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Industriedesign im postindustriellen Zeitalter

von Stefan Diez | 08.09.2014

„Das Unbehagen im postindustriellen Design“ ist der Titel eines Beitrags, den Mario Carpo für den Katalog zur Ausstellung „Konstantin Grcic – Panorama“ im Vitra Design Museum beigesteuert hat. Der Text handelt von der Rolle des Industriedesigners im postindustriellen Zeitalter, eine Beziehung, die offensichtlich aus dem Tritt gekommen ist. Carpo beschreibt darin die gravierenden Veränderungen, die das Design und die Produktentwicklung gerade erleben und die meine Generation maßgeblich beeinflussen. Es sind die digitalen Werkzeuge, die im Zeitalter von postindustrieller Fertigung die Logik der industriellen Produktion auf den Kopf stellen und diese in vielen Bereichen bereits ablösen. Digitale Werkzeuge, das sind CAD-Programme, Rendering- und Illustrations-Programme, CNC-Maschinen, Laserschneider, Plotter, 3D-Drucker und natürlich Roboter. Für unsere Generation ist das Beherrschen dieser Werkzeuge längst eine zwingende Bedingung geworden.

Die Versprechen der digitalen Werkzeuge in Bezug auf zeitgemäße Produktentwicklung sind unwiderstehlich: Die Artikulation der Designer und Ingenieure wird präziser, für komplexe Produkte oder Vorhaben finden sich neue Wege, weil im digital-verknüpften Netzwerk unterschiedlichste Ressourcen standortunabhängig zusammenfließen. Die Entwicklung verläuft um ein zigfaches schneller als noch vor 15 Jahren und schlussendlich wird der gesamte Prozess durch die Verlagerung auf einer digitalen Ebene günstiger.

Neben den digitalen Werkzeugen im Allgemeinen spricht Carpo auch von den „digitalen Handwerkern“, damit meint er 3D Drucker, Roboter und CNC- Maschinen, die zum Herstellen eines Gegenstandes keine Form oder Matrize mehr brauchen und die jede Kopie, oder jede parametrisch veränderte Kopie mit dem immer gleichen Aufwand herstellen, ganz egal, wie hoch die Auflage ist. Sie sind maßgeblich für den Paradigmenwechsel bei der Produktion verantwortlich und stellen heute die Logik industriell hergestellter Produkte in Frage.

Wie immer, wenn sich Gefüge grundsätzlich verändern, finden sich Enthusiasten und Kritiker gleichermaßen: Die einen sehen eine Bedrohung ihres auf langer Erfahrung basierenden Wissens, die anderen eine Chance, endlich an der etablierten Generation vorbeizuziehen zu können. Zweifelsohne werden durch die Veränderungen geschätzte Qualitäten verschwinden, wie sie in den analogen Produktentwicklungsprozessen beispielsweise durch unumgängliche handwerkliche Zwischenschritte eingebaut waren. Ich denke hier an den Beitrag der Modelleure, Modell- und Formen-Bauer, die durch ihre spezielle Erfahrung und ihr Wissen um den Produktionsprozess wie ein automatisches Korrektiv beim Übersetzen von der zweiten in die dritte Dimension Fehler ausmerzten und Freiräume füllten. Bekannte Beispiele sind Giovanni Sacchi, der mit seiner Expertise im Modellbau Designer wie Marcello Nizzoli, Richard Sapper und Achille Castiglioni unterstützte, oder das Rosenthal Kreativ-Center in den 1980er Jahren, das mit Gestaltern wie Björn Wiinblad, Tapio Wirkkala, Jasper Morrison und Patricia Urquiola zusammenarbeitete und so zur Blüte der Porzellanherstellung in dieser Zeit beitrug.

