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Wohlfühlen ist Pflicht, von Wellville bis Bad Nauheim
von Thomas Wagner | 20.03.2009

Wellness ist eines der Schlagworte einer Zeit, die ebenso sehr von Stress und Krankheit geplagt wie vom Wunsch nach Gesundheit und Wohlbefinden besessen ist. Schon das importierte Wort klingt so sanft wie die ölgetränkten Hände der Gesundheits-Fee, die den hysterischen und in jedem Muskel verspannten Zeitgenossen in seinen Körper zurückholen sollen. Und so ist, wer im Einklang mit seinem Körper sein oder das gestörte Gleichgewicht zwischen Körper und Geist wiederherstellen möchte, zu manchem Experiment und Verzicht bereit. Wenigstens für ein paar Tage im Jahr. Ob traditionelle Trinkkur oder entspannende Thalasso-Therapie, ob die Seele erleichternde Ayurvedische Massagen oder Hata-Yoga, ob entschlackende Schrot-Kur oder die nikotinverseuchten Lungen weitende Dampfbäder - dem aufs eigene Wohlbefinden bedachten Menschen des 21. Jahrhunderts stehen alte und neue Methoden aus aller Herren Länder zur Verfügung.

In der Zitadelle der Mäßigung Dass die Wellness-Bewegung, die längst den traditionellen Kurbetrieb überflügelt hat, von handfesten ökonomischen und touristischen Interessen begleitet wird, ist bekannt. Die Ideologie, oder weniger drastisch: das Denken, das sich hinter all den Entspannungsübungen und demonstrativen Wohlfühlorgien verbirgt, indes weniger. Allein schon deshalb kommt dem amerikanischen Schriftsteller T.C. Boyle das besondere Verdienst zu, die strenge Organisation des Wunsches nach Wohlsein schon 1993 in seinem Roman „Willkommen in Wellville" überspitzt und aus historischer Distanz beschrieben zu haben. Erst sein ironischer Blick, so ungerecht er sein mag, stellt uns die Wellness-Bewegung in aller Deutlichkeit vor Augen. Denn seien wir ehrlich, Wellville, das ist heute fast überall, und auch einen „Dr. John Harvey Kellogg, den Erfinder von Corn-flakes und Erdnußbutter, ganz zu schweigen von Malzkaffee, Bromose, Nuttolene und ungefähr weiteren fünfundsiebzig gastrisch einwandfreien Nahrungsmitteln", könnte es, zumindest was die Ambition angeht, in fast jedem Bad B... oder Bad E.. geben, ebenso wie einen solchen Abend: „Es war ein typischer Montagabend im Battle-Creek-Sanatorium, der Bastion korrekten Denkens, vegetarischer Lebensart und Schulung, der Zitadelle der Mäßigung und eines reformierten Bekleidungsstils und - kein Zufall - der gesündeste Ort auf Erden. Die Frauen ohne Korsetts, die Männer mit locker sitzenden Hosenträgern, verdauten beide Geschlechter in aller Ruhe ihre Ladung giftfreien Abendessens in einer von Tabak, Alkohol, Corned beef, Lammkoteletts und koffeinbedingter Nervosität gesäuberten Atmosphäre." Schnell begreift man, was vor allem nötig ist, um aus die Verderbnis bringenden Einflüsse der Zivilisation auszuscheiden: giftfreies Essen und gute Verdauung. „Mit vollen Bäuchen", fährt Boyle fort, „und ruhigem Gewissen hatten sie sich im Großen Empfangssaal versammelt, um sich von ihrem Boss instruieren zu lassen in Sachen körperlichen Wohlbefindens und dessen positiver Begleiterscheinung, Langlebigkeit. Sie hätten sich auch in Baden-Baden oder Bad Wörishofen oder Saratoga aufhalten können, aber sie hatten sich hier eingefunden, im Gefrierschrank Südmichigans - und sie zahlten einen hübschen Preis für dieses Privileg -, weil kein anderer Ort auf der Landkarte diesem gleichkam." Der Wunsch, ewig, oder wenigstens lang, zu leben, ach, er scheint unausrottbar. Und der hat eben seinen Preis. Selbst im kalten Michigan, wo dieses Prachtexemplar einer Kurklinik steht. „Während seiner einunddreißig Jahre als Direktor hatte Dr. Kellogg das San, wie es liebevoll genannt wurde, von einem Hospiz der Adventisten, das sich auf Grahambrot und Wasserkuren spezialisiert hatte, zu dem Tempel der Gesundheit umgewandelt, der es jetzt war, einem Ort, der in ganz Amerika gefeiert wurde - und jenseits des großen, weiten, wogenden Atlantiks in London, Paris, Heidelberg und in noch entfernteren Orten. Jährlich schritten zweitausendachthundert Patienten durch seine Portale, und eintausend Angestellte, darunter zwanzig vollbeschäftigte Ärzte und dreihundert Krankenschwestern und Verantwortliche für die Bäder, kümmerten sich um ihre Bedürfnisse. Sechs Stockwerke hoch, mit einer luxuriösen Eingangshalle, halb so groß wie ein Fußballfeld, mit vierhundert Zimmern und Behandlungsräumen für eintausend Personen, mit Aufzügen, Zentralheizung und Klimaanlage, hauseigenen Schwimmbädern und einer ganzen Reihe therapeutischer Ablenkungs- und gesundheitsfördernder Unterhaltungsmöglichkeiten, war das San das sine qua non des Kurgeschäfts - Luxushotel, Krankenhaus und Heilbad in einem."

