top
Auf die Leitern!
von Florian Heilmeyer
17.05.2016


Eine Frau steht auf einer Leiter, sie blickt über eine seltsame, trockene Landschaft. Bis zum unglaublich flachen Horizont dehnt sich diese eintönige grau-braune Fläche, das getupfte Kleid der Frau hat fast dieselben Farben und auch das kleine Kaktusgewächs, das sich unter die Leiter kauert. Architektur ist keine zu sehen, und auch sonst eigentlich nichts.

Mit diesem Bild hat Alejandro Aravena sein Thema für die Hauptausstellung der diesjährigen Architekturbiennale in Venedig vorgestellt: „Reporting from the Front“. Eine Front ist auf dem Bild allerdings auch nicht zu sehen, weder im militärischen noch im architektonischen Sinne. Im Gegenteil, die Wüste wirkt sehr ruhig und friedlich. Kritischen Fragen weicht Aravena charmant aus, er habe dieses Bild nun schon 20 Jahre lang aufgehoben, weil er es immer schon so faszinierend fand, nun könne er es endlich verwenden. Es zeigt die Mathematikerin Maria Reiche, deren Neugierde und Wissensdurst sie 1932 von Dresden erst nach Südamerika und hier später in die Wüstenebene von Nasca gebracht hatte, wo sie die rätselhaften Scharrbilder, die berühmten Nasca-Linien, erforschte. Da diese gewaltigen Bilder am Besten von oben zu erkennen sind, hatte sie eine Aluminiumleiter in der Wüste dabei. Für Aravena bedeutet dieses Bild, dass man manchmal ungewöhnliche Maßnahmen ergreifen muss, um eine neue Perspektive zu gewinnen auf die Wüstenei, in der wir stehen.

„Reporting from the Front“ soll ebenfalls eine solche, neue Perspektive bieten, soll es uns offenbar ermöglichen in der Wüste der zeitgenössischen Architektur ein paar größere Linien zu erkennen. Nun gut, das haben uns wohl auch alle Biennale-Direktoren vor Aravena schon versprochen, und ihre Versprechen dann mal mehr, mal weniger eingelöst. Aluminiumleitern wird er in Venedig allerdings wohl keine aufstellen lassen. Stattdessen hat er 88 Architekten, Ingenieure und Künstler eingeladen, von denen er behauptet, sie wären oben auf die Leiter geklettert und könnten uns nun davon berichten, was sie von dieser erhöhten Position aus gesehen haben: Sie sollen in den langen Hallen der Corderie jeweils ein Problem so präzise wie möglich darzustellen – und dazu ihren Lösungsansatz, der Architektur oder Stadtplanung sein kann, aber nicht sein muss. Denn gerade in der Architektur seien wir alle viel zu sehr auf die fertige Antwort fixiert, so Aravena, es sei aber viel wichtiger, zunächst die Frage zu verstehen.

Alejandro Aravena will also verhindern, dass die Architektur nur als Gebäudeproduzent ausgestellt und verstanden wird. Stattdessen soll sie sich mit den schwierigsten Problemen unserer Welt anlegen: Es geht ihm nicht nur um einen kulturellen und künstlerischen, sondern auch um einen politischen, sozialen, ökonomischen und ökologischen Ansatz. Deshalb hat er Teilnehmer ausgesucht, deren kritische Praxis sich durch Engagement und Eigeninitative auszeichnet.