Weil heute der Übersetzungsprozess hauptsächlich den Designern zufällt und weil viele Designer gar nicht mehr analog arbeiten, sondern direkt am Computer dreidimensionale Modelle erstellen, die ein „digitaler Handwerker“ unmittelbar umsetzen kann, löst sich das Herrschaftswissen der Produzenten zunehmend auf. Einiges spricht also dafür, dass die oben angedeuteten Veränderungen für unsere Generation zu den lange erwarteten neuen Freiräumen werden, verbunden mit der Hoffnung, diese durch zeittypische, neuartige Produkte auszufüllen.

Weniger Objekt, mehr Verfahren

Eine der spannendsten Neuerungen Ende der 90er Jahre war das „low-budget“ 3D-Programm „Rhinoceros“. Mit „Rhino“ konnte man nicht nur beliebig aufwändig geformte Flächen generieren, sondern diese auch in Polygonflächen umwandeln und als Schnittmuster für Papp-Modelle ausdrucken. Digitale Modelle und physische Prototypen gingen plötzlich ineinander über. Eine ziemlich faszinierende Erfahrung, die wir damals als Studenten machten. Zusammen mit Christophe de la Fontaine habe ich an polygonalen Körpern gearbeitet, die sich durch Faltung aus einer Fläche entwickeln lassen. Solche Experimente gehen mit Rhino spielend leicht, sind ohne Computer hingegen ein großer Aufwand. Je nach eingestellten Parametern konnte aus der Fläche ein Hocker, ein Sessel oder ein Tisch gefaltet werden. Bei diesem parametrischen Design ging es uns weniger um das Objekt an sich, sondern um das Verfahren, das die Regeln zur Herstellung eines Objektes definiert. Das Objekt entsteht erst mit dem Einstellen der Parameter und die Produktion durch einen “digitalen Handwerker”. Der Autor des Prozesses kann jetzt ein Teil der Kontrolle an den Kunden abgeben, der im gesteckten Rahmen sein Produkt individuell ausgestalten kann. Das sind sehr spannende, absolut neue Möglichkeiten. 2003 wurden auf der imm in Köln der gefaltete Sitz „Bent" in Kooperation mit Elmar Flötotto als Produzent vorgestellt, das Projekt ist aber trotzdem im Laufe desselben Jahres wieder eingestellt worden. Einerseits, weil es nicht in die traditionelle Vertriebsstruktur Flötottos passte – mit Herstellungskosten von circa 100 Euro pro Sessel und einem Ladenpreis von mindestens 400 Euro war der Sessel zu teuer. Andererseits haben wir damals keine Möglichkeit gesehen, den Kunden in den Gestaltungsprozess miteinzubeziehen, was ja der Hauptvorteil unserer Idee gewesen wäre. Erst viel später und ermöglicht durch einen Zufall, hat Tobias Rehberger eine spezielle, angepasste, Version von „Bent“ für einige seiner Installationen direkt von unserem Büro
produzieren lassen.

Die Frage der Autorenschaft

Produkte wie „Bent“ lassen sich zwar durch „digitale Handwerker“ herstellen, profitieren aber nicht vom Skalierungseffekt der industriellen Produktion (ein immer niedrigerer Preis bei steigender Auflage). Diese postindustriell hergestellten Produkte sind für den klassischen Vertrieb, der auf hohe Stückzahlen setzt, also vergleichsweise teuer. Ist der Kunde Co-Autor – wie Tobias Rehberger bei „Bent” – ist der klassische Vertrieb sowieso die völlig ungeeignete Schnittstelle zum Kunden. Parametrisch veränderbare Entwürfe, oder solche, die mit „digitalen Handwerkern“ hergestellt werden, müssten direkt an den Endverbraucher lizensiert werden, der sie dann, bei einem Betrieb vor Ort, zu vertretbaren Produktionskosten inklusive einer Lizenzgebühr herstellen lässt. Sobald das Nutzungsrecht losgelöst von einem physischen Produkt verkauft wird, dürfte die zuverlässige Bezahlung der Designer zwar noch zu einer echten Herausforderung werden, trotzdem bin ich davon überzeugt, dass sich früher oder später Online-Plattformen wie beispielsweise picwood.de durchsetzen, die dem Kunden die neuen Möglichkeiten anbieten und Teile des traditionellen Handels ablösen werden.

