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Himmelsformationen
von Sandra Hofmeister | 12.06.2009
Ronan und Erwan Bouroullec

In der großen Lagerhalle im Freihafengelände, die nach dem Konzept der Brüder Bouroullec gestaltet ist, breiten sich an den Wänden große Wolkengebilde aus. Sie verdichten sich zu Wetterfronten, bilden verschiedene Einheiten und bringen eine ungemein sinnliche Atmosphäre in den Raum. „Clouds" ist der Name des textilen Modulsystems - das weder Möbel noch Paravent, weder Akustik-Paneel noch reine Dekoration ist - und doch von allem etwas hat: Ein Wandelement, ein Raumteiler und Puzzle aus Textilfasern. Die Strukturen der Natur haben die Brüder Ronan und Erwan Bouroullec zu diesem Entwurf inspiriert. Erwan Bouroullec erklärt im Interview, was es mit diesen Strukturen auf sich hat.

Sie haben Wolken, Algen und den Stuhl Vegetal entworfen. Was fasziniert Sie an Strukturen aus der Natur?
Erwan Bouroullec: Wir begeistern uns für die Strukturen der Natur und für die Logik, die hinter diesen Strukturen steckt. Zwei Dinge sind daran interessant: Da ist zum einen die Fähigkeit zur Flexibilität. Die Natur kann sich immer an wechselnde Bedingungen anpassen - Pflanzen zum Beispiel können in Richtung Sonne wachsen oder sich dahin ausstrecken, wo weniger Wind ist. Für uns ist diese Flexibilität essenziell für ein Wandelement wie die Clouds. Schließlich kennt man nicht alle Räume, in denen man leben wird und auch nicht alle Bedürfnisse der Zukunft. Der zweite interessante Aspekt an der Natur sind die Strukturen selbst, die sich selbst wiederholen, in einfachen Knoten und Verbindungspunkten.

Sie meinen chaotisch und geordnet zugleich?
Bouroullec: Oft gibt es in der Natur eine Regelhaftigkeit, die für die Einzelteile ebenso gilt wie für das Ganze. Bäume und Wurzeln zum Beispiel sind mehr oder weniger wie Äste und Zweige. Es gibt eine übergreifende Einheit und verschiedene Maßstäbe. Das ist auch bei Felsen und Bergen so. Auf der Suche nach einer verbindenden Einheit, waren diese sich selbst wiederholenden Muster für unsere Arbeit sehr interessant. Die menschliche Logik schlägt viele Möglichkeiten vor, Wände zu kombinieren. Das Problem ist aber, dass diese Lösungen meistens das Ganze aus dem Blick verlieren. Buckminster Fuller war auch auf der Suche nach einer Logik, die er überall anwenden konnte. Natürlich hat eine solche Logik innerhalb industrieller Prozesse eine besondere Bedeutung: Wiederholungsstrukturen bedeuten eine gewisse Freiheit bei der Produktion.

Dann sind Sie also nicht an Mustern interessiert?
Bouroullec: Nein, überhaupt nicht! Unser Ziel ist keineswegs ein Möbel, das Natur sein möchte. Einige unserer Entwürfe sind inspiriert von der Struktur der Natur, aber der natürliche Look interessiert uns dabei nicht. Wir machen keine Naturimitationen. Sie lachen vielleicht, aber ich meine das ernst. Es könnte ja sein, aber in unserem Fall ist das definitiv anders.

Sie transferieren die Strukturen dann in einen industriellen und urbanen Kontext. Welche Wirkung hat dies?
Bouroullec: Wir versuchen, einen Kontrast zur Architektur zu provozieren. Unsere Entwürfe sind oft das Gegenteil von Architektur, die Teil der logischen und rechtwinkligen Welt ist. Deshalb reagieren viele Leute auch so emotional auf die Clouds. Auf eine gewisse Weise gehören die Clouds mehr zur Outdoor- als zur Indoor-Welt. Sie erzählen von der Natur und nicht von der Architektur. Deshalb können sie eine recht symbolische Rolle haben. Ich kann mir gut vorstellen, dass ein drei Jahre altes Kind die Bedeutung der Clouds sofort versteht, weil die Logik von Kindern eine imaginative Kraft hat. Wenn wir älter werden, gehen wir die Dinge viel stärker intellektuell an und versuchen ihrer Bedeutung auf den Grund zu gehen. Natürlich gibt es eine Bedeutung, aber viel wichtiger ist, dass die Clouds eine andere, sinnliche Erfahrung auslösen.

