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Zwischen Städel und Erdkeil

Mit dem Format "Architekturführer Frankfurt" nehmen sich die Freunde Frankfurts und der Grafiker Wilhelm E. Opatz pro Ausgabe einem Jahrzehnt Baugeschichte der Main-Metropole an. Dabei geht es um weit mehr als Gebäude. Die neueste Publikation widmet sich nun den 1990er-Jahren.
von David Kasparek | 18.10.2022

Pandemie hin oder her, auf eins ist Verlass: Im Zweijahrestakt erscheinen die von Wilhelm Opatz und dem Verein der Freunde Frankfurts herausgegebenen "Architekturführer Frankfurt". Jedes Buch nimmt sich streng chronologisch einem Jahrzehnt an, den Auftakt machten 2014 die 1950er-Jahre. Nach den sechziger, siebziger und achtziger Jahren ist man jetzt in den bis dato wenig populären 1990er-Jahren angelangt. Dankenswerterweise gleichen sich die Bücher und sind trotz unterschiedlich farbigem Leinen, in das sie allesamt eingeschlagen sind, auf den ersten Blick als Serie erkennbar. Das neue nun ist schwarz gehalten, mit geprägten und silbern glänzenden Lettern auf dem Leineneinband des Softcovers. Während sich die vorherigen Jahrzehnte samt ihrer baulichen Zeitzeugnisse inzwischen bis zu Brutalismus und Postmoderne sowohl einer architektur- als auch kunsthistorischen Einordnungen und damit auch einer gewissen gesellschaftlichen Rehabilitierung erfreuen durften, wandert der Blick erst langsam in das Nachwendejahrzehnt. "Das Ende der Moderne?" fragte etwa ein von moderneRegional initiierter Studientag im Sommer 2021 – zaghafte Würdigungen erfuhren manche Bauten dieser Zeit erst im Rahmen von Nachrufen, etwa auf den im Mai 2021 verstorbenen Architekten Helmut Jahn.

Das Tolle an den von Opatz und seinen MitstreiterInnen zusammengetragenen Architekturführern sind zwei Dinge: Zum einen, dass sie Architektur als Kulturgut – mithin als Baukultur – darstellen, in dem sie die Gebäude in einen breiten gesellschaftlichen Kontext einbetten, zum anderen, dass sie dabei radikal subjektiv sind. Das Ergebnis sind recht unkonventionelle Architekturführer, die das vermeintlich tradierte Genre angenehm erweitern. Hier werden nicht nur Bauten bestimmter Jahre aneinandergereiht, etwa in zeitlicher Folge oder anhand mehr oder minder mutwillig durch die Stadt gelegter Routen. Die Bücher kontextualisieren stattdessen die Architektur. Mit Blick auf die 1990er-Jahre tauchen im vorliegenden Band mal ein vereinzeltes T-Shirt auf, mal ein Bericht einer berauschten Techno-Clubnacht, die Einordnung einer Skulptur im öffentlichen Raum, eines Hockers oder das Bild einer in Frankfurt aufgenommenen CD. Die Architektur ist Teil dieses Kosmos und funktioniert wie in unserer alltäglichen Wahrnehmung nicht losgelöst von ihrer Umwelt.

Jedem Jahr wird dabei ein herausragendes Gebäude zugeordnet, das mit überraschenden Bildern und einem prägnanten Text porträtiert wird. Überraschend sind die Fotografien deshalb, weil hier kaum einmal Totale auftauchen. Stattdessen zeigt der "Architekturführer Frankfurt 1990–1999" die Häuser in subjektiven Detailaufnahmen, die dem tatsächlichen Blick der PassantInnen viel mehr entsprechen, als viele Weitwinkel- oder Luftaufnahmen. Diese subjektiven Detailaufnahmen zeichnen ein erstaunlich konsistentes Bild des Gesamtbauwerks und lassen seine Eigenheiten und charakteristischen Spezifika deutlich zu Tage treten. Und: Das Buch zeigt auch, wie man unsere gebaute Umwelt illustriert, wenn eine grassierende Pandemie Ortsbegehungen und Fotoaufnahmen unmöglich macht. Mitunter genügt ein leeres Glas.

"Backenzahn" von e15, Foto: Jon Stark

Die Neunzigerjahre – sie sind das Jahrzehnt des Hochhausbaus am Main. Der Messeturm von Murphy Jahn, das DZ-Hochhaus von Kohn Pedersen Fox oder das Japan Center am Taunustor von Ganz+Rolfes überraschen also nicht so sehr, werden aber ergänzt durch deutlich weniger vorhersehbare Häuser wie die Villa Lunkwitz von Quinlan Terry oder die Trauerhalle auf dem Parkfriedhof Heiligenstock von Max Bächer. Dazu kommt ein "Bonus" mit sieben weiteren Projekten von Jourdan Müller Albrecht PAS, Ernst Geisel, Christoph Mäckler, Hans Kollhoff und Helga Timmermann, Toyo Ito, Berghof Landes Rang und anderen. Den inhaltlichen Abschluss bildet ein Ausflug ins Umland zu Johannes Peter Hölzingers Erdkeilhaus in Liederbach.

So ist der aktuelle Band der "Architekturführer Frankfurt"-Reihe nicht nur der Beweis, dass auch die mitunter schwierig zu fassenden und bewertenden Neunzigerjahre des letzten Jahrhunderts einer würdigen Darstellung standhalten, sondern dass die Vermittlung von Architektur nicht ohne Kontext funktioniert.

Architekturführer Frankfurt 1990–1999
hrsg. von Freunde Frankfurts und Wilhelm E. Opatz

208 S., ca. 100 farb. Abb.
Sprache: Deutsch
Junius Verlag, Hamburg 2022
ISBN 978-3-96060-557-7
44 Euro