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Gästegemeinschaft nach Frankfurter Art
von Martina Metzner | 24.05.2016
Libertine lädt ein: Freizügig und ungezwungen sollen sich die Gäste im neuen Hotel in Frankfurt-Sachsenhausen wie zu Hause fühlen. Foto © Oliver Tamagnini

Es war einmal ein schüchternes Mädchen, das lebte mit seiner verwitweten Mutter und seiner frivolen Schwester in Alt-Sachsenhausen. Libertine, so ihr Name, schrieb, was keiner wusste, anonym Groschenromane, in denen sie ihrer Fantasie eines zügellosen Lebens freien Lauf ließ. Heimlich verteilte sie ihre Geschichten im Viertel und fand schließlich in George, einem amerikanischen GI, ihre große Liebe. Gemeinsam mit George verwandelte sie ihr Elternhaus in eine gastliche Stätte, „die jeden Durchreisenden herzlich aufnahm (woraufhin diese schon nach der Kürze einer Nacht das Haus nicht mehr von ihrem eigenen zu unterscheiden wussten)“.

Die Geschichte gehört zu dem neu eröffneten Hotel in Frankfurt am Main, das so heißt und sich so darstellt wie die eigens geschaffene Kunstfigur „Libertine“. Natürlich soll darin eine gewisse Nähe zu „Libertinage“ und Freizügigkeit anklingen. Offenbar lassen sich heute nicht nur Sweatshirts, Smoothies und Smartphones besser verkaufen, wenn es um sie herum etwas zu erzählen gibt, sondern auch Hotels. Also haben auch Designer, Architekten und Künstler, die in den letzten vier Jahren an der Entwicklung von „Libertine“ beteiligt waren, den Faden der Geschichte aufgenommen und munter daran weitergestrickt.

Libertine lädt ein: Freizügig und ungezwungen sollen sich die Gäste im neuen Hotel in Frankfurt-Sachsenhausen wie zu Hause fühlen. Foto © Oliver Tamagnini

„Libertine“ ist die zweite Herberge der Geschwister Stefanie, Silke, Sven und Steen Rothenberger, Sprösslinge eines großen Maschinenbau-Imperiums, die am Main bereits mit dem schmalen Kunst- und Gastronomie-Haus „Sevens Swans“ (2011), dem WG-Hotel „Das Lindenberg“ (2012) sowie dem Atelierhaus „Der kleine Mann mit Blitz“ (2015) hervorgetreten sind. Das Konzept eines Gästehauses, das „nicht Hotel, aber auch nicht Wohngemeinschaft“, sondern eine „Gästegemeinschaft“ sein will, wollen die Rothenbergers vervielfältigen: Nach dem „Lindenberg“ mit zehn und „Libertine“ mit 27 Zimmern, sollen weitere „Lindenberg“-Hotels folgen, das nächste mit rund 50 Zimmern in der Lindley Straße im Frankfurter Osthafen – diesmal in einem Neubau von Bernhard Franken, der bislang alle Häuser betreut und architektonisch umgesetzt hat.

Betritt man das Gründerzeitgebäude an der Ecke Frankensteiner Straße/Große Rittergasse, so taucht man ein in ein Sammelsurium aus gestalteten Anekdoten, kosmopolitischem Design und regionalen Zitaten. Über wenige Stufen erreicht man eine Bar samt Lounge, die als Empfang und halböffentlicher Aufenthaltsraum gleichermaßen fungieren. Die 27 Ein- bis Dreibettzimmer befinden sich auf sieben Etagen im vollständig sanierten Altbau, der einen neuen Aufzugskern erhalten hat, sowie im neuen, zweigeschossigen Anbau, der ein Gebäude aus den 1960er Jahren ersetzt. In dessen Fassade sind partiell Rautenmuster gefräst – eine äußerst dekorative Geste, die sich in ähnlicher Weise am „Kleinen Mann mit Blitz“ findet.

Das Entrée ist eine Mischung aus Heimatstube und düsterer Lounge. Foto © Dieter Schwer

In sämtlichen Räumen herrscht ein harter Kontrast aus düsterem Schwarz und femininem Rosé, aus gusseisernen Elementen und anrührenden Utensilien – fast so, als träfe hier ein ölverschmierter Biker auf ein naives Modepüppchen. Überhaupt ist Dekoration allgegenwärtig: Für das Innenleben hat Bernhard Franken mit der Illustratorin Kathi Kaeppl zusammengearbeitet, die schon für das Interior Design der vorherigen Rothenberger-Projekte verantwortlich zeichnete. Kaeppl hat „Libertines“ Mädchenträume kreiert: Bestickte Tableaus zieren die Wände in Gängen und Zimmern und dienen als Klemmbrett; in der Lounge hängen dicke Fliegen aus Glas als Zeugen der Sammelleidenschaft von „Libertine“ von der Decke; auf den Tischen liegen im Corporate Design gestaltete Tarot-Karten ebenso aus wie das hauseigene Magazin „1/4“, in dem die Geschichte von „Libertine“ nachzulesen ist.

