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Seh-Stücke – multidial
von Jochen Stöckmann | 10.05.2011

Immer an der Wand lang. So kommt man im Wolfsburger Kunstmuseums dem Phänomen Gerwald Rockenschaub und seinem Wimmelbild „multidial" langsam näher. Denn wählen, immer wieder auswählen muss der auf Betrachtungsdistanz gehaltene Besucher unter 385 „Sujets", die der österreichische Künstler auf einer siebzig Meter langen, rechtwinklig abknickenden Wand in der 40 mal 40 Meter messenden großen Halle angebracht hat. Scheinbar ohne jede Beziehung untereinander leuchten da von der weiß grundierten Bilderwand beispielsweise stilisierte Leitern und Lautsprecher, ein Melonenschnitz oder ein weiblicher Rückenakt mit rotem Punkt statt dem von Man Ray bekanntem Violinschlüssel. Kunsthistorische Anspielungen mögen die einen erkennen, von archaischen Felsritzereien über die Anlehnung an gestisch-expressive Malerei bis hin zu konstruktivistischen Forme(l)n, kalkulierten Abstraktionen. Symbolträchtige Anspielungen auf ideologische Richtungskämpfe zwischen Kreuz und Quadrat, gar religiöse Motive könnten andere vermuten. Aber für Rockenschaub, der in den Achtzigern „Neo-Geo" als kalt lächelnde Antwort auf die Überhitzungen der Neuen Wilden mit erfand, handelt es sich weder um anbetungswürdige Ikonen noch um alltagspraktische „Icons", sondern eben um schlichte „Signets", also um Imprints oder Drucker- und Firmenzeichen.

Exakt im untersten Winkel, als Angelpunkt der ganzen Konstruktion steht die in sich gespiegelte Buchstabenkombination „GR", Frankreichreisenden vertraut als Abkürzung für die „Chemins" und „Sentiers de Grandes Randonnées": das sind Wege – und Schleichpfade – für ausgedehnte Wanderungen. Etwas in dieser Art dürfte Rockenschaub, dem Monsignateur, diesmal vorgeschwebt haben. Denn dafür, dass der Zeichen-Künstler in listiger Bescheidenheit allein das „Anbieten visueller Reize" oder schlichten „Augen-Sex" als sein Metier angibt, war der Aufwand denn doch zu groß: Monatelang hat der Multimediafex und im Samplen erprobte DJ am Computer mit einem 3-D-Modell von Museumshalle und Künstlerwand die Komposition erprobt, Signets arrangiert und eine lange, harte Bank in Stellung gebracht. Selbst das praktische Sitzmöbel darf als Zeichen gelten, als Verweis auf die Bank in Mies van der Rohes Barcelona-Pavillon. Schaute man dort durch das Glas eines Panoramafensters auf die Außenwelt, so öffnet Rockenschaub wie mit einem überdimensionalen Touchscreen den Blick in ein Paralleluniversum.

In dieser Sicht verwandelt sich die Wolfsburger Bilderwand in eine bunte Landschaft, über die ein semiologischer Tsunami, eine gigantische Werbeschlacht, ein „sign war" hinweggefegt ist. Das wäre die konsequente Weiterentwicklung einer Imagination des bitterbös-satirischen Romanciers Jonathan Swift, der im 18. Jahrhundert seinen Gulliver auf Reisen in eine Akademie führt, wo Wissenschaftler die Objekte ihrer jeweiligen Unterhaltungen zur Hand nehmen, dem Kontrahenten vorweisen, um „ganz konkret" zu disputieren – aber ohne Sinn und Verstand. Aber derartige Kopfgeburten sind Rockenschaubs Sache nicht, ihm geht es am Ende um das Raumerlebnis. So hat er in der großen Halle des Kunstmuseums erstmals die Obergadenfenster öffnen lassen, dem White Cube etwas mehr Licht verschafft. Zuvor war an gleicher Stelle eine dunkle „platonische Höhle" für die Videoarbeiten von Douglas Gordon eingerichtet. Monate später schauten hier die Besucher von James Turrells Lichtinstallation gegen eine gleißend helle Wand, hinter der sich ein scheinbar unendlicher Raum auftat – als Ausdruck „erfüllter Leere", wie Museumsdirektor Markus Brüderlin betont.

Das Kontrastprogramm bietet nun Rockenschaubs lärmende Signet-Parade: eine „erfüllte Leere". Die wiederum ordnet Brüderlin der „Multioptionsgesellschaft" der neunziger Jahre zu, dem „multidial" ganz verschiedener, „flexibler" Lebensentwürfe. Abseits dieser kulturellen Konnotationen aber wirken die siebzig laufenden Meter Bilderwand vor allem als Vexier-Installation, mit der bei längerem Hinschauen das Verhältnis von Bild und Umfeld kippt, die Grenze zwischen Projektions- und realem Raum sich fortwährend verschiebt. Wenn auch viele Signets aussehen wie Platzhalter für Designobjekte, so folgt ihre Anordnung weder der praktischen Ordnung in einer Wohnung noch der wohlüberlegten Reihung in Museumsdepots oder Archivregalen. Stattdessen überlagern sich in Rockenschaubs Komposition vibrierend die Spannungsfelder von Farbverläufen und Formkorrespondenzen.

Auf dieses Phänomen wird der Besucher spätestens beim Gang hinter die Kulisse, mit Eintritt in drei kleinere Kabinette gestoßen. Dort hat Rockenschaub den sonst frei flottierenden Zeichen ein Zuhause gegeben, dort können drei Einzelfälle isoliert unter die Lupe genommen werden: eine grüne Bank, die – querstehend – den ganzen Raum zugleich blockiert und paradoxerweise dadurch überhaupt erst ins Bewusstsein bringt. Ein goldener Puck auf lilafarbener Wandfläche, der die kreisförmigen Einkerbungen auf den Sichtbetonelementen der minimalistischen Architektur Tadao Andos aufnimmt und als rhythmische Gliederung, nahezu liturgische Ordnung kenntlich macht. Und schließlich drei schlichte rote Punkte – die aber jeden in ihren Bann ziehen. Denn sie sind nicht gemalt, sondern werden von einem Beamer projiziert, beginnen zu vibrieren und erzeugen ein visuelles Kraftfeld. Genau das sind die Seh-Stücke des 21. Jahrhunderts.

Gerwald Rockenschaub. Multidial
Vom 16. April bis zum 4. September 2011
Kunstmuseum Wolfsburg
www.kunstmuseum-wolfsburg.de

Courtesy Galerie Mehdi Chouakri, Berlin, Foto: Jan Windszus, Berlin
Aus der Ausstellung "multidial" von Gerwald Rockenschaub, "Ohne Titel", 2007 | Flash-Animation | Loop | Courtesy Georg Kargl Fine Arts, Wien
rich/Galerie Thaddaeus Ropac, Paris, Salzburg
Werk von Gerwald Rockenschaub aus der Ausstellung "multidial" im Kunstmuseum Wolfsburg, "Ohne Titel" 2009, Courtesy Galerie Mehdi Chouakri, Berlin
Aus der Ausstellung "multidial" von Gerwald Rockenschaub, "Ohne Titel", 2009, Courtesy Galerie Mehdi Chouakri, Berlin
Ropac, Paris, Salzburg
Gerwald Rockenschaub | Foto: Jan Windszus, Berlin