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Mobilität formt Metropolen
von Zimmermann Jörg | 25.05.2012

Die Experten sind sich weitgehend einig: In Zukunft werden rund siebzig Prozent der Weltbevölkerung in Megacities mit mehr als acht Millionen Einwohnern leben. Eine enorme Herausforderung für Politik und Gesellschaft, aber auch Unternehmen und Konzerne müssen sich mit den deutlich veränderten Lebensbedingungen auseinandersetzen. „Wir wollen diese Situation, diese Metropolen verstehen lernen, um die Mobilität der Zukunft aktiv mitzugestalten“, sagt Rupert Stadler, Vorstandsvorsitzender der Audi AG. Dazu hat das Unternehmen aus Ingolstadt die Audi Urban Future Initiative ins Leben gerufen und zum zweiten Mal in diesem Kontext einen internationalen Architektenpreis ausgeschrieben. Stylepark begleitet und kuratiert die Initiative, die in diesem Jahr sechs Architektur- und Stadtplanungsbüros aus Metropolregionen und Ballungsräumen eingeladen hat, über die Mobilitätsituation vor Ort nachzudenken und Visionen für zukünftige Mobilitätsszenarien zu entwerfen. Dabei könnten die Ausgangssituationen kaum gegensätzlicher sein.

53 Millionen Menschen leben in „BosWash“, dem Ballungsgebiet zwischen Boston und Washington D.C. im Nordosten der Vereinigten Staaten, rund ein Drittel des amerikanischen Bruttoinlandsproduktes wird dort erwirtschaftet. Eric Höweler und J. Meejin Yoon von Höweler + Yoon Architecture beschreiben in einer ersten Analyse der Region „eine kontinental dimensionierte Megalopolis mit Autobahnkonten, starker Zergliederung und einem dichten Infrastrukturnetzwerk“. Als verbindendes Element wird von ihnen der Interstate Highway I-95 identifiziert, der die einzelnen Stadtzentren bis heute verbindet. Mit den amerikanischen Highways war in der Vergangenheit immer auch ein Teil des „American Dream“ verknüpft. Straßen waren Symbole für persönliche Freiheit, das Bild des einsamen Autofahrers auf einem endlosen Highway ist immer noch allgegenwärtig, doch angesichts der aktuellen Verkehrsdichte längst obsolet. In der Luft sieht es nicht besser aus. Allein 611 Kurzstreckenflüge belasten den Ballungsraum pro Tag. Höweler und Yoon sehen mit dem Verschwinden der topografischen Grenzen der Städte auch einen kulturellen Wandel verbunden und wollen genau dort in den Veränderungsprozess eingreifen. Aus den Überbleibseln der Stadtgebilde und der alten Infrastruktur könne eine „flexible und mit Bedacht gestaltete Plattform werden, ein Ausgangspunkt für alternative Wege“. Eine „Infrastruktur 2.0“, deren Entwicklung einhergeht mit der Etablierung von „New American Dream(s)“.

Während es in BosWash durchaus Alternativen zum Auto als Verkehrsmittel gibt, ist in Istanbul eine Verkehrsinfrastruktur ohne Automobil nicht denkbar. Die beiden Stadthälften sind durch den Bosporus getrennt und in eine bergige Landschaft eingebettet. U-Bahnen scheiden damit wegen der Topografie als Verkehrsmittel aus. Trotz dieser eindeutigen Situation überrascht, dass der Straßenverkehr kaum reguliert oder durch öffentliche Angebote strukturiert ist. Statt durch die hierzulande bekannten Nahverkehrssysteme werden Istanbuls Straßen durch private Beförderungsinitiativen geprägt. Private Minibusse übernehmen einen quasi-öffentlichen Transport, bislang nur spontan, ohne feste Haltestellen oder gar einen offiziellen Fahrplan. Genau an diesem Punkt sieht das Architektenbüro Superpool den Ansatz für zukunftsfähige Konzepte. Per digitaler Vernetzung wollen sie „private public transportation“ eine neue Dimension geben. Die im Durchschnitt erstaunliche junge Bevölkerung – die Mehrheit ist zwischen 31 und 40 Jahren alt – mit einer hohen Affinität zu sozialen Netzwerken lässt den Ansatz folgerichtig erscheinen. Über Web-Plattform und Smartphone-Apps wollen Superpool die Problematik des öffentlichen Verkehrs angehen, und sehen sich gleich mit der unerwarteten Schwierigkeit konfrontiert, dass der Begriff „public“ im Türkisch nicht einfach zu übersetzen ist. Die 28 Sprachen, die in der Metropole gesprochen werden, erfordern schon hierbei eine besonnene Herangehensweise.

Für westliche Augen gänzlich ungewohnt und deshalb unübersichtlich ist die Situation in Mumbai. In der indischen Metropolregion leben rund 28.000 Menschen auf einem Quadratkilometer, siebenmal so viele wie in Berlin. Nicht so sehr die infrastrukturellen Räume verändern sich, in Mumbai gilt es primär, die funktionalen Räume zu betrachten, wie das Architektenteam CRIT bei der Präsentation der ersten Arbeitsergebnisse in Ingolstadt eindrucksvoll mit Bildern belegte. Mumbai ist eine Stadt der extremen Verdichtung, ein Konglomerat, das nicht mehr horizontal sondern nur noch vertikal wachsen kann. CRIT, die einen breiten interdisziplinären Ansatz verfolgen, sehen eine Konkurrenzsituation um Raum, die sich nicht mit typischen infrastrukturellen Maßnahmen verbessern lässt, sondern nur aus einem lokalen Management heraus bewältigt werden kann. Die Organisation des Miteinanders bestimmt den Erfolg, wenn fliegende Händler sich im Treppenhaus niederlassen oder Familien auf offener Straße leben und zugleich ihr Gewerbe betreiben. So stapeln sich Räume und Funktionen in der Vertikalen und formen durch das enge Miteinander gleichzeitig ein soziales Netz.

