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Im Musée des Arts Décoratifs in Paris kann man die „Inspirationen“ in Beschau nehmen, die den belgischen Modeschöpfer Dries Van Noten umtreiben: Abendkleid von Jeanne Lanvin (Herbst/Winter-Kollektion 1935/26), Prêt-à-porter von Balenciaga (Herbst/Winter 1952/53), daneben Stücke von Dries Van Noten (Frühjahr/Sommer 2009 – Bilderfolge von links nach rechts). Foto © Luc Boegly
Couture trifft Collage
von Silke Bücker
02.05.2014

Wie beschreibt man einen Mann, dessen Modeschöpfungen derart komplex sind, dass sie ganze Bücher füllen? Inspirierend, unerwartet und voller Poesie ist das Werk von Dries Van Noten, das der Antwerpener Mode-Designer innerhalb von fast 30 Jahren vorgelegt hat. Und das jetzt zusammengetragen und dokumentiert wird in einer Ausstellung im Musée des Arts Décoratifs in Paris, im Nordflügel des Louvre, noch bis zum 31. August dieses Jahres. Der Titel allein ist maßgebend: „Inspirations“. Van Notens tiefes und leidenschaftliches Interesse an Künstlern wie Damien Hirst, Francis Bacon, Anthonis van Dyck, Agnolo Bronzino, Gerhard Richter, Pablo Picasso oder anderen Modeschöpfern wie Elsa Schiaparelli, Yves Saint Laurent oder Cristóbal Balenciaga kommt in der Ausstellung zur Geltung, in der zahlreiche Exponate in Dialog mit seinen eigenen Kreationen treten. Daneben sind es augenscheinlich die Stoffe, die er mit Akribie aussucht, entwickelt und die das Fundament für den Dries Van Noten-Stil legen. Der Belgier gilt als Meister darin, unvereinbar scheinende Muster, Materialien, Details oder Farben zu einer eigenwilligen Einheit zusammenzufügen, die zeigt, dass Mode durchaus angewandte Kunst sein kann. Trotzdem ist Mode von Dries Van Noten keineswegs untragbar, sondern für das Leben und die Straße gemacht.

Eine extreme Betonung des Gegensätzlichen

Kein anderer mischt Stile so wie Dries Van Noten: Neben der Kunst bedient er sich der Musik oder gesellschaftlichen ebenso wie ethnischen Themen. Er liebt das Spiel mit Gegensätzen: Er entführt uns mit seiner Mode nach Indien, einer Gesellschaft zwischen Reichtum, trashiger Bollywood-Kultur und frappierender Armut, er paart profane Rave-Elemente mit der feingeistigen Opulenz der Renaissance oder er entwirft unterschiedlichste Drucke und setzt sie zu einer Collage zusammen. Stets dabei: seine ausgeprägte Vorliebe für üppige Stoffe wie Samt, Brokat oder Jacquard sowie aufwendige Stickereien und Applikationen. Diese Einflüsse kombiniert er souverän mit einer meist androgynen Silhouette, inspiriert von klassischer Herrenmode, Sportswear und Uniformen. Durch diese extreme Betonung des Gegensätzlichen ist seine Mode spannungsgeladen und überraschend: Wenn ein strenges graues Wollkleid mit filigranen Federn verziert wird, wenn die “schwere Kost“ großer Maler ein sportliches Tank Top schmückt oder ein simples Jersey-Sweatshirt mit aufgestickter Couture-Blume daher kommt, weiß man, das muss ein Van Noten sein. Nicht immer gelingt diese Gratwanderung, mitunter wirkt sie befremdlich, polarisiert, macht Dries van Noten-Stücke aber umso einzigartiger. Derart losgelöst vom Zeitgeist werden seine Kreationen oft zu lebenslangen Begleitern in der Garderobe seiner treuen Kundschaft. Wer sich einmal in diese kunstvolle, reiche Sprache verliebt, wird ihr immer wieder aufs Neue verfallen.

