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Lob der Italianità
von Thomas Wagner
31.03.2015
Foto © Alessandro Milani

Bald bricht die Möbelbranche wieder nach Mailand auf, um rund um den Salone dem Kult der Neuheiten zu frönen. Was darf man erwarten? Oder ist die Möbelmesse diesmal nur die Vorspeise der Expo?

„Alessandro M.“ sieht aus wie ein italienischer Küchenchef, trägt aber eine eigenwillige Kopfbedeckung. Alessandro Mendini hat seinem Korkenziehermann diesmal den Mailänder Dom aufgesetzt wie einen spitzen Hut samt einer angedeuteten goldenen Madonna obenauf. Ein Küchenchef allein vermag das Mailänder Superjahr freilich nicht zu bewältigen, also hat Alessi noch weitere „Souvenirs d’Italie” (warum das nun auf Französisch sein muss?) ersonnen. Um der „Italianità“ zu huldigen – seit dem Risorgimento so etwas wie die Verkörperung des Wesens ganz Italiens und aller Italiener – hat man neben Mailand die wichtigsten Regionen samt ihren kulinarischen Spezialitäten in niedliche kleine Figürchen verwandelt. „Ciro il Pulcinella“ (gestaltet von Massimo Giacon) steht für Kampanien und verspeist genussvoll eine Pizza Margherita. Seine „Lella Mortadella“ verkörpert die Emilia Romagna als dralle Blonde, die typische Wurstwaren der Region anbietet. Es folgen drei von Antonio Aricò gestaltete Kreationen: „Venice“ trägt eine venezianische Maske sowie Gondel und Fische als Kopfbedeckung, „Calabrisella“ verkörpert mit ihrer mit Peperoni geschmückten Kleidung und Haartracht Kalabrien, und „Rosalia la più bella che ci sia“ kredenzt einen Korb voller Früchte aus Sizilien und trägt ein Kleid, das an eine Kaktusfeige erinnert. Die possierlichen Figürchen haben wenig mit der Zukunft des Designs zu tun, aber viel mit der Gegenwart des Spektakels.


Erst Salone, dann Expo

Womöglich sind der Salone Internazionale del Mobile, den weiteren Saloni-Satelliten sowie den Veranstaltungen des Fuorisalone, die allesamt vom 14. bis zum 19. April stattfinden, in diesem Jahr nichts anderes als die Vorspeise. Schließlich wird in Mailand schon Anfang Mai die Expo 2015 eröffnet. Ihr Motto lautet: „Feeding the Planet, Energy for life“ – „den Planeten ernähren, Energie für das Leben“. Technologie, Innovation, Kultur, Tradition und Kreativität will die Expo mit den Themen Ernährung und Essen verbinden. Was verdächtig nach Abstraktionen und guten Absichten klingt. Nicht nur Papier, auch Pavillons und Monitore sind geduldig. 1906 hat es in Mailand schon einmal eine Weltausstellung gegeben. Damals ging es um das Thema Verkehr. Am 19. Mai 1906, drei Wochen nach Beginn der Ausstellung, wurde der rund 20 Kilometer lange Simplontunnel zwischen der Schweiz und Italien in Betrieb genommen. Eigentlich hatte die Weltausstellung schon 1905 stattfinden sollen, musste aber, weil sich der Bau des Tunnels verzögerte, um ein Jahr verschoben werden.

Kaum drei Jahre später – man sollte das beim Thema Mobilität im Auge behalten – veröffentlicht Filippo Tommaso Marinetti, den man nicht umsonst das „Koffein Europas“ nannte, sein „Futuristisches Manifest“. Benzintrunken intonieren die Futuristen fortan in einer Kombination aus Avantgarde, Nationalismus und Faschismus mit der rauen Stimme eines Befehlshabers das Lied von der Liebe zur Gefahr. Ihr Bekenntnis gilt einem ungebremsten Fortschritt, beschworen werden die „modernen Kentauren“, gebildet aus Mensch und Maschine. Auch 2015 wird viel von Zukunft geredet; vom Rausch und von der „Schönheit der Geschwindigkeit“ indes ist mehr als 100 Jahre später kaum noch die Rede, auch oder gerade weil alle heute ganz selbstverständlich mobil zu sein haben.


Nachhaltiges Neo-Biedermeier

Zuerst aber kommt der Salone, und dort bleibt auch diesmal vieles alljährlich zelebrierte Routine. Es müssen eben immer neue Tische, Stühle, Sofas, Betten, Regale und so weiter präsentiert werden, weil im Medientheater der Gegenwart Kontinuität nur wenig, mediale Aufmerksamkeit umso mehr zählt. Dass die Produkte nicht unbedingt besser, nur anders als jene der letzten Jahre sind, wird von der Menge der Neuheiten geschickt kaschiert.

