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Der Friedhof San Cataldo in Modena ist für Diogo Seixas Lopes ein Beispiel für Aldo Rossis Architektur einer Melancholie. Foto © Nuno Cera
Herbe Schönheit

Im Gespräch: Diogo Seixas Lopes


20.11.2015

Glaubt man Diogo Seixas Lopes, so erinnern viele Aspekte in den Projekten und Texten von Aldo Rossi (1931 bis 1997) an den metaphysischen Blick Giorgio de Chiricos, den kulturellen Skeptizismus von Adolf Loos, den exaltierten Rationalismus eines Étienne-Louis Boullée und die visuellen Rätsel Albrecht Dürers. Für Lopes sprechen zahlreiche Gründe dafür, in Rossis Arbeit Hinweise auf Schwermut und Krise zu erkennen und sein Schaffen im Begriff der Melancholie als Quelle von Leid, aber auch von Inspiration, zu verankern. „Melancholie ist in diesem Sinne das Charakteristikum der Sterblichkeit“, schrieb schon Robert Burton in seiner „Anatomie der Melancholie“ von 1621. Folgte die Architektur hauptsächlich dem Prinzip von Wille und Vernunft, so kam Rossi aus Sicht von Lopes mit ihrem „mangelhaften Auftrag“ nicht zurecht und brachte die Subjektivität ins Spiel. Adeline Seidel hat bei Diogo Seixas Lopes nachgefragt, wie seine These entstanden ist und an welchen Bauten sie sich belegen lässt.

Adeline Seidel: Wie kamen Sie eigentlich auf die These, Aldo Rossis Architektur sei geprägt von Melancholie?

Diogo Seixas Lopes: Die Idee hatte ich vor zehn Jahren, als ich mein Forschungsvorhaben meinen Doktorvater Vittorio Magnago Lampugnani an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich präsentiert habe. Doktorarbeiten werden dort noch auf sehr traditionelle Weise verfasst, das heißt, man unterbreitet einen Vorschlag, und wenn dieser angenommen wird, ist man praktisch sich selbst überlassen. Das birgt natürlich gewisse Risiken, hat aber auch Vorteile, weil man eine Freiheit genießen kann, die die ETH einem zugesteht. Meine erste Präsentation bezog sich zunächst auf eine konkrete Epoche bezogen. Es ging um ein „Gefühl des Verlustes“, eine Art Ernüchterung, die in den frühen 1970er Jahren vor allem in Europa und Amerika spürbar wurde. Ich wollte der Frage nachgehen, ob sich diese Krisenstimmung auf die Architektur übertragen hatte oder nicht. Lampugnani spielte eine wesentliche Rolle bei der Präzisierung des Themas und des Leitmotivs der Melancholie und erweiterte den zeitlichen Rahmen der Forschungsfrage. Da ich den Schwerpunkts fortan auf die 1970er Jahre legte, war es nur folgerichtig, mich auch mit Aldo Rossi zu befassen, dessen Architektur ja zu jener Zeit in aller Munde war. Mir fiel auf, dass in kritischen Betrachtungen seiner Arbeit von Anfang an immer wieder das Wort Melancholie auftauchte. Das bestätigte mich in meinem Forschungsansatz.

Wie und wo wurde eine Beziehung zwischen Melancholie und Rossis Architektur hergestellt?

Diogo Seixas Lopes: Der Zusammenhang von Melancholie und Architektur bei Aldo Rossi ergibt sich eher zufällig und ist das Ergebnis eines intuitiven Zugangs. In der kritischen Rezeption seiner Arbeit seit den 1970er Jahren gab es gleichwohl ein eindeutiges Muster. Ein gutes Beispiel ist das Nachwort, das der amerikanische Architekturhistoriker Vincent Scully für die Originalausgabe von „A Scientific Autobiography“, dem zweiten Buch von Rossi, das 1981 erschienen ist, geschrieben hat. Dort spricht Scully von Räumen „voller spannungsgeladener Möglichkeiten, die von der eindringlichen Präsenz erhabener und melancholischer Tragöden erfüllt zu sein scheinen, die sie wie eine klassische Bühne betreten“. Es gibt noch viele andere Beispiele für die Verwendung des Begriffs Melancholie in diesem Kontext.

