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Recht gestaltet
Eine Kolumne von Erlhoff Michael
17.11.2015

Gesetze, Verordnungen Vorschriften – wer eigentlich bestimmt, was wie gestaltet werden darf?

Unabdingbar muss man denen, die in der Jurisprudenz tätig sind, ein hohes Maß an Kreativität zugestehen. Denn sowohl die, die sich in der Legislative tummeln als auch diejenigen, die im Rahmen von Rechtsprechung sich artikulieren und gegebenenfalls sich bekämpfen, sind wortgewaltige Formalismen. Fast könnte man sie, auch wenn jene das meist nicht mögen, ganz im Sinn von Aristoteles als Meister der Poesie beschreiben.

Denn das Recht wird im Kontext von Grammatik und Wörterbuch geschrieben und erstritten. Was häufig eine fantastische Präzision der Wortwahl und deren Auslegung einfordert. Gewiss, gelegentlich im Zusammenhang von Geheimsprache oder der Öffentlichkeit potentiell verborgener Bedeutungsfelder. Allerdings ermöglicht solche poetische Kombinatorik auch denen, die nicht zum engen Zirkel gehören, gelegentlich im Rechtsstreit wörtlich ebenfalls Fantasie und damit Verwirrung zu artikulieren.

Was durchaus sehr viel mit Design und ebenso mit Architektur zu tun hat, die doch beide im Sinn des oben schon genannten Aristoteles zur Poesie gehören. Außerdem werden gerade diese – noch ein Argument für deren Unterschied zu den Freien Künsten – vielfach von jenen Gesetzgebern und anderen Juristen heftig attackiert.

So weit kann man etwas tun. Tragisch allerdings sind für Design und auch für Architektur die so mannigfaltigen und alles bestimmenwollenden Rechtsverordnungen, die unmittelbar in die Gestaltung eingreifen. Tatsächlich wird allgemein und merkwürdigerweise ebenso von den im Design und in Architektur Tätigen unterschätzt, dass wahrscheinlich die Mehrheit von Gestaltung durch Gesetze vollzogen oder von diesen zumindest so heftig konturiert wird, dass kaum noch Spielraum bleibt. Erschreckend dabei ist auch, wie wenig die Gestalterinnen und Gestalter dies öffentlich bekunden und sich darüber beschweren.

Ein aufdringliches Exempel, das selbst jene, die das Rauchen nicht schätzen, sofort verstehen werden: Die Verpackung von Zigaretten und auch von Zigarren wird mittlerweile prinzipiell deformiert durch jene riesigen Aufkleber oder Aufdrucke über die gesundheitliche Schädigung durch Rauchen. Man denke bloß an das so berühmte Design von Raymond Loewy für die Verpackung der „Lucky Strike“. Eine Ikone der Gestaltung, entstanden Anfang der Vierziger Jahre und über Jahrzehnte Ausdruck der Kraft einer Marke und ihres Designs. Doch heutzutage wird rücksichtslos jene große schwarz-weiße Schrift mitten auf dieses Design geknallt und die Gestaltung grundlegend zerstört (was womöglich das entsprechende Unternehmen, die BAT, dazu veranlasst hat, selber die Qualität jenes Design inzwischen zu missachten und eine jämmerliche Neugestaltung der Verpackung anzubieten). Das gleiche gilt für die Verpackung anderer Zigaretten (auffällig etwa bei „Camel“) und Zigarren (sogar bei der „Cohiba“). Nicht ganz so drastisch, aber doch auch erschütternd verändern die vielfältigen inzwischen geforderten Hinweise auf alle möglichen Ingredienzien von Lebensmitteln deren Verpackungen.

Zugegeben, solche Hinweise sind vielleicht nicht ganz irrelevant. Aber könnte man dann nicht wenigstens kluge Designerinnen und Designer daran setzen, neue, eben klügere Lösungen für solche Hinweise zu gestalten, die sich gegebenenfalls in die gesamte Gestaltung einschmiegen, so dass jene Bemerkungen durchaus auffällig, jedoch Teil des Designs der Verpackung sind?

Ein ganz anderes Beispiel: Eine nicht zu umgehende europäische Verordnung formuliert die klare Ansage, jeder Bürostuhl oder auch Schreibtisch-Sessel habe fünf Füße aufzuweisen. Vordergründig klingt das plausibel, denn mit lediglich vier Füßen kann man zwar sehr schön kippeln, aber bekanntlich ebenfalls sehr schnell umkippen. – So muss nun jedes Exemplar solcher Möbelstücke über fünf Füße verfügen. Welch Blödsinn. Könnte man doch das Umkippen auf sehr unterschiedliche Weisen vermeiden. Gar nicht so schwer, sich das auszudenken. Aber nein, es müssen mindestens fünf Füße sein.