Die Idee der Clouds scheint simpel, basiert aber auf einem komplexen Konzept.
Bouroullec: Es ist eine Art „Hypereinfachheit", die Leichtigkeit mit Technologie kombiniert. Sogar ein Kind kann mit den Clouds umgehen, es kann keinen Fehler machen. Aber in meinen Augen meint Einfachheit auch, dass man das System nicht kontrollieren kann, weil es keine Möglichkeit zu rechten Winkeln gibt. Wenn es Quadrate und Rechtecke gäbe, würde jeder logisch kombinieren. Die Clouds schließen diese Art von Logik aus und enthalten Ansätze, die sich der Zukunft widmen. Sie schlagen eine neue Typologie vor, die bislang noch nicht existiert. Manchen Leuten mag dies so seltsam vorkommen, dass sie sich sogar fürchten. Viele Leute können mit der Philosophie, die wir vorschlagen, nicht umgehen.

Was die neue Typologie betrifft: Die Clouds sind weder ein Möbel, noch ein reines Akustik-Paneel, noch ausschließlich Dekoration. Wie definieren Sie sie?
Bouroullec: Sie helfen, den Raum so zu gestalten, wie man ihn braucht. Sie können den Raum teilen. Sie können einen bestimmten Raumteil oder eine Wand fokussieren, sie können ein Zeichen in einem Raum setzen, ihm eine Richtung, ein Vorne und Hinten geben. Das ist der eine Aspekt. Der andere Punkt ist, dass die Clouds Räume organisieren. Im Fall eines Wohnraums können sie verschiedene Bereiche voneinander trennen, und zwar rein psychologisch, ohne neue Wände zu bauen oder eine Wohnung umzubauen, was in den meisten Fällen gar nicht möglich ist. In anderen Fällen bedecken sie Wände und erlauben aufgrund ihres weichen Materials verschiedene körperliche Erfahrungen. Es ist wichtig, dass der Arbeits- und der Wohnbereich mit solchen Helfern menschlich werden.

Kommen wir kurz auf den urbanen Kontext zurück: Sich selbst wiederholende Strukturen können auch digital generiert werden. Die Frage ist also auch, wie solche Strukturen entwickelt werden.
Bouroullec: Für mich geht es in Projekten wie diesem darum, neue Wege zu erforschen, die andere Informationen in den Dschungel des Lebens bringen. In diesem Punkt sind die Clouds sogar fordernder als ein normaler urbaner Kontext.

Sie haben mit unterschiedlichen Materialien experimentiert, wenn es um den urbanen Kontext geht: mit Textilien, Kunststoffen etc. Mussten Sei jedes Mal bei Null anfangen?
Bouroullec: Viele unserer Experimente begannen mit Ausstellungen. Als wir mit Cappellini Regalmodule mit dem Namen „Clouds" für die Installation im MUDAM in Luxemburg entwickelt haben, arbeiteten wir mit Polystyrol. Dann haben wir mit den Algen für Vitra Erfolg gehabt. Wir kamen zum Kunststoff, weil wir unsere Entwürfe bezahlbarer machen wollten.

Trotzdem sind Textilfasern schon etwas ganz anderes als Kunststoff.
Bouroullec: Ja, aber es gibt nie nur eine Antwort, sondern immer viele verschiedene Vorschläge und Qualitäten. Wir haben jetzt Algen und Wolken, und wir werden unsere Arbeit auf diesem Feld fortsetzen. Die Wirkung hat viele Aspekte, auch einen psychologischen.

