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Häusliche Geschmacksbildung
von Thomas Wagner | 19.01.2012

Wer die Schulbank drücken muss, den drückt sie – buchstäblich gesprochen – mindestens ebenso hart. Auch wenn aus der ehemals harten Bank längst ein nicht weniger harter und steifer Stuhl aus Holz geworden ist, der Sitzkomfort in den Schulen erweist sich zumeist als schierer Wunschtraum. Nicht besser steht es in vielen Fällen um die Ästhetik der Klassenzimmereinrichtung. Was liegt da näher, als eben das als Herausforderung für das Design zu begreifen und zu ändern. Besonders in Zeiten, da in Sonntagsreden gern von Bildung als zentraler Ressource der Zukunft die Rede ist und jeder inzwischen weiß, dass er ein Leben lang dazuzulernen hat, ist es eine kleine Sensation der imm cologne, dass sich eine der dort präsentierten Neuheiten der praktischen Lösung des Problems annimmt, wie Sitzen und Lernen harmonieren könnten.

Design fürs Klassenzimmer

Um es deutlich zu sagen: Die in Köln vorgestellte Stuhlserie „Pro", die Konstantin Grcic im Lauf der vergangenen zwei Jahre für den traditionell mit dem Thema „Schulstühle" verbundenen Hersteller Flötotto entwickelt hat, macht beileibe nicht nur im Klassenzimmer eine gute Figur. Der Stuhl ist leicht und bequem, er unterstützt aufgrund der ausgeprägten S-Form seiner Sitzschale ein „aktives Sitzen" und lässt verschiedene Sitzpositionen – durch die nach hinten gewölbte Oberkante auch mal rittlings – zu. Er wirkt pfiffig, ist alles andere als bieder, es gibt „Pro" in sechs frischen Farben und neben dem sogenannten „C-Gestell" für den Schulgebrauch noch in vier weiteren Varianten. Auch passende Schultische sind im Programm. Ausgangspunkt bei der Entwicklung war zunächst der 1952 patentierte und seitdem weltweit über 21 Millionen Mal verkaufte „Flötotto Formsitz" aus sogenannten „Pag-Holz", verdichtetem und mit Phenolharz getränktem Buchensperrholz. Dieser wurde, mit Rücksicht auf eine bessere Formbarkeit und eine höhere Flexibilität, schließlich eine im Spritzgussverfahren hergestellte Schale aus Polypropylen ersetzt, die dem Stuhl seinen besonderen Charakter gibt.

Grcic gestaltet, Toscani fotografiert

Als wäre es noch nicht genug, mit Konstantin Grcic einen Designer von Weltruf und einen idealen Partner für solch ein ambitioniertes Projekt gewonnen zu haben, wird „Pro" auch noch mittels einer Serie von Fotos präsentiert, die kein Geringerer als der für seine Kampagnen für Benetton ebenso berühmte wie umstrittene Fotograf Oliviero Toscani gemacht hat. Der ließ die meist jugendlichen Models einfach auf dem Stuhl sitzen, balancieren, turnen, posieren, reden und musizieren – woraus heitere Porträts entstanden sind, denen es weder an Dynamik noch an Humor mangelt. Man kann sich vorstellen, dass Lernen so etwas mehr Spaß macht.

Woraus jeder Design-Aficionado lernen kann: Sich „pro" Bildung zu engagieren, kann auch für Designer sehr spannend sein. Außerdem können Fotos zeigen, dass Möbel mehr als funktionale Objekte sind und sich gut mit jenen vertragen lassen, die sie für dies und das und jenes nutzen und ihnen dadurch Leben einhauchen. Und zu guter Letzt ist es Konstantin Grcic wieder einmal gelungen, mit einer überzeugenden zeitgemäßen Lösung für eine Gestaltungsaufgabe zu überraschen, die den Alltag vieler in unserer Wohlfühlblase bestimmt. Bildung und Ästhetik – hier sitzen sie tatsächlich beieinander.