Zweifellos, wer gesunden und sich pflegen will, der braucht in den Zeiten der Industrialisierung und des Konsums keine einsame Blockhütte, sondern eine Gesundheitsfabrik mit allem, was dazugehört, vor allem: entsprechendem Publikum. Schließlich macht Gesundheit allein keinen Spaß. Und selbstverständlich braucht das schwache Volk unbedingt einen Anführer, einen Wissenden, der es anleitet. Wenigstens einen Teil des Volkes: „Und der Impressario, der Boss, der über allem herrschende Geist war John Harwey Kellogg. Indem er diätetischer Zurückhaltung und dem einfachen Leben das Wort redete, führte er übergewichtige Hausfrauen und dyseptische Geschäftsmänner auf den Pfad der Aufklärung und Genesung. Ernste Fälle - an Krebs Erkrankte, dem Tode Geweihte, geistig und körperlich Behinderte - wurden abgewiesen. Die Patienten das San tendierten dazu, einer bestimmten Klasse anzugehören, und sie hatten keinerlei Interesse daran, beim Essen Hinz und Kunz gegenüberzusitzen oder solchen Leuten, die so wenig Anstand besaßen, dass sie ernsthaft und lebensbedrohend erkrankten. Nein, sie kamen ins San, um zu sehen und gesehen zu werden, um sich unter die Berühmten und Reichen und die Superreichen zu mischen, um positiv zu denken, um vernünftig zu essen und um ihre Leiden mit einem achtbaren, gehörigen, rechtschaffenen Quantum Verhätschelung, Enthaltsamkeit und Ruhe zu kurieren." Womit hinreichend deutlich geworden wäre, wessen der auf Wohlbefinden konditionierte Mensch vor allem anderen bedarf: giftfreien Essens, guter Verdauung, eines teuren Tempels der Gesundheit, auf dessen schlammbedeckten Altären man seine Laster opfert, eines Anführers und einer Bühne, auf der ihn keiner stört. Kurz: Wellness ist ein Name der Gesundheitsreligion unserer Zeit. Der Orte, an denen man sie ausüben kann, sind viele. Viel zu viele, als dass sich auch nur die wichtigsten zeigen ließen. Weshalb wir kurzerhand auf die Vergangenheit, eine große Vergangenheit zurückgreifen.

Jugendstil in Bad Nauheim Auch Bad Nauheim, in der Wetterau zwischen Taunus und Vogelsberg gelegen, hat als Ort des Badens seine Geschichte. Schon die Kelten sollen die Solequellen genutzt haben. Um 1900 besaß Bad Nauheim als Kurort Weltrang und zählte Tausende von Gästen, darunter zahlreiche internationale Prominenz. Da veränderte hygienische, aber auch ästhetische Vorstellungen die Einrichtung neuer Badehäuser unumgänglich machte, ließ Großherzog Ernst Ludwig zu Hessen und bei Rhein, der 1899 auf der Darmstädter Mathildenhöhe bedeutende Vertreter des Jugendstils zu einer freien Künstlerkolonie vereint hatte, für 10,5 Millionen Goldmark in Bad Nauheim ein Großprojekt realisieren, das aus dem Sprudelhof, Wirtschaftsbauten wie Fernheiz-, Elektrizitätswerk und Wäscherei, einer neue Trinkkuranlage, einer Erweiterung des Kurhauses mit Konzertsaal und einer Gärtnerei bestand. Als Architekt für den von 1905 bis 1911 errichteten Sprudelhof wurde Wilhelm Jost verpflichtet, der bereits 1902 beim Bau des Inhalatoriums eine Brücke zwischen Historismus und Jugendstil geschlagen hatte. Neben Jost waren Künstler der Darmstädter Künstlerkolonie wie Julius Scharvogel, Heinrich Jobst, Wilhelm Kleukens und Albin Müller beteiligt.

In seiner Gesamtansicht erinnert der Sprudelhof an ein Schloss. Womit die aristokratische Bestimmung des Gebäudes hervortritt, das sich vollkommen von den heutigen, demokratischen Spaßbädern und Entspannungstempel unterschiedet. Um einen zentralen Hof mit drei gefassten Quellen sind die durch Arkaden verbundenen Badehäuser angeordnet, wodurch sich eine symmetrische, auf drei Seiten abgeschlossene Anlage ergibt, die sich zum Kurpark hin öffnet. Jost selbst hat den Bau als „frei aufgefasstes Barock in einfachen Formen" bezeichnet. Jedes der Badehäuser öffnet sich sodann zu einem dekorierten Wartesaal mit angrenzendem Schmuckhof, dessen Längsseiten von Badezellen gesäumt werden, in denen sich insgesamt 266 Wannen aus Moa-Holz befinden. Vier Fürstenbäder wurden besonders kostbar gestaltet.

All photos © Dimitrios Tsatsas, Stylepark