Adeline Seidel: Sie haben sich sicher viele der Bauten Rossis genau angeschaut. Welche sind mit Blick auf Ihre These besonders relevant?

Diogo Seixas Lopes: Ganz sicher der Friedhof San Cataldo in Modena. Der Bau ist, obwohl er nicht fertig gestellt wurde, das zentrale Beispiel in meinem Buch für einen extremen Fall melancholischer Architektur. Er ist das Monument einer zeitgemäßen Version dieser Idee, bei der von vornherein einige Regeln außer Kraft gesetzt sind. Trotz oder vielleicht wegen seiner herben Schönheit hat dieser Ort auch etwas sehr Grausames. Ich habe Besucher des Friedhofs gesehen, die sich dort ganz offenkundig unbehaglich gefühlt haben. Das Gegenstück dazu ist meiner Meinung nach die von Rossi in der gleichen Zeit entworfene Schule Fagnano Olona. Sie gleicht einer gespenstischen Rückbesinnung auf eine verlorene Kindheitswelt.

Ist Architektur für Rossi so etwas wie Trauerarbeit?

Diogo Seixas Lopes: In der Nachkriegszeit und inmitten eines fundamentalen gesellschaftlichen Wandels stellte Rossi die Grundsätze der Moderne und den Status seiner Profession in Frage. In seiner Ablehnung utopischer Vorwände, plädierte er vielmehr für die Autonomie der Architektur in formaler Zurückhaltung. Vorstellungen von Fragment und Erinnerung wohnt per se schon eine Melancholie inne, wobei Rossis Gebäude, Zeichnungen und Texte stets oszillieren zwischen Begeisterung und Ernüchterung. Für Letztere dient der Friedhof von San Cataldo in Modena (1971-1984) als Beispiel. Dieses Projekt ist insofern eng mit der Biografie Aldo Rossis verflochten, als er den Entwurf nach einem Autounfall entwickelt, der ihn zu einer „osteologischen Architektur“ inspirierte. Die Kahlheit und Monumentalität der Friedhofsgebäude stellt eine Neuinterpretation der Vergangenheit dar, um so einen Weg für die Gestaltung des Todes und der damit einhergehenden Melancholie zu finden. Aldo Rossi überraschte die Kritiker mit seinen gestalterischen Ambiguitäten immer wieder aufs Neue. Außerdem war er seiner Zeit weit voraus, da er sich bereits mit Aspekten von Berühmtheit, Verherrlichung und Kommerzialisierung beschäftigte. Das Buch sondiert insofern die jüngere Vergangenheit der Architektur unter dem Vorzeichen der Melancholie.


Diogo Seixas Lopes
Melancholy and Architecture
On Aldo Rossi
232 Seiten, Text englisch,
Edition Park Books, 2015
38,00 Euro
ISBN 978-3-906027-47-0

Den Friedhof San Cataldo (1971-1984) entwarf Rossi nach einem Autounfall. Foto © Nuno Cera
"Die Kahlheit und Monumentalität der Friedhofsgebäude stellt eine Neuinterpretation der Vergangenheit dar, um so einen Weg für die Gestaltung des Todes und der damit einhergehenden Melancholie zu finden.", erklärt Lopes. Foto © Nuno Cera
Foto © Nuno Cera
Das Buch zur Forschungsarbeit. Foto © Sabrina Spee, Stylepark
Foto © Sabrina Spee, Stylepark
Foto © Sabrina Spee, Stylepark
Foto © Sabrina Spee, Stylepark
Foto © Sabrina Spee, Stylepark