Zweifellos könnten unzählige weitere Exempel angegeben werden und leidet die Gestaltung der Automobil-Industrie unter jener Gesetzgebung nicht minder als die technischer Geräte oder der Architektur. Umso drastischer, wenn dabei auch noch unterschiedliche Instanzen sich einmischen – und welche rechtliche Administration demonstriert nicht gerne ihre Macht oder auch Pförtner-Mentalität durch genau solche Verordnungen. Da mischen dann gerne unterhalb der EU nationale und regionale Gesetzgeber und deren Handlanger mit. So werden Beleuchtungen geregelt, Handgriffe fixiert, die Anordnung von Dächern vorgegebenen und so vieles mehr.

Nun könnte man aber auch versuchsweise jene Gesetzgebungen in Schutz nehmen mit dem Hinweis darauf, dass es doch bestimmter Regularien bedarf, um Gefahren zu verhindern oder zu mindern und Chaos nicht zuzulassen. Sonst würden die Unternehmen ebenso wie die Designerinnen und Designer ein Durcheinander produzieren und lediglich ihre Profite oder raubeinige Konzepte durchsetzen. Was durchaus legitim erscheint, da das sogenannte freie Spiel der Kräfte im Markt selten Freiräume oder gar Gerechtigkeit schafft.

Doch selbst dann, wenn man dies anerkennt, bleibt das Problem. Das bei genauerer Betrachtung ein dahinter liegendes strukturelles Problem offenbart. Die Legislative und dementsprechend auch alle die anderen, die in diesem Bereich der Gesetze und Verordnungen arbeiten, kennen nämlich allein quantitative Maßnahmen. Sie geben an, etwas habe mit fünf Füßen oder mit acht Löchern oder Trägern jener oder dieser Stärke ausgestattet zu sein – und etwas anderes sei in jener Größe und diesem Format zu artikulieren. Stets werden Zahlen angegeben, denen zu folgen sei. Als ob Quantität nicht bestreitbar oder wenigstens diskutierbar sei, vielmehr eherne Regeln festlege. Als ob Zahlen eindeutig festgelegt werden könnten.

Was jene Verordner offenkundig nicht kennen oder nicht können oder dem sie nicht vertrauen, ist die Reflexion von Qualität. So könnte man doch formulieren, dass Bürostühle unter den und den Bedingungen nicht umfallen dürfen. Oder man könnte beschreiben, dass Hinweise auf Verpackungen verständlich und ersichtlich sein müssen – sogar noch mit Zusätzen über die Bedingungen der Übersichtlichkeit und Verständlichkeit. Ohne jeden Zweifel würden solche Angaben eben nicht zu den derzeit massiven Eingriffen in die Gestaltung führen, hingegen die Gestalterinnen und Gestalter dazu animieren und beflügeln, solche qualitativen Angaben umzusetzen.

Nun mag sein, dass auch dann im Rahmen von Qualität interpretative Differenzen auftreten. Doch das geschieht im Rahmen der Quantitäten sowieso und ständig.

Somit ist die Forderung klar: Schafft endlich eine Dimension von etwas, was vielleicht nicht mehr Verordnung heißen sollte, aber im Rahmen der Idee, etwas zu setzen, nämlich Vorstellungen von Qualität, ebenso vernünftig wie plausibel ist.

Klingt einfach, scheint jedoch bei dem derzeitigen Zustand jener sich mit den Gesetzen befassenden Instanzen illusorisch.

Doch hier muss man den Stachel womöglich auch zurückwenden auf die Designerinnen und Designer und gegebenenfalls auch auf die Architekten. Denn an und für sich ist doch berüchtigt, dass die Menschen (zum Glück) dazu tendieren, jegliche Regel, wenn diese nervt, mit einiger Fantasie zu umgehen. Das kennt man aus dem Alltag und im alltäglichen Gebrauch. Alle Menschen finden Abkürzungen der vorgeschriebenen Gehwege in Parks und anderen Grünanlagen, ignorieren im Gebrauch etliche der offiziellen Verordnungen und nutzen alles um, fühlen sich doch häufig durch solche Verordnungen dümmlich und völlig überflüssig verordnet und in Regeln gepfercht und brechen aus, umgehend die, finden eigene Wege.

Doch im Design und in der Architektur? Braucht es nicht auch dort zumal als Ausweis von Kreativität oder von Intelligenz und Klugheit genau diese Fantasie, entspannt und offen und klug mit der Gesetzgebung umzugehen und diese zu korrigieren, zu verbessern, zu öffnen.

Eigentlich wäre doch eben dies substanziell für das Design. Und so lange die Gesetzgebung selber nicht begreift, endlich Qualitäten zu formulieren, sollten diejenigen, die dazu berufen sind, dies endlich wagen. Der Jurisprudenz zuliebe.


Michael Erlhoff

Er ist Autor, Design-Theoretiker, Unternehmensberater, Kurator und Organisator; einst CEO des Rat für Formgebung, Mitglied des Beirats der documenta 8 und Gründungsdekan (und dann bis 2013 Professor) der Köln International School of Design/KISD. Erlhoff war Gründer der Raymond Loewy Foundation, ist Gründungsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Designtheorie und -forschung und leitete als Gastdozent Projekte und Workshops an Universitäten in Tokio, Nagoya, Fukuoka, Hangzhou, Shanghai, Taipei, Hongkong, New York und Sydney.