Um nur ein Beispiel zu nennen, nehmen wir die Sommerkollektion des vergangenen Jahres, für die der vielleicht aktuell größte Anarchist der Modebranche den Stil der Grunge-Bewegung der 1990er Jahre wiederbelebte. Van Noten inszenierte den betont heruntergekommenen Kleidungs-Stil, für den der Sänger und Anti-Held Kurt Cobain samt seiner Liebsten Courtney Love wie kein anderer steht, romantisch: Er kombinierte ein Karohemd zum mit Blüten bestickten wadenlangen Rock, setzte wie Alufolie wirkende Seide in einen Dialog zu transparentem Organza und setzte dicke Silberketten, die an Fahrradschlösser erinnerten, auf einen eleganten Smoking-Blazer. Wie ein roter Faden zieht sich dabei das Karomuster durch die Kollektion, das Van Noten sämtlicher damit verbundener Klischees entledigt. „Come as you are“ als Stil-Rezept, das in der Folge von anderen Designern und günstigeren Modeketten aufgegriffen wurde und bis heute auf das modische Straßenbild weltweit wirkt.

Regeln der Modebranche noch nie gefolgt

In einer Zeit, in der Designer längst nicht mehr bloß Kreative sind, vielmehr auch kühne Geschäftsmänner und clevere Strategen, aber vor allem Akkordarbeiter sein müssen, gibt sich Dries van Noten besonnen, entspannt und lobt die Langsamkeit. Obwohl die ästhetische Sprache anderer Kulturen den Grundstein für fast alle seine Kollektionen legt, zieht er es vor, sich von Büchern inspirieren zu lassen, nicht etwa, wie man mutmaßen könnte, von Reisen in das jeweilige Land. „Mich mit der Kunst von Anish Kapoor zu befassen, finde ich viel spannender, als nach Indien zu fliegen“, erklärt er im Gespräch in Paris, bei dem er persönlich durch die Ausstellung führt – und positioniert sich damit bewusst entgegen den Gepflogenheiten mancher Kollegen, für die “Inspirationsreisen“ täglich Brot sind.

Dries van Noten ist den Regeln und Statuten seiner Branche noch nie gefolgt. Sein Großvater und Vater waren im Modehandel tätig, sein Vater führte mehrere Boutiquen in Belgien und wünschte sich naturgemäß einen Nachfolger. In seiner Jugend verbrachte Dries viele Stunden in den elterlichen Geschäften, erfuhr also schon sehr früh, welche Gaben es braucht, um Menschen für Mode zu begeistern. Doch irgendwann emanzipierte er sich vom vorgefertigten Pfad und ging seinen eigenen Weg: „Es war 1970. Ich habe gerade David Bowie entdeckt. Und um ehrlich zu sein, faszinierte mich das mehr.“

Dabei interessierte ihn Bowies Musik, aber ebenso sein schillernder Kleidungsstil, so wie auch jener anderer Ikonen dieser Ära, etwa den Sex Pistols oder Jimi Hendrix. „Hendrix ist eines meiner Stilvorbilder schlechthin. Er ist der Beweis dafür, dass Männer sehr wohl Blumen tragen dürfen“, sagt der Designer, der selbst wider jeder Exzentrik gepflegte, dunkle Anzüge bevorzugt.

Nach dem Abschluss seines Studiums am Antwerpener Royal Collage of Fine Arts entschlossen er und fünf ehemalige Kommilitonen sich zu einer selbstbewussten Guerilla-Aktion. Ihnen wurde es zu eng im künstlerisch geprägten, aber auch eben sehr beschaulichen Antwerpen. Zu sehr drängte es in ihnen, zu stark schienen ihre unterschiedlich gearteten Botschaften, an denen die Welt teilhaben sollte, ja musste! Mit einem Bus machten sich Dirk Bikkembergs, Walter van Beirendonck, Dirk van Saene, Ann Demeulemeester, Marina Yee und Dries van Noten 1986 nach London auf und erschütterten im positiven Sinne die Modewelt. Belgien avancierte fortan zu einer wegweisenden Instanz auf der modischen Landkarte. Die legendären „Antwerp Six“ ebneten vielen anderen Designern den Weg, allen voran Raf Simons, Bruno Pieters und Haider Ackermann.

