelhauses Pfister entwerfen die wandelbaren Gestalter gemeinsam mit Kollegen wie Alfredo Häberli Möbel und Leuchten, für Louis Vuitton ersinnen sie ebenfalls Wohnliches, und im Auftrag des Zürcher Landesmuseums inszenieren sie eine Ausstellung über das Wohnen. Und die tanzenden Derwische? Wer weiß. „Die Reise geht weiter", sagt Patrick Reymond.

Ausstellung im Musée de design et d’arts appliqués contemporains (Mudac) in Lausanne
Ausstellung im Musée de design et d’arts appliqués contemporains (Mudac) in Lausanne
Ausstellung im Musée de design et d’arts appliqués contemporains (Mudac) in Lausanne
Flakonentwurf "BLV II" für Bulgari
Boutique/Musée Breguet in Paris
Boutique/Musée Breguet in Paris
Installation am Seeufer der Stadt Neuchâtel zur Expo.02
Les Danseuses
Les Danseuses
Dress your body Gebäude in Cormondrèche; Foto von Yves André
Porträt Atelier Oi; Foto von Friederike Baetcke
Ausstellung im Musée de design et d’arts appliqués contemporains (Mudac) in Lausanne
Ausstellung im Musée de design et d’arts appliqués contemporains (Mudac) in Lausanne
Ausstellung im Musée de design et d’arts appliqués contemporains (Mudac) in Lausanne
Flakonentwurf "BLV II" für Bulgari
Boutique/Musée Breguet in Paris
Boutique/Musée Breguet in Paris
Boutique/Musée Breguet in Paris
Installation am Seeufer der Stadt Neuchâtel zur Expo.02
Les Danseuses
Leuchten für Foscarini
Dress your body Gebäude in Cormondrèche
Firmensitz von Atelier Oi "Moitel" in La Neuveville