Die Wiederkehr skandinavischer Werte

Dazu passt durchaus, dass die finnische Firma Artek in Köln den 1946 für ein Studentenwohnheim in Helsinki entworfenen Stuhl und Sessel „Domus" des Designers und Innenarchitekten Ilmari Tapiovaara (1914 bis 1999), eines Pioniers der nordischen Moderne, ins Zentrum ihres Auftritts stellt. An diesem stapelbaren Allzweckstuhl mit seinen kurzen Armlehnen, einem Gestell aus massivem Birken- oder Eichenholz und einer Sitzfläche und Rückenlehne aus formgepresstem Sperrholz, der seinerzeit als erster Stuhl in Schulen, Universitäten und in privaten Wohnungen verwendet wurde, lässt sich recht gut ablesen, dass ästhetische Prägnanz und Langlebigkeit keine Sache von modischen Knalleffekten ist. Obendrein zeigt der Stuhl, der ob seiner großen Bekanntheit in den Vereinigten Staaten schlicht „Finnchair" genannt wird, dass wir mit den demokratisch-sozialen Aspekten der Moderne noch längst nicht fertig sind. Jenseits all des zumeist oberflächlichen Geredes von Nachhaltigkeit, das in den letzten Jahren zu hören war, passt der Slogan von Artek – „Buy Now Keep Forever" jedenfalls ganz gut ins Jahr 2012.

Man könnte auch sagen: Die skandinavische Wohnkultur ist wieder da, auch wenn ihre auf solidem Handwerk plus Serienfertigung basierende Grundhaltung heute nicht nur in Skandinavien und nicht nur mit dem Material Holz praktiziert wird. Also lassen auch Carl Hansen & Søn – in der Designpost – einen Stuhl paradieren, der von einem berühmten Designer stammt und lange nicht mehr produziert wurde. Entworfen hat Hans J. Wegner den „CH_33" 1957; er wurde zehn Jahre lang hergestellt, bis er aus der Mode kam. Ein Exemplar allerdings blieb in Wegners Atelier stehen. Denn als seine älteste Tochter Marianne im Alter von zwölf Jahren ihr eigenes Zimmer bekam, hatte sie sich einen von den Stühlen ihres Vaters aussuchen dürfen – und den „CH_33" in einem dunklen Orange gewählt. Nun, vierzig Jahre nachdem die Produktion eingestellt worden war, ist der zierliche Esstischstuhl mit der bogenförmigen Rückenlehne wieder da – in neuen Farben und Holzkombinationen, mit und ohne Polsterung. Er hat wahrlich nichts von seiner Qualität eingebüßt.

Eine neue Gelassenheit

Nicht nur Möbel für Schulen, Universitäten oder die Wiederkehr solcher Designklassiker, auch aktuelle Entwürfe und Neuheiten zeigen, dass sich dort, wo es um reine, womöglich luxuriöse zeitgenössische Wohnkultur geht, in Köln eine gewisse Beruhigung beobachten lässt. Hersteller und Designer agieren nicht mehr annähernd so hektisch und berauschen sich nicht mehr ganz so exzessiv an vielen Innovationen wie noch vor kurzem. Man könnte auch sagen: Es hat sich, trotz oder wegen all dem Krisengerede, eine neue Gelassenheit breit gemacht, in deren Folge so manche Überhitzung abzukühlen beginnt. (Ob sich dahinter mehr als die Laune eines Augenblicks verbirgt, wird man ganz wohl erst in Mailand beim Salone ermessen können.) Deutlich erkennbar jedenfalls ist die Rückkehr zu einer gewissen Normalität, was für viele Hersteller auch bedeutet, sich auf ihre eigene Geschichte und ihre Stärken zu besinnen. Das hat zur Folge, dass vieles, was zuletzt allzu überdreht und bemüht wirkte und selten so extravagant war, wie es sich gerierte, wieder in den Hintergrund tritt.

Gediegene Modernität, nicht nur aus dem Élysée

Dazu passt durchaus, dass ein Hersteller wie Ligne Roset, der seine Neuheiten traditionsgemäß in Köln vorstellt, für 2012 nicht nur stattliche sechzig Neuheiten von vierzig Designerinnen und Designern präsentiert, sondern sich dabei auch behutsam an skandinavischen und japanischen Einflüssen orientiert. Das Gediegene und Durchdachte, das mehr als eine Saison hält, auch hier hat es Terrain zurückgewonnen, ohne dabei je altmodisch zu wirken. Im Gegenteil. Und so stehen die Sitzmöbel „Élysée", die der französische Meisterdesigner Pierre Paulin 1971 ursprünglich für den Rauchersalon von Georges Pompidou im Élysée-Palast entworfen hat, nun wie leckere Obstschnitze im Raum. Weich, aber nicht teigig gepolstert, laden sie gewiss nicht nur zum Rauchen ein. Und auch der Schaukelstuhl „Dérive 2", den Paulin 1985 für die Präsidentengattin Claude Pompidou entworfen hat, die ihn dem Komponisten Pierre Boulez zum sechzigsten Geburtstag schenken wollte, verbirgt seine Qualitäten keineswegs. Das ist nicht nur beste französische Designtradition, sondern wirkt auch überaus edel und schon wieder frisch und zeitgemäß.

