Es soll 2009 im schönen Venedig gewesen sein, auf der Kunstbiennale, als die Idee zu „Strelka Institutes" entstand. Da trafen sich fünf nicht mehr ganz junge, dafür aber nicht mehr ganz arme Männer beim Mittagessen. Allesamt Russen. Auch wenn sie aus ganz unterschiedlichen Branchen kamen, so verband sie doch eine gemeinsame Sorge: Die Sorge um den Zustand Moskaus - und den anderer russischen Metropolen -, um die architektonische Qualität und den Umgang mit dem öffentlichen Raum. Ihr Lamento war einhellig: „Wir wollten nicht länger tatenlos zusehen, wie unsere Städte zu modernen Dystopien verkommen. Während unsere Haltung zum städtischen Raum von Tag zu Tag zynischer wird. Schulen, so dachten wir, sind der Ort, wo Veränderungen stattfinden", so der Präsident der Strelka Institute, Ilya Oskolkov-Tsentsiper, 43, Gründer des Verlagshauses „Afisha" und Herausgeber zahlreicher Publikationen. „Um das Ausbildungsprogramm zu entwickeln, luden wir Rem Koolhaas und das OMA ein. Für uns war Koolhaas der einzige Architekt, der in Frage kam. Mit seinem analytischen Ansatz und seinem besonderen Interesse für Russland war er die Idealbesetzung für die inhaltliche Entwicklung von Strelka." Keine vierzehn Monate später wurden die Strelka Institutes - „Strelka" bedeutet im Russischen „Der Pfeil" - in Moskau eröffnet.
Der Pfeil traf ins Schwarze
Besser hätten die Gründer den Ort für ihr Institut nicht wählen können. Denn es liegt nicht nur mitten im Zentrum Moskaus, es trifft auch ins Zentrum der Themen, die mittels der „Idee Strelka" bearbeitet werden sollen. Rem Koolhaas stellte seinen provisorischen Neubau auf die Insel des Flusses „Moskwa", zwischen alter Tretjakov Galerie im Süden und dem Neubau der Christ-Erlöser-Kathedrale im Norden, zwischen dem so legendären wie berüchtigten „Haus an der Moskwa" im Osten und der historischen Schokoladenfabrik „Roter Oktober" im Westen. Und alles in Sichtweite des Kremls.
Was ist gestalterische Qualität und wie geht man mit dem architektonischen Erbe der Stadt um? Das sind einige der Themen, die in den Strelka Instituten erarbeitet werden sollen. „Unsere Theorie ist es, dass die Architektur sich in den letzten dreißig Jahren stärker verändert hat als in den letzten dreitausend Jahren", sagte Rem Koolhaas bei der Eröffnungsveranstaltung und ergänzte auch gleich die Ursache für diese Entwicklung: „Die Ökonomie des Marktes hat die Rolle der Architekten grundlegend geändert. Wir arbeiten nicht länger für den öffentlichen Sektor und unsere Arbeit ist nicht länger der Ausdruck von Werten einer Gesellschaft. Wir arbeiten nun für die Privatwirtschaft."
Investorenarchitektur
Wie die Kombination aus schlechtem Geschmack, Korruption und Vetternwirtschaft das Gesicht einer Stadt zerstören kann, das hat die Ära des Moskauer Bürgermeisters Juri Luschkow anschaulich gezeigt. Achtzehn Jahre lang war Moskau ein Eldorado für Spekulanten und Investoren. Und für seine Ehefrau Jelena Barturina, die in dieser Zeit als Bauunternehmerin zur reichsten Frau Russlands wurde. Hunderte historischer Gebäude, ja ganze Stadtviertel wurden dem Erdboden gleichgemacht. Mittelmäßige Architekten bauten für skrupellose Bauherren und Investoren minderwertige Wohnhäuser oder schaurige Bürogebäude, verziert mit postmodernen Kuppeln, absurden Bögen und billigen Granitfassaden. Längst sprach man zynisch vom „Luschkow-Stil."
Unfreiwilliges Mahnmal
Bahnhofsvorplätze, früher wichtige Orte im öffentlichen Raum, wurden kurzerhand mit Shopping-Malls zugepflastert, mit Gebäuden, die nicht einmal die „architektonische Qualität" deutscher Baumärkte besitzen. Und am Horizont entsteht ein düsterer Klops, die Skyline von „Moskau-City", dem zukünftigen Handelszentrum. Als wäre das alles noch nicht genug, „garnierte" Luschkow die Stadt obendrein mit einigen Monumentalskulpturen seines georgischen Freundes und Bildhauers Zurab Tsereteli. Ironie der Geschichte: Das Standbild für „Peter den Großen", ein Objekt, das in seiner Monumentalität und Hässlichkeit unschlagbar ist, steht jetzt in Sichtweite von „Strelka". Fast erscheint es wie ein Mahnmal gegen Vetternwirtschaft und schlechten Geschmack!
