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2 + 2 = 6 Die Natur berechnet das Auto
von Arndt Pechstein | 01.05.2001
Technosphäre trifft auf Biosphäre: Das Berliner Team verbindet Aufzüge, Auto-Innovationen und Natur miteinander. Foto © Audi Urban Future Initiative

Seit Jahrzehnten hat sich die Typologie unserer Autos kaum verändert - vier Räder, Fahrgastzelle, meistens mit 4 Sitzplätzen und vier Türen, Motor, Kofferraum. Doch ist diese Form nach über 100 Jahren Automobilgeschichte wirklich immer noch relevant und zeitgemäß in urbanen Ballungszentren? Können wir uns von alten Mustern lösen und neue Designkriterien für ein zukünftiges „Stadtmobil“ definieren, das besser an die Bedürfnisse der Nutzer und unserer zukünftigen Städte angepasst ist?

Nachdem wir die Notwendigkeit eines naturinspirierten "Just-in-Time-Systems" in unserem letzten Blogbeitrag beleuchtet hatten, widmen wir uns jetzt dem Fahrzeug selbst. Inspiration für neue, multifunktionale Fahrzeugkonzepte und -strukturen suchen wir mit unserem Biomimicry Ansatz gezielt in der Natur. Welche Strukturen werden dort verwendet, um biologisches Cargo zu verpacken und zu transportieren. Wie werden verkapselte Inhalte freigesetzt und welche Mechanismen regulieren diese Prozesse? Interessanterweise stoßen wir dabei immer wieder auf gewisse Geometrien: Nämlich Strukturen, die sich aus Dreiecken zusammensetzen. Wie zum Beispiel der Ikosaeder (einer der fünf platonischen Körper), ein Objekt aus 20 gleichseitigen Dreiecken. Einige Virenarten verpacken in solche Strukturen ihr Erbgut. Auch einige Pflanzen nutzen sie für ihre Knospen oder Pollen. Der Grund: Dreiecke sind extrem stabil bei gleichzeitig wenig Materialeinsatz.

Das Mimivirus, eines der größten bekannten Viren, ist in der Lage, sein Erbgut durch eine sternförmige Öffnung ("Stargate") freizusetzen. Ein Mechanismus, der ähnlich auch beim Aufplatzen der Blütenknospen der Porzellanblumen (Hoya) zu beobachten ist. Daraus haben wir unsere "Stargate-Idee" entwickelt: ein Fahrzeug in Ikosaeder-Form, das sich beidseitig sternförmig öffnen lässt. Dieser Mechanismus ermöglicht die physische Verzahnung mit einem weiteren Vehikel, so dass sich theoretisch beliebig viele Fahrzeuge zu einem temporären, kollektiven Transportmittel kombinieren lassen. So ein Transportmittel ermöglicht eine dynamische Verbindung von individuellem und öffentlichem Verkehr – für den Transitverkehr auf der Hauptstraße koppeln sich die Fahrzeuge zusammen und brauchen so viel weniger Platz als heutige Autos. Um individuelle Ziele anzusteuern, trennen sie sich einfach wieder.

Das Interessante, neben der Inspiration auf Design- und Funktionsebene, ist die Übertragung eines weiteren systemischen Konzeptes aus der Natur: Emergenz, oder mit den Worten von Aristoteles: "Das Ganze ist mehr als die Summe der Teile". Plötzlich verwandelt sich die Wand eines Fahrzeuges in eine Tür und wird nach Kopplung wiederum zur Wand des entstandenen Zuges. Das ursprüngliche Zweiergefährt wird mehr als doppelt so groß. Statt 2 + 2 = 4 finden plötzlich 6 Personen Platz. Das Auto wurde ganz neu berechnet: 2 + 2 = 6.

Die Natur liefert weitere Denkansätze: Muss ein Auto aus starrem Material bestehen oder können wir zukünftig flexible Membranen und biegbare Elemente verwenden, die neue Funktionalität, Aussehen und Verhalten ermöglichen? Auch hier sind biologische Beispiele überall zu finden. Die Schließzellen der Spaltöffnungen (Stomata) von Pflanzen beispielsweise, die als Poren den Gasaustausch regulieren, nehmen je nach Wassergehalt unterschiedliche Formen an. Oder die Segelqualle (Velella), die flexible Strukturen nutzt, um sich vom Wind treiben zu lassen. Können wir ähnliche Konzepte nutzen, um unseren Autos nicht nur ein neues Aussehen zu verleihen, sondern auch neue Funktionen zu integrieren? Sicherlich wird das Auto der Zukunft nicht aussehen wie eine Pflanzenknospe. Und doch sollten wir unsere alten Paradigmen in Frage stellen, um den Herausforderungen der Zukunft gewachsen zu sein.

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Team Berlin – Ideen. Foto © Audi Urban Future Initiative