Daunenpolster für den Sessel, damit er nicht friert

Weniger überzeugend wirkt eine Mode, die sich nun auch in Köln breit macht. Ob Patricia Urquiola damit angefangen hat oder irgend ein Designer beim Skifahren zu lange auf seiner Daunenjacke gesessen hat, weiß ich nicht; dass nun aber viele Gestalter in die Sitzschalen ihrer bereits vorhandenen oder neu entworfenen Stühle, Sessel oder Lounge Chairs dick gepolsterte und kassettenartig abgesteppte Einlagen pressen, gehört zu den modischen Absonderlichkeiten, die sich immer wieder epidemisch ausbreiten. Kaum einer der Sessel, ob Urquiolas „Husk Outdoor" oder Alfredo Häberlis „Take a Line for a Walk", treten in ihrer dicken Verpackung vorteilhat auf. Auch der brandneue Stuhl „Serpentine" von Eleonore Nalet macht da keine Ausnahme. Ebenso wird zu beobachten sein, ob der Trend zu noch mehr Tischchen und Beistelltischchen und zu noch mehr knubbeligen Ottomanen und kugeligen Sitzen, mit und ohne Schublade, mehr ist als eine Eintagsfliege.

Swissness und ein indisch-britisches „Haus"

Selbst für Skeptiker wie mich, die nicht – oder nicht mehr – an nationale Stereotype oder Designsprachen glauben, hat die Zusammenfassung von namhaften Schweizer Herstellern wie Baltensweiler, Création Baumann, Lehni, Röthlisberger Kollektion, Thut Möbel und Wogg inmitten des „Pure Village" einen gewissen Charme. Zumal sich gerade hier weitere Beispiele für wirklich langlebiges Design finden lassen. Wogg etwa zeigt unter der Nummer „Wogg 54" einen wunderschönen, ebenso eleganten wie perfekt verarbeiteten kleinen Schreibtisch von Christophe Marchand, der das Regalsystem „Wogg 52" ergänzt. Für das Regal gibt es zudem ein neues Untergestell aus schwarz lackiertem Stahl, durch das sich einzelne Elemente nicht nur kombinieren lassen, es gibt ihnen auch mehr Leichtigkeit und Höhe. Bei Lehni steht mit „Flex" ein nagelneuer und fabelhafter, von Hanspeter Weidmann entworfener Tisch aus Aluminium, in dessen Oberfläche sich bündig mit dem Rahmen ein dünnes Tischblatt aus Linoleum, Kunstharz, Holz oder Eternit einlegen lässt.

Nichtschweizer im „Pure Village" wie Thonet oder e15 hätten wir dann doch lieber auf großzügiger geschnittenen Ständen in der Halle 11 gesehen – statt in dem Möbel-Dorf, in dem nun auch die [D³] Young Talents untergebracht sind. Thonet zeigt unter dem Namen „Pure Materials" neue, mit umweltschonend gegerbtem Leder bezogene und mit naturbelassenen Armlehnen versehene Versionen des Freischwingers von Marcel Breuer sowie dessen ähnlich veredelte Beistelltische; e15 hat neue Bestelltischchen mit pulverbeschichtetem Metallfuß und Marmorplatte im Programm. So heterogen das „Village" nach wie vor ist, im einen oder anderen Kubus lässt sich Gelungenes entdecken, beispielweise die erstaunlich flexiblen und vielseitigen Regalsysteme des kleinen italienischen Labels „Extendo".

Nicht zu vergessen: „Das Haus" von Doshi Levien auf dem Dorfplatz. Es ist eine hybride multikulturelle Collage geworden, in der sich in verschiedenen Wohnzonen Möbel des indisch-britischen Designerpaars mit alten und jungen Möbelklassikern internationaler Hersteller und allerlei bunten Accessoires zu einem fröhlichen Stelldichein einfinden. Lassen wir dem Zeitgeist sein Plaisir. Schließlich gilt mutatis mutandis auch für den Designer, was Friedrich Schiller dereinst in seinen nicht von ungefähr berühmt gewordenen Briefen über die „ästhetische Erziehung der Menschen" vom Künstler sagt: Er „ist zwar der Sohn seiner Zeit, aber schlimm für ihn, wenn er zugleich ihr Zögling oder gar noch ihr Günstling ist." Womit wir wieder bei der Bildung wären.