Der soziale Kontext spielt auch für das Architekturbüro NODE eine wichtige Rolle, wenn es um die Betrachtung der Infrastruktur im chinesischen Pearl River Delta geht. Bald werden achtzig Millionen Menschen in den Städten Honkong, Macau, Guangzhou sowie Shenzhen und Dongguan leben, davon rund achtzig Prozent Migranten, deren Anteil gerade in den letztgenannten Städten, beides Neugründungen, besonders hoch ist. Doreen Heng Liu, Gründerin von NODE, ist in der Region aufgewachsen und hat in verschiedenen Städten im Pearl River Delta gelebt. „Der rasante industrielle Wandel und die starken sozialen und räumlichen Veränderungen zwingen uns, neu und anders über Infrastruktur, aber auch über Identität nachzudenken.“ Auf Seiten der Infrastruktur dominiert das Auto, öffentlicher Raum für Fußgänger oder Fahrradfahrer ist nicht vorgesehen. Doreen Heng Liu: „Wir brauchen eine fundamentale Diskussion. Wenn soziale Strukturen versagen oder nicht vorhanden sind, wie soll dann die Wirtschaft nachhaltig wachsen?“

Statt von der Infrastruktur in die Stadt hinein oder die Stadt als soziales Gefüge zu denken, hat Junya Ishigami eine überraschende Perspektive auf Tokio geworfen. In seinen Betrachtungen skizziert er Tokio als Landschaft und setzt sich fast schon philosophisch mit den Begriffen Stadt und Umwelt auseinander. Die Stadt sei „keine künstliche Umwelt“, die Umwelt hingegen eine Überlagerung und Mischung von Natürlichem und Künstlichem. Deshalb seien Städte als „neue Umwelt“ zu betrachten. Was unweigerlich zu der Frage führt, „ob Tokio eine Stadt ist“. In seiner Analyse kommt Ishigami zum Ergebnis, dass Tokio keine klare Struktur und Planung habe, zumindest keine, die mit westlich geprägten Denkmustern übereinstimmt. Und findet schon mit einem einfachen Blick auf die Stadtkarte in Namen von Straßen und Plätzen Belege, dass Umgebung viel prägender ist als Gebäude und dass der Zwischenraum, das „in-between“, die spannende Größe in der Stadtplanung sein. In welche konkrete Richtung diese grundsätzlichen Gedanken den Wettbewerbsbeitrag tragen werden, ließ Junya Ishigami offen.

Von der Idee, Infrastruktur planen zu können, hat sich São Paulo längst verabschiedet. In den letzten 20 Jahren ist die Stadt um das 400-fache gewachsen. Sieben Millionen Fahrzeuge werden in der Metropole bewegt. Ein Drittel des täglichen Verkehrs sind Fußgänger, ein Drittel ist öffentlicher Verkehr, ein Drittel sind private Fahrzeuge. Alfredo Brillembourg von Urban-Think Tank sieht eine klare Trennung zwischen offizieller – sprich geplanter – Mobilität und einer Vielzahl von informellen Varianten. Gerade in den informellen Ausprägungen, die sich aus persönlichen oder örtlichen Bedürfnissen entwickeln, stecke Potential für die Entwicklung flexibler Mobilitätsysteme. Bei zukünftigen infrastrukturellen Planungen seien aber auch soziale Aspekte zu bedenken. Straßen oder andere Infrastruktur in bebaute Flächen hinein zu planen und zu realisieren, bedeute immer – gerade auch in den informell entstandenen Favelas –, dass „persönliches Investment der Bewohner zerstört“ werde.

Mit diesen Eingangsanalysen steht nun für die sechs beteiligten Büros die Konkretisierung ihrer Konzepte und Ideen an. Beim Audi Urban Future Award 2012 gelte es, „Mobilität als Treiber städtischer Entwicklung zu verstehen“, so Christian Gärtner, Vorstand von Stylepark. Die Ergebnisse der sechs beteiligten Büros werden im Oktober in Istanbul der Öffentlichkeit präsentiert. Der Gewinner-Entwurf soll dann die Grundlage für ein umfangreiches „City-Dossier“ liefern.

www.audi-urban-future-initiative.com

Heinrich Wefing, Foto © Audi
Christian Gärtner und Rupert Stadler, Foto © Audi
Boston/Washington (USA), Grafik © Höweler + Yoon Architecture
Ballungsgebiet BosWash, Foto © Höweler + Yoon Architecture
Istanbul (Türkei), Foto © Mete Yurdaün
Istanbul zwischen Tradition und neuen Lebensformen, Foto © Pinar Gediközer
Mumbai (Indien), Foto © CRIT
Mumbai mit überlasteter Infrastruktur, Foto © CRIT
São Paulo (Brasilien), Foto © Urban-Think Tank
São Paulo – bald mit weitläufigen Landschaften? Foto © Urban-Think Tank
Eric Höweler, Höweler + Yoon Architecture, Foto © Audi
Selva Gürdoğan, Superpool, Foto © Audi
Gregers Tang Thomsen, Superpool, Foto © Audi
Rupali Gupte, CRIT, Foto © Audi
Doreen Heng Liu, Node Architecture & Urbanism, Foto © Audi
Junya Ishigami, Junya Ishigami + Associates, Foto © Audi
Alfredo Brillembourg, Urban-Think Tank, Foto © Audi
Pearl River Delta (China), Foto © NODE Architecture & Urbanism
Tokio (Japan), Foto © Maris Mazulis
São Paulo und die Folgen schneller Urbanisierung, Foto © Urban-Think Tank