Paillettenbestickte Kleider aus Pakistan

Dies war eine Art modisches Manifest, ein Befreiungsschlag, der heute so nicht mehr möglich wäre – den Dries van Noten aber auch längst nicht mehr nötig hat, hält er doch als einer der wenigen Modeschöpfer noch immer die unternehmerische Leitung seines Labels in den eigenen Händen – kein großer Konzern oder Sponsor im Hintergrund, der Verbindlichkeiten einfordert. Ganz offenkundig ein Privileg für ihn: „Das heutige System mit seinen Kapsel- und Zwischenkollektionen zwingt Designer dazu, sehr schnell zu arbeiten. Das sieht man ihren Entwürfen sehr häufig an. Die Möglichkeit, einzigartige Dinge zu kreieren, geht oft verloren. Auf meine Weise zu produzieren, kostet viel Zeit. Ich versuche, meinem eigenen Rhythmus zu folgen und nur das zu tun, was ich liebe, zum Beispiel Stoffe oder Stickereien entwerfen.“

Letztere lässt er in Pakistan von Hand anfertigen, natürlich unter fairen Bedingungen und ohne Hast. Da macht es auch nichts, dass das Dorf, in dem Teile der Kollektionen entstehen, nur durch eine mehrtägige Reise per Esel erreichbar ist. „Die Leute vergessen oft, dass jede Paillette, jedes Schmuckelement auf Kleidungsstücken per Hand angebracht werden muss und wundern sich über den hohen Preis. Auch günstige High-Street-Brands müssen so verfahren. Man muss sich fragen, wie das sein kann“, mahnt der Designer im Pariser Louvre und so führt er zu fast jedem Exponat, darunter viele Originale aus der Kunstgeschichte, die aus dem Archiv des im Musée des Arts Décoratifs stammen, und zu jedem weiß er eine kleine Geschichte zu erzählen.

Er ist nicht nur ein einzigartiger Designer, erfolgreicher Geschäftsmann, sondern auch ein charmanter und kultivierter Zeitgenosse. Und noch ist sie immer noch nicht ganz geklärt, die Frage: Wie beschreibt man diesen Mann, dessen modisches Werk so vielfältig ist – und sich obendrein nach einer persönlichen Führung durch die Ausstellung als sehr charmant erweist?

Lassen wir eine gute alte Freundin von Van Noten und bekennende Sammlerin seiner Kreationen, die Mode-Trend-Forscherin Jos Berry, zu Wort kommen: „Ich bewundere Dries‘ Mode, weil ich durch sie die Schönheit und das modische Können einer Vielzahl von Kulturen tragen kann. Seine Kleider geben mir die Freiheit, meinen eigenen Stil zu entfalten. Ich mag seine Kleidung, weil seine Designs zeitlos sind, mit klassischen Schnitten, die sich zwischen männlichen und weiblichen Bildern bewegen – und damit sehr zeitgenössisch sind.” Kurzum: Dries van Notens Kleider sind nicht bloß Kleider. Man kann sie lesen wie ein Buch, ihre Faszination ist von Dauer, denn sie offenbaren immer wieder neue Facetten. Und oft ist es so, dass man erst lange nach der ersten Begegnung versteht, was sie uns eigentlich erzählen möchten.

Dries Van Noten – Inspirations
Musée des Arts Décoratifs, Paris
1. März bis 31. August 2014
www.lesartsdecoratifs.fr

Katalog zur Ausstellung:
Dries Van Noten
Herausgegeben von Pamela Golbin, Kaat Debo und Joseph Logan
Lanoo Books, 2014, Tielt/Belgien
320 Seiten, Englisch
www.lannoo.be


www.driesvannoten.be


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„Come as you are“ als Stil-Rezept. Foto © Dries Van Noten
Typisch Dries: Reiche Stoffe gepaart mit einer androgynen Silhouette – aus der Herbst/Winter-Kollektion 2013/14. Foto © Dries Van Noten
Welche Inspirationen liegen diesen Kreationen aus der Herbst/Winter-Kollektion 2014 wohl zugrunde? Foto © Dries Van Noten
Renaissance of Grunge - mit der Sommerkollektion 2013. Foto © Dries Van Noten
Dries Van Noten, Meister der Gegensätze: Im Sommer 2014. Foto © Dries Van Noten
Dries Van Noten. Foto © Dries Van Noten
Der manierierte Herr: Stücke aus diversen Kollektion von Dries Van Noten aus den Jahren 2000 bis 2010. Foto © Luc Boegly
Kleider und Kloster: Beide Stücke sind von Cristóbal Balenciaga, den Dries Van Noten als Vorbild nennt. Foto © Luc Boegly
Lasst die Blumen blühen: Abendkleid von Thierry Mugler (Herbst/Winter 1987/1988), Dries Van Noten (Herbst/Winter 2005/2006), Bild “Untitled” von Christopher Wool, 1993, Wandgemälde von Makato Azuma. Foto © Luc Boegly