Die Liste der Teilnehmer ist tatsächlich vielversprechend: Al Borde, Alexander Brodsky, Assemble, Amateur Architecture Studio, Anupama Kundoo, Giancarlo Mazzanti, Forensic Architecture, Kéré Architecture, Manuel Herz, Kunlé Adeyemi, Recetas Urbanas und Rural Studio könnten jedenfalls eine Vielzahl vielversprechender und auch architektonisch gelungener Lösungsansätze mitbringen. Und auch die großen Namen auf seiner Liste scheint Aravena darauf verpflichtet zu haben, sich mit ihren engagiertesten Projekten zu zeigen. So wird David Chipperfield offenbar sein archäologisches Museum im Südsudan zeigen, Norman Foster Entwürfe für einen Drone-Port vorstellen und SANAA werden vorführen, wie ihre umsichtigen Eingriffe und Erweiterungen der existierenden Bebauung auf der japanischen Inujima-Insel eine kulturelle Nutzung ermöglicht haben. Voraussichtlich wird die Ausstellung also weniger kämpferisch, wenn auch nicht weniger engagiert, als der Titel vermuten lässt. Und: „Reporting from the Front“ klingt natürlich etwas besser als „Reporting from my Time on a Ladder“.

Es ist vor allem diese Teilnehmerliste, die auf eine höchst interessante Hauptausstellung hoffen lässt – obwohl alles wieder einmal sehr schnell gehen musste, denn nachdem sich Rem Koolhaas für sein Ausstellungskonzept 2014 zwei Jahre Vorbereitungszeit erkämpfen konnte, ist es dieses Jahr wieder „the same procedure“: Nach seiner Ernennung im Juli 2015 blieb Aravena nicht einmal mehr ein Jahr Zeit bis zur Eröffnung seiner Biennale-Ausstellung am 28. Mai 2016. Wieso sich dieses beschleunigte Verfahren nicht dauerhaft ändern lässt, warum also nicht der jeweils nächste Direktor zum Ende einer Biennale bereits ernannt und vorgestellt werden kann – es bleibt ein Rätsel des venezianischen Biennale-Betriebs.

Maria Reiche übrigens, die mutige Frau auf dem von Aravena ausgewählten Foto, hat nicht nur Leitern in der Wüste aufgestellt. Um bessere Fotos von den Nasca-Linien machen zu können, hat sie sich im Alter von 52 Jahren noch mit Stricken an die Kufen eines Helikopters binden lassen. Davon hatte Aravena wohl kein Foto, und wir wünschen ihm insofern vor allem, dass er nicht nach der Eröffnung nächste Woche feststellen muss, dass die Leiter zu wenig war, und dass er doch besser den Helikopter genommen hätte, um all die Linien in der Wüste unserer Gegenwart zu verstehen. Und Moment mal, da hinten am Horizont, sind das nicht die Fußstapfen von Rem?

15. Architekturbiennale Venedig
28. Mai bis 27. November 2016

www.labiennale.org

Der neue Direktor Alejandro Aravena zusammen mit dem Präsidenten der Venedig Biennale Paolo Baratta.
Foto © Giorgio Zucchiatti, la Biennale di Venezia
Mit Weitsicht und Überblick will die Architekturbiennale in diesem Jahr das Feld der Architektur neu abstecken: Offizielles Plakat der 15. Architekturbiennale von Venedig. Foto © Bruce Chatwin, la Biennale di Venezia
Die Fronten der Architektur: Die Skizze von Aravena verrät bereits, dass auch politische, soziale, ökonomische und ökologische Themen auf der Architekturbiennale besprochen werden. Foto © La Biennale di Venezia
Die Universität als Fels in der Stadt: Die UTEC University in Lima, Peru, von Grafton Architects. Foto © Iwan Baan
Leichtbauweise für unbeschwerte Ruhe: Meditations-Haus in Barcelona von Receta Urbanas.
Foto © Juan Gabriel Pelegrina
Struktur aus Holz: Mit der Klong Toey Community Lantern in Bangkok haben TYIN tegnestue Architects ein festes Zentrum für die informelle Siedlung vonThailands Hauptstadt geschaffen. Foto © TYIN tegnestue
Stadtanalyse: Die informelle Mega-City von Kumbh Mela in Indien wird von den Architekten Rahul Mehrotra und Felipe Vera untersucht. Photo © Felipe Vera
Fußgängerüberweg mit Weitsicht: Carpinteira Pedestrian Brücke in Covilhã, Portugal, von João Luís Carrilho da Graça © Fernando Guerra / FG+SG Fotografia de Arquitectura