Strelkas Mission
An großen Architekten und hervorragender Stadtplanung hat es in Russland nie gemangelt. Denken wir nur an Konstantin Melnikow, Alexej W. Schtschussew oder an Iwan A. Fomin, um nur einige wenige zu nennen. Auch gibt es in Moskau genügend Hochschulen, an denen hervorragende Architektur gelehrt wird. Aber wie Rem Koolhaas richtig analysiert: Das Problem sind nicht die Architekten. Das Problem ist die Ignoranz der Investoren und des entfesselten freien Marktes. Genau hier möchten die Strelka Institute ansetzen. Sie selbst verstehen sich eher als Thinktank denn als eine weitere Architektur- oder Designakademie. Folgerichtig steht am Ende des Studiums auch kein akademischer Abschluss. Forschung, Diskussion, Erkenntnisgewinn, Diskurs auf hohem Niveau und Ausarbeitung von Ideen und Konzepten stehen im Zentrum der Ausbildung, die sich ausschließlich an Postgraduates richtet. „Die Mission von Strelka ist in zwei Weisen radikal anders", so Koolhaas. „Erstens konzentrieren wir uns zunächst auf die Erforschung unserer fünf Schwerpunkte: Design, Energie, Erhaltung, öffentlicher Raum und „Verdünnung" der Strukturen. Und zweitens: Erst wenn wir die richtigen Erkenntnisse und das Wissen erworben haben, können wir vielleicht zu einem besseren Verständnis von Architektur beitragen. In jedem Fall wollen wir das gewonnene Wissen in einer Weise kommunizieren, wie es klassische Architekturschulen fast nie machen."
Strelka soll aber auch ein sozialer Ort sein. Auch dafür ist der Standort ideal. Die Schokoladenfabrik „Roter Oktober", ein rotes Backsteingebäude von beachtlichen Dimensionen aus der Gründerzeit, hat sich zum angesagtesten Ort in Moskau gemausert. Allein die Finanzkrise rettete die Fabrik davor, lukrativen Luxusappartements zum Opfer zu fallen. Jetzt gibt es hier Restaurants, Galerien, Läden, Künstlerateliers und Bars. Jetzt tanzt hier der Bär! Überhaupt ist die Geschwindigkeit der Entwicklung in Moskau atemberaubend. Moskau ist augenblicklich sicher eine der vitalsten europäischen Metropolen. Hier gibt es Initiative und eine ganze Generation von jungen, gut ausgebildeten Menschen. Sie sind weltoffen, sprechen fließend Englisch, sind hungrig auf Neues. Und das Wichtigste: Sie wollen etwas erreichen. Überdies gibt es einen Nachholbedarf an Kultur - und an Subkultur. Und es gibt in Moskau sehr viel Geld.
Das Engagement der Oligarchen
Es wird der Realisierung der „Strelka Institutes" sicher nicht geschadet haben, dass der Oligarch Alexander Mamut zu einem der fünf Gründer gehört. Mamut, bei Forbes unter den reichsten Männern der Welt gelistet, war jahrelang die „Privatbank" um Boris Jelzin. Das werden auch die Studenten goutieren. Denn das Studium ist frei von jeglichen Gebühren. Ein Oligarch als Designmäzen? Oligarchen - waren das nicht diese finsteren, russische Milliardäre, die mit kriminellen Mitteln in den neunziger Jahren die Kontrolle über die wichtigsten Wirtschaftszweige erlangten, um dann von Präsident Putin in ihre Schranken verwiesen (oder nach England expediert, oder gleich nach Sibirien geschickt) zu werden? Diejenigen also, mit den riesige Villen, ganzen Fußballclubs, und einer Sammlung von Autos oder Luxusyachten? Aber hört, hört! Russland entwickelt sich! Es ist gar nicht lange her, als „die Neue" von Roman Abramowitsch, die bildhübsche 27 Jahre alte Dasha Zhukowa, mit dem Projekt „Garage" eines der wichtigsten Zentren zeitgenössischer Kunst in Moskau schuf. Dazu sanierte man kurzerhand eine der bedeutenden Busgaragen des berühmten Architekten Konstantin Melnikow, einen konstruktivistischen Bau aus dem Jahr 1926. Seitdem pulsiert rund um die Non-Profit-Galerie das Leben. „Eigentum verpflichtet" - langsam scheint diese Erkenntnis auch in Russland anzukommen. Hundert Jahre nach Pawel M. Tretjakow.