Trotzdem wird auch beim Salone wahrscheinlich vielgestaltig fortgeschrieben, was als Reaktion auf die Abschaffung des Privaten im Neo-Biedermeier mit seinen gut gepolsterten Rückzugszonen so alles gut ankommt: Die Moderne wird weiterhin geplündert, an Geist und Körper renoviert, zuweilen sogar romantisiert; Stahlrohr wird nicht mehr selbstverständlich verchromt, sondern farbig lackiert. Bronze, Kupfer, Messing, aber auch Marmor, künden von einer nicht mehr ganz neuen, aber edlen Üppigkeit; Holz, vor allem helles, ist immer gut, wächst nach und sorgt für eine freundliche Atmosphäre; auch farbige Polsterstoffe, allerlei Muster sowie hier und da ein extravaganter Materialmix verleihen konventionellen Möbeln neue Frische. Re-Editionen bleiben en vogue; und weil die Welt da draußen selten gemütlich erscheint, wächst der Wunsch nach kleinen und großen Lounge Chairs, in die man sich einigeln kann ebenso wie jener nach modularen Sofalandschaften.


Die Zukunft ist ein Duft

Foto © Kartell

Klar ist aber auch: Das Ritual, künstliche Wohlfühl-Atmosphären und hippe Lebensstile statt banaler Produkte anzupreisen, hat sich vielfach ökonomisch bewährt. Entsprechend gefragt sind neue Reize, die – weil auch sie sich rasch verbrauchen – schon bald nach wieder anderen Reizen verlangen. Reiz und Kaufanreiz sind dabei mehr oder weniger dasselbe. Tom Dixon hat schon recht, wenn er sagt: „Der Design-Unternehmer von heute kann sich nicht nur um die Gestaltung von Objekten kümmern, sondern ebenso um die Kommunikation, die Kontextualisierung und die Kommerzialisierung seiner Ideen“. Er selbst lässt deshalb in einem verlassenen Theater in Mailand Entertainment und Kommerz miteinander verschmelzen. Dem spontanen Impuls des affizierten Kunden, etwas haben und sofort Drauflos-Shoppen zu wollen, soll umstandslos entsprochen werden. Weshalb besonders innovativ erscheint, was man – ganz gleich, was es ist – direkt kaufen, mitnehmen oder sich überall hin liefern lassen kann. Ob’s klappt? Mal sehen.

Auch wird das eigentliche Produkt immer häufiger multisensorisch eingehüllt und synästhetisch aufgewertet. Es könnte spannend werden zu beobachten, wer da gerade welche Art von Wechselwirtschaft und wer sie besonders virtuos betreibt. Diesel führt ja schon viele Jahre vor, dass Mode und Möbel sich perfekt ergänzen. Neu hingegen ist, dass Kartell nicht nur wie bisher mittels Standgestaltung und Produktneuheiten „das vielseitige und zeitgemäße Konzept des Lifestyles“ hervorzuheben gedenkt. Der „durch Forschung, Planung, industrielle Herstellung, Qualität, Glamour und Eleganz“ geprägte Lebensstil soll künftig „auch auf ganz neue Warenbereiche Anwendung“ finden. Soll heißen: Die „Kartell-Erfahrung“ bekommt eine Nase und der Bewohner markiert sein Gehäuse nun auch olfaktorisch. „Kartell Fragrances“ heißt die neue Marke, die Industriedesign und Parfümerie verbinden soll, was keineswegs bedeutet, dass es im Esszimmer nach Bratensoße und im Wohnzimmer nach Sägemehl riecht. In der Prosa des Marketings wird der Duft vielmehr zum „Schlüsselelement der Erfahrung, die ein Raum bieten kann“. Und: Nicht weniger als „das körperliche und geistige Wohlbefinden“ soll per Duftwolke gefördert werden.

Kreiert hat die erste, aus acht verschiedenen Raumdüften bestehende Kollektion der „Kartell Fragances“ Ferruccio Laviani, inklusiv Duftkerzen („Dice“, „Nikko“, „Oyster“), Zerstäuber („Perfumegun“), elektronische Diffusoren mit Duftkapseln („Pop-Up“ und „Vogue“) und Diffusoren mit Holzstäbchen („Cache-Cache“, „Ming“). Duftproben wurden vorab nicht verschickt. Alberto Savinio aber weist (in seinem wunderbar verschlungenen Mailand-Buch) ganz zurecht auf verschiedene Arten hin, den Stand einer Kultur zu messen: „Manche messen ihn am Seifenverbrauch, manche an der Art und Weise zu essen.“ Mailand gilt ihm ohne jeden Zweifel als das Zentrum einer vollendeten Essenskultur. Über den Gebrauch von Raumdüften äußert er sich verständlicherweise nicht, geißelt aber die allgemeine Hydrophilie mit dem Argument, dass selbst Gott die (gewaschenen) Seinen nicht mehr an ihrem Geruch erkenne.