Bernhard Franken hat die Räume auf Wunsch von Steen Rothenberger besonders eng gestaltet, wie der Architekt bei der Eröffnung preisgibt. Rothenberger hatte dabei im Sinn, dass man in Frankfurt immer räumlich sparsam gewohnt habe und durch die Enge ein Gefühl der Heimeligkeit entstehe. Die Zimmer sind nach einem Modulsystem konzipiert: Ein Schlafbereich, teils mit ausklappbarem Bett, eine Zone mit Sessel und Tischchen (e15, Prostoria, Kvadrat) sowie die „Black Box“ – ein schwarzer Einbau samt Küchenzeile und Bad. Selbst in den Zimmern trifft man auf die Raute, dem typischen Muster des gerippten „Äppelwoi“-Glases – ob auf dem in Marokko geknüpften Berberteppich (Fashion for Floors) oder als Detail auf der Bettwäsche (Lore Folk).

Imageshooting ist alles: Für gewöhnlich dauert es Jahrzehnte einem Hotel eine Seele zu geben. Hier wird alles vorweggenommen. Foto © Oliver Tamagnini

Wer nicht gerade im hauseigenen Radio lauscht, was gerade im Tonstudio „Lotte Lindenberg“ – einem BBC-Nachbau aus den 1960er Jahren – im Kellergeschosses läuft, der kann sich ins Dachgeschoss begeben, wo sich die Gemeinschaftsräume mit Küche befinden – angeblich das Herz von „Libertine“. Schon beim „Lindenberg“ habe man herausgefunden: Die WG-Küche sei der beliebteste Ort aus der Ferne angereister Gäste. Hier kann man an drei Herden selbst kochen oder sich von Hauskoch Peter bekochen lassen. Die Zutaten stammen aus dem hauseigenen „Lekker“-Lädchen, das voll ist mit Gemüse, Obst, Wurstwaren, Marmelade und Milchprodukten regionaler Herkunft beziehungsweise vom hauseigenen „Permakultur“-Ackerland im Vordertaunus.

Das Konzept „Home far away from Home“, heißt es, ziehe nicht nur Kreative, sondern auch Business-Reisende an, die sonst eher im Mariott absteigen. Der lockere Lebensstil, den die in Berlin ansässige Online-Plattform FreundevonFreunden.com seit Jahren propagiert und den in Frankfurt bereits Restaurants wie Maxie Eisen, Stanley Diamond, Oosten oder der Club Michel in einer Mischung aus Bodenständigkeit und Internationalität erfolgreich kommerzialisiert haben, hier scheint er Hotel geworden zu sein.

Doch so stimmig das Konzept auch erscheinen mag, es gaukelt Authentizität nur vor, bleibt aber vollkommen künstlich. Was normalerweise Jahrzehnte dauert, nämlich einem Hotel eine Seele zu geben, hier hat man es einfach vorweggenommen. In einer Zeit, in der nagelneue Holzdielen bereits mit Kerben geliefert werden, avanciert diese „Libertine“ zur Gallionsfigur eines Heile-Welt-Szenarios, in das man sich für ein paar Nächte einmieten kann. Allzu viel Freiraum bleibt da nicht, ist in dieser Welt doch alles schon gesät, geerntet und gegessen.

Libertine Lindenberg
Frankensteiner Straße 20
60594 Frankfurt am Main
Deutschland

www.franken-architekten.de
www.das-lindenberg.de

Zimmer nach Modulsystem: ein Schlafbereich, eine Zone mit Sessel und Tischchen sowie die „Black Box“ samt Küchenzeile und Bad. Foto © Dieter Schwer
In der WG-Küche kann man an drei Herden selbst kochen oder sich von Hauskoch Peter bekochen lassen. Foto © Oliver Tamagnini
Zutaten erhält man im „Lekker“-Lädchen, das voll ist von Produkten regionaler Herkunft sowie vom hauseigenen „Permakultur“-Ackerland. Foto © Dieter Schwer
Im ganzen Hotel herrscht ein harter Kontrast aus düsterem Schwarz und femininem Rosé. Foto © Dieter Schwer
Gemütliches Crossover: Einbauten im ländlichen Stil samt Berberteppich von Fashion for Floors, Stühlen von e15 und Stoffen von Kvadrat. Foto © Dieter Schwer
Wanddekor im typischen Muster des gerippten „Äppelwoi“-Glases: Die Raute ist überall. Foto © Dieter Schwer
Betonfliesen der ungarischen Firma Ivanka: In den privaten Suiten bieten die Badezimmer mit freistehender Badewannen einen kleinen, ruhigen Wellness-Bereich abseits der belebten Gemeinschaftsräume. Foto © Dieter Schwer
Der vollständig sanierte Altbau hat einen neuen, zweigeschossigen Anbau erhalten, der ein Gebäude aus den 1960er Jahren ersetzt. In die Fassade sind partiell Rautenmuster gefräst. Foto © Dieter Schwer

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