Reeditionen von Ilmari Tapiovaara bei Artek, Foto © Dimitrios Tsatsas, Stylepark
„Domus Lounge Chair“ von Ilmari Tapiovaara, Foto © Dimitrios Tsatsas, Stylepark
„CH_33“ von Hans J. Wegner bei Carl Hansen & Søn, Foto © Dimitrios Tsatsas, Stylepark
Ein zierlicher Esstischstuhl mit der bogenförmiger Rückenlehne, Foto © Dimitrios Tsatsas, Stylepark
Der „CH_33“ ging 1957 in Produktion, kam aus der Mode, jetzt ist er wieder als Reedition verfügbar, Foto © Dimitrios Tsatsas, Stylepark
„Dérive 2“ von Pierre Paulin bei Ligne Roset, Foto © Milenka Thomas, Stylepark
„Elysee“ von Pierre Paulin bei Ligne Roset, Foto © Dimitrios Tsatsas, Stylepark
„Elysee“ Sofa und Pouf, Foto © Dimitrios Tsatsas, Stylepark
Poufs mit Schubladen bei Montis, Foto © Dimitrios Tsatsas, Stylepark
„Wogg 54“ von Christophe Marchand, Foto © Dimitrios Tsatsas, Stylepark
Regalsystem „Wogg 52“, Foto © Dimitrios Tsatsas, Stylepark
Tisch aus Aluminium, in dessen Oberfläche sich bündig mit dem Rahmen ein dünnes Tischblatt aus Linoleum, Kunstharz, Holz oder Eternit einlegen lässt, Foto © Dimitrios Tsatsas, Stylepark
e15 hat neue Bestelltischchen mit pulverbeschichtetem Metallfuß und Marmorplatte im Programm, Foto © Dimitrios Tsatsas, Stylepark
Regalsysteme des kleinen italienischen Labels „Extendo“, Foto © Dimitrios Tsatsas, Stylepark
„Das Haus“ von Doshi Levien im „Pure Village”, Foto © Dimitrios Tsatsas, Stylepark
Hier lässt sich auch lernen und arbeiten, Foto © Dimitrios Tsatsas, Stylepark
Allerlei Sammelobjekte unter Acrylglaskasten, Foto © Dimitrios Tsatsas, Stylepark
„Pro“ von Konstantin Grcic für Flötotto, Foto © Dimitrios Tsatsas, Stylepark
Die S-förmige Schale gibt es in sechs Farben, Foto © Dimitrios Tsatsas, Stylepark
Alt und neu: Historisches Modell eines Schulstuhls, Foto © Dimitrios Tsatsas, Stylepark
Ergonomischer Schwung, Foto © Dimitrios Tsatsas, Stylepark
Konstantin Grcic, Foto © Dimitrios Tsatsas, Stylepark
„Pro“ mit Holzbeinen für Zuhause, Foto © Oliviero Toscani
Gitarre spielen und auf einem Stuhl tanzen, Foto © Oliviero Toscani
Rittlings auf dem „Pro“, Foto © Oliviero Toscani
Sessel bei Montis, Foto © Dimitrios Tsatsas, Stylepark
„Husk Outdoor“ von Patricia Urquiola für B&B Italia, Foto © Dimitrios Tsatsas, Stylepark
Ein eleganten wie perfekt verarbeiteter kleiner Schreibtisch, Foto © Dimitrios Tsatsas, Stylepark
„Flex“ von Hanspeter Weidmann für Lehni, Foto © Dimitrios Tsatsas, Stylepark
„Pure Materials“ bei Thonet, Foto © Dimitrios Tsatsas, Stylepark
„CT09 ENOKI“ von Philipp Mainzer für e15, Foto © Dimitrios Tsatsas, Stylepark
Gelungenes im „Pure Village”, Foto © Dimitrios Tsatsas, Stylepark
Bodennahes Sitzen mit Kissen und Beistelltischchen, Foto © Dimitrios Tsatsas, Stylepark
Ruhestatt in hellen Brauntönen, Foto © Dimitrios Tsatsas, Stylepark
Von einer Kette mit Stiefmütterchen bis zum Schnurrbart aus Perlen, Foto © Dimitrios Tsatsas, Stylepark