Karten, gebt mir Karten!

Foto: © Roberto Marossi

Es gilt also: (1) Ein Stuhl ist nicht mehr nur ein Stuhl, ein Tisch ist nicht mehr nur ein Tisch. (2) Noch immer, vielleicht sogar mehr denn je werden Wünsche und Atmosphären verkauft. Was wir (3) noch immer nicht ganz begriffen haben, was aber (4) dazu führt, dass wir uns mehr mit den Karten als mit den Gebieten herumschlagen, die sie angeblich doch nur abbilden. Es ist ja nicht so, dass für jedes Gebiet eine Karte existierte. Nein. Die Zahl der Karten übersteigt die der Gebiete bei weitem – und manchmal weiß man beide nicht mehr zu unterscheiden.
Es gibt also Gründe genug, sich mit Karten zu beschäftigen – zumindest, wenn man den Begriff recht weit fasst. Denn wer Karten hat, kennt sich aus. Harmlos, gar neutral, waren sie in ihrer langen Geschichte nie. Wer präzise Karten besaß, wusste, wo der Feind eine offene Flanke hat. Wieso also nicht auch die Welt der Möbel und des Designs exakt vermessen? Oder sie in poetischen, erfundenen, ausgedachten Karten einfach imaginieren? Oder die Welt des Wohnens, statt sie nach Herstellern, Designern, Stilen, Typologien oder Materialien einzuteilen, nach Atmosphären und Phantasmagorien, nach Visionen und Gefühlen zu kartographieren?

Einen in diesem Sinne weiten Horizont schreitet Beppe Finessi, der das von Foscarini herausgegebene Magazin „Inventario“ verantwortet, mit seiner Ausstellung „Geografie“ im Museum Poldi Pezzoli ab. Karten, Globen, überhaupt Visualisierungen und Darstellungen des Planeten (Möbelinseln oder Sofaberge sind wohl nicht dabei) stehen auf dem Programm, wobei Zeitgenössisches auf die reichhaltigen Bestände des Museums trifft. Mit von der Partie sind unter anderem Carol Rama, Michelangelo Pistoletto, Alighiero Boetti, Luciano Fabro ebenso wie Mona Hatoum, Stefano Arienti, Andrea Anastasio und Latifa Echakhch, aber auch Designer wie Diego Grandi, Nendo, Giulio Iacchetti, Ezri Tarazi, Lorenzo Damiani und Drill Design.

Zumindest die künstlerische Kartografie lehrt, dass die Gestalt der Erde (und der Wohnung) nicht so bleiben muss, wie sie ist. Auch der Fluxuskünstler George Brecht dachte, hier ließe sich einiges ändern und erfand sein „Landmass Translocation Project“. Könnte man, so dachte er, Landmassen nicht auf mechanischem Wege, mittels Hitze oder Laser von ihrem angestammten Platz lösen, mit Hilfe von Hohlräumen, Luftpolstern oder Schäumen verlagern und an anderer Stelle wieder verankern? Zu seinen schönsten, ökonomisch und ökologisch durchaus bedenkenswerten Vorschlägen, gehört jener eines „Super Resorts of Western Europe“, der Zusammenlegung beliebter Urlaubsgebiete. Konkret schlägt Brecht vor, den Küstenstreifen zwischen Cannes in Frankreich und Imperia in Italien vom Festland abzutrennen, zu verschieben und zwischen Barcelona und Mallorca als Landbrücke neu anzusetzen. Sie glauben es nicht? Eine Karte zeigt, wie das aussehen könnte. Wer weiß, vielleicht werden ja im Zeichen des Salone, der Italianità und der Expo demnächst sämtliche Regionen Italiens mitsamt allen Italienern nach Mailand verschoben?

Salone Internazionale del Mobile
Euroluce
SaloneUfficio
Salone del Complemento d'Arredo
SaloneSatellite
14. bis 19. April 2015
Mailand, Messegelände Rho
www.salonemilano.it

Fuorisalone
Mailand, 14. bis 19. April 2015
www.fuorisalone.it