Ikone der Polygon-Ästhetik

Während ich als Student bei Konstantin Grcic gearbeitet habe, war eines seiner Projekte der „Chair One“, ein Schalensitz aus Aluminium-Druckguss für Magis. Bei unseren ersten Modellen, die aus Hasendraht und Pappmaché bestanden, konnten wir die komplexe Form nicht ausreichend kontrollieren, geschweige denn reproduzieren. Schließlich haben wir das Hasendraht-Modell mit Hilfe von „Rhino“ aus Polygonen aufgebaut und in Karton nachgebaut. Konstantin hat die Polygon-Ästhetik dieser Arbeitsmodelle dann eingefroren und quasi einen geplanten Zwischenschritt, eine Hilfskonstruktion, zum Produkt gemacht.
Aufgrund des großen Erfolges von „Chair One“ – und auch weil wir nicht die einzigen waren, die mit 3D-Programmen gearbeitet haben – hat sich die spezielle Ästhetik der Polygonstrukturen schnell verbreitet und in kurzer Zeit waren überall Objekte, konstruiert aus polygonalen Flächen, zu sehen. Der „Chair One“ ist die Ikone für die Ästhetik der frühen 2000er Jahre geworden und markiert den Aufbruch in eine neue Dimension von Gestaltung, die mit formaler Komplexität neu umgeht und sie beherrscht. Digitale Werkzeuge haben kurzzeitig, vor allem da wo sie noch nicht perfekt integriert waren, formal neuartige Spuren hinterlassen, die lediglich in der Architektur noch seltsam lang nachgeklungen haben, ansonsten aber schnell wieder verschwunden sind.

Dezentrale globalisierte Fertigung

Durch eine digitale Arbeitsweise überhaupt erst ermöglicht, ist eine globale und dezentrale Fertigung heute überall etabliert. Ironischerweise wurde sie gerade durch das Outsourcing von den traditionellen Herstellern vorangetrieben – und von jungen Marken aufgegriffen, die den alten jetzt zunehmend Probleme bereiten. Firmen wie das deutsche Label Sitzfeldt, das weder eine eigene Produktion noch einen klassischen Vertrieb hat und mit ausgelagerter, global organisierter Fertigung, Direktvertrieb und eigenen Showrooms arbeitet, können die Preise für ein junges Publikum erschwinglich halten.

Ein anderes Beispiel ist die dänische Marke Hay. Hier ist es völlig normal, Produkte von unterschiedlichen, auf dem Globus verteilten Herstellern produzieren zu lassen und auch global zu vertreiben – über Flagshipstores und online. Die Produkte von Hay sind oft günstiger als die der etablierten Marken, weil sie gerade nicht handwerklich oder mit den digitalen Herstellungsverfahren, sondern konventionell, in hohen Stückzahlen industriell hergestellt werden. Es ist der unternehmerische Mut, den Mette und Rolf Hay bei ihren Projekten jedes Mal neu aufbringen, der die Kunden überzeugt, genauso wie ein breites Portfolio, das eine ausgelagerte Produktion ermöglicht hat.

Viel zu viele neue Produkte

Designer sind durch digitale Werkzeuge schneller und produktiver geworden. Wir besetzen neue Freiräume und übernehmen nicht nur das Design, sondern kümmern uns auch um das „Engineering“, den Modellbau, die Bildsprache und manchmal auch um die Vermarktung neuer Produkte. Die Verleger hingegen verlassen zunehmend den industriellen Herstellungsprozess zugunsten eines handwerklichen oder digitalen. In erster Linie, um das finanzielle Risiko eines neuen Projektes zu minimieren. Aber auch, um den Medien in jeder Saison neue Ideen zeigen zu können. Sie ziehen sich damit nicht nur aus der Verantwortung gegenüber den Designern, die oftmals den größten Teil des Risikos einer Neuentwicklung übernehmen – es ist gang und gäbe, dass auf Messen die von Designern auf eigene Kosten hergestellte Prototypen stehen – sondern sie verpassen auch die Chancen, die sorgfältig entwickelte Industrieprodukte mit sich bringen wie Eigenständigkeit, Funktionssicherheit und ein niedriger Herstellungspreis bei hohen Stückzahlen.