Viele Ihrer Arbeiten haben eine suggestive und imaginative Kraft. Ist das ein Aspekt, auf dem Sie bestehen?
Bouroullec: Definitiv. Die Algen und die Wolken helfen im Grunde nur, über das eigene Umfeld nachzudenken. Sie stellen ihrem Benutzer so viele Fragen! Zum Beispiel: Was tust du mit mir? Über diese Frage muss ernsthaft nachgedacht werden, man muss seine Bedürfnisse vorher definieren und sich dann vorstellen, wie man das Problem selbst lösen kann. Versuchen wir uns zu erinnern, als wir Kinder waren! Ich habe einmal während des Sommers als Lehrer für Kinder gearbeitet. Und eines unglaublichen Tages - die Kinder waren fünf Jahre alt - haben wir einen einfachen Drachen aus Plastiktüten gebastelt. Natürlich musste ich darauf achten, dass sie eine gewissen Symmetrie und die Abstände einhalten. Ich habe alles vorbereitet, und dann, nach eineinhalb Stunden, sind wir ins Freie gegangen. An diesem Tag war der Wind recht stark und die Kinder waren wirklich erstaunt, dass ihre Drachen fliegen konnten, auch wenn sie nicht die Schönsten waren. Durch den ganzen Prozess haben sie verstanden, dass sie es schaffen können. Die Nutzer der Clouds und der Algen können dieselbe Erfahrung machen. Sie müssen ihre eigene Entscheidung treffen, wie sie die Einzelteile kombinieren und wie sie sie benutzen wollen.

Neulich habe ich irgendwo gelesen, dass Ihre Ideen „slow-design" wären. Entspricht das Ihrer Haltung zum Hightech?
Bouroullec: Ich vertraue der Technologie nicht, meistens ist sie schlecht eingesetzt. Es gibt sehr oft Projekte, die auf Hightech setzen, aber keine neue Typologie, keinen neuen Gebrauch und keine neue Form vorschlagen. Ein langer Tisch aus Karbonfasern, zum Beispiel. Das interessiert mich überhaupt nicht. All dieses „dünner und leichter." Jedes Jahr wird alles leichter, das ist wirklich nicht interessant. Es gibt so viele unsinnige neue Technologien! Im Möbelbereich gibt es, wenn man Bilanz ziehen will, nicht so viele von ihnen. Wo sich wirklich etwas verbessert, ist im Bereich der Webe-Technologien, die wir für den Slow Chair für Vitra angewandt haben. Generell bin ich eigentlich recht glücklich mit dem Begriff „slow design", weil ich denke, die Funktion eines Möbels sollte dazu fähig sein, mindestens fünfzig Jahre durchzuhalten. Es ist wichtig, Möbel zu entwerfen, die so einfach konzipiert sind, dass sie sich verschiedenen Situationen anpassen können. Je mehr man sie spezialisiert, desto unnützer werden sie, weil sie nur für eine spezielle Situation geeignet sind. Doch Situationen und Umfelder können sich immer ändern.

Als Designer muss man die passenden Partner für neue Typologien finden, Partner, die den Mut haben, sie zu entwickeln und zu vermarkten.
Bouroullec: Deshalb bemühen wir uns sehr um die Ausstellungen und um die Dokumentation unserer Arbeit. Und wir haben das Glück mit Unternehmen zusammenarbeiten, die ein gewisses Bewusstsein für Innovation haben. Als wir die North Tiles für den Kvadrat-Showroom in Stockholm entwickelten, wussten wir nicht, dass ein industrielles Produkt aus diesem Experiment wird. Es gab einfach die Möglichkeit, etwas Neues zu entwickeln anstatt nur die Wände anzumalen - zum selben Preis. Wir versuchen immer, den richtigen Kontext für Experimente und für neue Vorschläge zu finden. Im industriellen Prozess selbst kann man sich diese Art der Entwicklung von Design kaum leisten.

Sie arbeiten seit über zehn Jahren mit ihrem Bruder zusammen. Aus der Distanz heraus kommt einem eine solche enge Zusammenarbeit seltsam vor.
Bouroullec: Es ist sehr seltsam.

Gibt es eine tägliche Routine? Haben Sie die Aufgaben verteilt?
Bouroullec: Unsere Zusammenarbeit ist sehr schön und sehr unschön zur selben Zeit. Wir beide lieben unsere Arbeit, und da wir Brüder sind, können wir uns richtig reinhängen. Gleichzeitig sind wir aber sehr stark voneinander abhängig. Wir sind nur zwei Brüder, wir haben keine anderen Geschwister. Die Entscheidung, dass wir unser Leben gemeinsam leben, ist seltsam. Aber ich bin mir nicht sicher, ob das einen so großen Unterschied macht, ob man mit jemandem anderen eng zusammenarbeitet. Man schafft sich immer eine sehr enge und bizarre Verbindung.

Ronan und Erwan Bouroullec