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Fenster auf! Arm raus!
von Nora Sobich | 12.09.2011

Es ist ein amerikanisches Ritual. Wer durch die Vereinigten Staaten fährt, sieht es überall: in der Stadt, auf dem Land und natürlich beim Drive-in-Schalter. Lässig liegen die Arme auf der kleinen schwarzen Gummilippe, die Innenverkleidung und Außenblech trennt. Dabei spielt es keine Rolle, um welchen Autotyp es sich handelt: Ob gigantischer Straßenkreuzer, hochgebauter SUV oder tief liegender Sportwagen – der Arm amerikanischer Autofahrer wandert fast von allein aus dem Fenster, so selbstverständlich wie er zu Hause auf der Stuhllehne liegt. Tief ins Sitzpolster versunken und die Fensterablage als sommerliche Ellenbogenstütze genutzt, deutet die Geste in Richtung Freiheit.

Das Ritual, wohl in den fünfziger Jahre von der amerikanischen Jugend zum Kult erhoben, hat mit der Lässigkeit des „Cruisens" zu tun, dem Hoch- und Runterfahren auf der Mainstreet, bei dem andere Autofahrer gegrüßt oder Bekannten auf der Straße zu gewunken werden. Gefahren wird um des Fahrens willen. Und auch die langen Strecken, die im Land der „open road" zurückgelegt werden, verlangen es geradezu, es sich zwischen Steuerrad und Schaltung bequem zu machen.

Im alltäglichen US-Straßenverkehr zeigt sich die Morphologie des Rituals wie eine Charakterstudie des Sommerfahrens: Je nach Fahrertyp wird eine Mischung aus Lebensgefühl und Abkühlung praktiziert. Mal hängt der Arm senkrecht die Wagentür hinab, als wollten die Fingerspitzen den Asphalt streifen. Manche Arme fassen ans Dach, als könnte es wegfliegen. In seltsamer Innigkeit wird gern mal der Rückspiegel gestreichelt oder der Arm wie eine nach Luft schnappende Kelle hinausgestreckt. Manche winkeln die Handfläche wie ein Segel leicht an, um womöglich ein wenig Fahrtwind ins Innere zu lenken.

Die Klimaanlage, die inzwischen als Ausstattung mehr und mehr verbreitet ist, funktioniert allerdings nur, wenn das Fenster zu und der Arm im Wageninneren bleibt. Abgekapselt von Straßenlärm und öffentlichem Leben machen es sich moderne Pkw-Nomaden heute am liebsten hinter düster getönten Scheiben allein mit Becherhalter und iPhone bequem. Die Konsequenz zunehmender Autoprivatheit persiflierte in den vierziger Jahren schon der Surrealist Boris Vian in einer Kurzgeschichte, in der eine Gruppe „Clockwork Orange"-Durchgeknallter nachts im rosarot verglasten Auto durch Paris rast, um Fußgänger wie Bowlingfiguren umzunieten. In steril abgeschlossenen Wohlfühlzonen, so die Moral von der Geschichte, verschieben sich surreal Perspektiven und Realitäten. Dass in einer Welt vollklimatisierter Wohnkapseln, wo die Leute kaum mehr aus ihren Wohnungsfenstern schauen, das Arm-aus-dem-Fenster-halten-Ritual ausgerechnet in der „Air-Conditioned Nightmare"-Nation Amerika noch lebendig ist, scheint geradezu ein Wunder. Während sich Amerikaner ansonsten in Hightech-Temperaturzonen einschließen, die Fenster in Zügen genauso zugefroren sind wie die in Bürotürmen und Hotels, gilt beim Autofahren noch die Freiheit der Straße, wird die Verbindung zur Außenwelt gesucht, übt man sich in einer Offenheit, die sonst kaum mehr existiert.

Die Akzeptanz des „Arm-raus"-Rituals ist jedoch nicht überall so selbstverständlich akzeptiert. In Deutschland steckt wohl ein gewisser Klassendünkel dahinter, als würde die Geste nur von einer bestimmten Schicht praktiziert. Es bleibt oft Fake, wie Spoilerkitsch und Felgenschick: Demonstrativ wird mit einer Hand gelenkt und geschaltet, während die andere Hand aus der schicken Metallic-Wunsch-Karosse baumelt. Vielleicht fehlt es den Deutschen aber auch nur an Lässigkeit. In anderen Ländern mit besserem Wetter und einer anderen Kommunikationskultur, wo mehr mit Gesten gesprochen wird, scheint der Arm jedenfalls schneller aus dem offenen Autofenster zu wandern. Ein bisschen Dolce Vita ist dabei, wenn die Italiener ihre Autofenster wie eine fahrende Bühne bespielen, man sich nicht im keimfreien Wohlfühlkosmos verschanzt, mit dem Wind auf dem Unterarm das unangestrengte Gefühl warmer Tage und beschaulicher Sparzierfahrten beginnt.

Armbelebte Autofenster sind wie das aufgeblähte Hemd des Vespa-Fahrers oder die im Cabrio-Wind vom Salzwasser trocknenden Haare: ein romantisches Bild vom Sommer. Der sinnliche Genuss des mobilen Gegenstandes wird dank des Fahrtwinds zum kleinen Rausch der Geschwindigkeit. Das gilt selbst bei funktional anwenderfreundlichen Klein- und Mittelklassewagen, die für stilechtes Herumfahren gar nicht mehr gemacht sind, wo man schon etwas umständlich das ergonomische Sitzpolster erhöhen muss, um ans luftige Draußen zu gelangen. Wie auch immer – die Geste ist vor allem Ausdruck einer lebendigen Straßenkultur, von Freiheit und Entspannung. Man ist dicht dran an der Welt, ihren Geräuschen und Gerüchen. Also, Fenster auf! Arm raus!

Alle Fotos: Nora Sobich