Weil die Anzahl der abgesetzten Produkte pro Modell stetig zurückgehen, ist die gegenwärtige Situation für Designer, die auf Basis von Lizenzen am Netto-Umsatz beteiligt werden, ein finanzielles Desaster. Die reflexartige Reaktion, noch schneller noch mehr Produkte zu entwerfen führt zu Wassertrieben ohne Nachhaltigkeit. Längst ist bekannt, dass die überwiegende Anzahl der Neuvorstellungen über eine Existenz in den Medien und Blogs nicht hinauskommen und den analogen Markt nie erreichen.

Semantik des Samplings

Designer sind also teils notgedrungen unglaublich produktiv geworden, aber das trifft nicht in gleichem Maße auf die Kreativität zu. Die aktuelle Generation der Designer inspiriert sich seit langem bei den alten Meistern und legt bald jeden ehemals erfolgreichen Entwurf neu auf. Den Jungen ist das ein schlechtes Vorbild, sie kennen oft nur noch den Ansatz des Samplings. Sie arbeiten wie im digitalem Kollektiv nach dem „Open Source“-Prinzip. Inspiration und Produkt gehen fließend ineinander über und werden als immer kleinere Fragmente Bestandteil eines semantischen Repertoires unserer Zeit.

Die industrielle Produktion hat das Zusammenspiel unterschiedlichster intellektueller und handwerklicher Fähigkeiten sowie unternehmerischen Mut quasi erzwungen und gerade deshalb außerordentlich fortschrittliche Produkte hervorgebracht. Die postindustrielle Produktion steckt hingegen in einer Falle, weil es selten gelingt, genügend intellektuelle Masse und unternehmerisches Kapital auf ein Projekt zu versammeln. Wenn die produzierte Stückzahl unserer alltäglichen Produkte wieder Dimensionen annimmt, wie wir sie aus dem Handwerk kennen, dann landet das Design bald da, wo es vor der industriellen Revolution schon einmal war: beim Kunsthandwerk.

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Dank dem CAD-Programm „Rhino“ konnten Stefan Diez und Christophe de la Fontaine (im Bild) „Bent“ generieren… Foto © Stefan Diez Office
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… ein Stuhl aus Polygonflächen, der als Schnittmuster für Papp-Modelle ausgedruckt wurde. Foto © Stefan Diez Office
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Hay lässt rund auf dem Globus produzieren, die Produkte werden dadurch deutlich günstiger, sind vom Qualitäts- und Designanspruch her hochwertig. Foto © Stefan Diez Office
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Ein ausgesprochener „Online-Stuhl“: „Kitt“ von Stefan Diez für Hay, zerlegbar und dadurch leicht versendbar. Foto © Stefan Diez Office
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Der Beitrag von Modelleuren, die als automatisches Korrektiv fungieren, sei unabdingbar, so Diez. Foto © Stefan Diez Office
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Ohne Eigenentwicklungen kaum Wettbewerbsvorteile: Für „New Order“ für Hay hat Stefan Diez auf Beschläge der Zulieferindustrie verzichtet und Einzelteile selbst entwickelt. Foto © Stefan Diez Office
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Für das Objektgeschäft: „That“ von Stefan Diez für e15 aus der Reihe „This That Other“ – wurde weniger aufwendig hergestellt als der „Houdini“. Foto © Stefan Diez Office
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Bei „Houdini“ für e15 hat Stefan Diez auf handwerkliche Fertigung gesetzt – allerdings wäre „Houdini“ ohne digitale gesteuerte Werkzeuge wie CNC-Fräsen nicht umsetzbar. Foto © Stefan Diez Office