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STYLEPARK BOCCI
Im neuen Licht

Omer Arbel, Mitbegründer der Leuchtenmanufaktur Bocci, ist bekannt für seine außergewöhnlichen Entwürfe. Mit dem Projekt 75.9 kehrt er zu seinen Wurzeln als Architekt zurück und schenkt einem rauen Baustoff wieder Grazie: Beton.
von Anna Moldenhauer | 20.08.2020

Anna Moldenhauer: Omer, ich habe gehört du bist sehr lichtempfindlich, stimmt das?

Omer Arbel: Allerdings.

Kannst du mir sagen, welche Auswirkungen diese Sensibilität auf den Entwurf von 75.9 hatte?

Omer Arbel: Bei 75.9 hatte es Auswirkungen auf die Beleuchtung des Betons. Sowohl das Tageslicht wie das künstliche Licht wird auf den Beton gelenkt und von dort aus reflektiert. Es gibt keine direkte Lichtquelle, man sieht nicht wo das Licht herkommt. Der Beton scheint quasi zu leuchten. Das erreiche ich unter anderem durch die Platzierung der Fenster, die nach Westen gerichtet sind. Wenn die Sonne untergeht, streift das Licht entlang der Unterseiten der Betonformen ins Innere. Andere Abschnitte werden durch die südlich ausgerichteten Oberlichter beleuchtet. Die Fenster bilden so mit dem Lauf der Sonne und dem künstlichen Licht eine Symphonie. Diese wirkt wie eine Art von Lichtnebel, die sich aus dem Beton zu lösen scheint.

Das Konzept deiner Leuchten für Bocci ist das genaue Gegenteil – die Lichtquelle wird nicht versteckt, sondern ist das Statement im Raum. Kannst du sagen warum?

Omer Arbel: Ja. Die Räume im Bau von 75.9 haben bereits einen extremen Charakter, ich glaube eine etwas verrückte Beleuchtung wäre in der Kombination zu viel. Ich möchte eine Balance schaffen. Architektur und das Licht sollen sich nicht gegenseitig den Raum nehmen.

Deine Experimente mit Materialien haben etwas rituelles, du lässt dir viel Zeit, um das Material in all seinen Eigenarten zu erkunden. Ist dir der Prozess wichtiger als das Ergebnis?

Omer Arbel: Ja, ich bin fasziniert davon etwas zu schaffen, das in gewisser Weise unvorhersehbar ist. Das Resultat finden, während man kreiert. Ich möchte neue Ansätze finden, etwas Neues aus etwas Altes formen. Wir gehen nicht den konventionellen Weg, denken nicht am Start des Projekts über die Form nach. Es geht um das Experiment. Die Technik lehrt die Form, nicht umgekehrt. Wir akzeptieren das Ergebnis, sei es ästhetisch oder nicht. Es ist in jedem Fall ein Ergebnis in einem Prozess.

Bei 75.9 hast du deinen Fokus auf das Material Beton gesetzt. Wie möchtest du mit deinem Projekt unsere Beziehung zu diesem Material beeinflussen?

Omer Arbel: Beton ist ein wirklich schwieriges Material. Sehr schade finde ich, dass wir seit vielen hundert Jahren nicht mehr anerkennen, dass es im Grunde flüssig ist. Wir bauen keine komplexen Formen mehr mit Beton, wie einst die Römer, sondern nur noch Rechtecke. Jede Wand sieht wie die Andere aus. Die Plastizität des Betons geht verloren. Der Vorgang des Gießens ist zudem recht teuer, da man erst Holzwände bauen muss, in der dann der Beton eingegossen wird. Dann kommt die Wartezeit für die Trocknung dazu und der Abbau der Form. Es ist also nicht nur teuer und arbeitsintensiv, sondern auch extrem verschwenderisch, da die Gußform aus Holz am Ende weggeworfen wird. Beton in Stoff zu gießen wird zwar seit einiger Zeit erforscht, aber ist bisher nicht in die Praxis umgesetzt worden. Die Formen, die sich mit dieser Methode ergeben, sind einzigartig und die Liquidität des Materials wird unterstrichen. Dazu kann der Arbeits-, Abfall- und Kostenaufwand reduziert werden. Für uns ist es eine Art Revolution, die einen neuen Blick auf das Material Beton gewährt.

Im Prozess hast du unter anderem mit Leggings als Gußform experimentiert, wie kann ich mir das vorstellen?

Omer Arbel: Wir haben testweise Gips durch Leggings und Socken aus Elasthan gepresst. Das hat funktioniert, also haben wir begonnen den Gips in größere Stoffbahnen zu gießen und sind irgendwann auf Beton gewechselt. Nachdem wir eine fünf Meter hohe Skulptur mit dieser Methode geschaffen haben, hat uns der Auftraggeber von 75.9 genehmigt das komplette Gebäude mit diesen Formen zu bauen. Die größten Skulpturen sind circa zehn Meter hoch, was wirklich ambitioniert ist. Technisch war es zudem eine Herausforderung, denn das Gießen in Schichten funktioniert mit Stoff nicht. Der flüssige Beton würde zwischen den bereits festen Teil und den Stoff fließen und das Ergebnis ruinieren. Wir mussten eine Rezeptur entwickeln, die den Beton an allen Stellen etwa mit der gleichen Geschwindigkeit aushärten lässt. Dazu haben wir ihn sehr langsam eingegossen, über 12, 16 Stunden lang.

Das Muster des Textils ist auf dem Beton als Abdruck zu erkennen, warum war es dir wichtig die Spuren des kreativen Prozesses zu zeigen?

Omer Arbel: Wir möchten nichts verbergen. Die Textur des Stoffes auf dem Beton ist sehr schön und überraschend. Es gibt dem Beton eine Ästhetik, die ihn fast weich anmuten lässt. Zwischen den beiden Gegensätzen, dem Stoff und dem Beton, entsteht so eine schöne Beziehung.

Für 75.9 dienen die skulpturalen Elemente auch als Pflanztrichter für die Bäume, die das Dach überragen. Wie funktioniert der Ablauf des Regenwassers?

Omer Arbel: Du hast Recht, im Grunde sind es riesige Pflanzgefäße. Bäume aus Beton, die einen echten Baum tragen. Ich finde das eine poetische Idee. Da die Bäume auf dem Dach stehen, mussten wir ein Entwässerungssystem entwickeln, das in der Mitte der Betonskulpturen verläuft. Man kann es von unten und von oben aus reinigen, aber nicht durch die Mitte der Betonform an die Abflussrohre gelangen. Daher haben wir als Sicherheit pro Skulptur drei Entwässerungskanäle eingebaut. Die Ingenieure haben uns versichert, dass das System gut 120 Jahre halten wird, das stimmt uns zuversichtlich.

Wenn man im Raum steht, blickt man von unten auf die Bäume aus Beton. Steht man vor dem Gebäude, sieht man die realen Bäume darüber. Was hat dich zu dieser Idee inspiriert?

Omer Arbel: Wir haben uns von der Ausstellung archäologischer Ruinen in modernen Gebäuden inspirieren lassen. Ein Teil des Betons befindet sich außerhalb des Gebäudes, der größte Part im Gebäude selbst. Der Bau rahmt quasi die Arbeiten aus Beton. Die Fenster sind so positioniert, dass sie verschiedene Einblicke auf die Skulptur geben.

War der Brutalismus für dich eine Inspiration?

Omer Arbel: Nein, nicht wirklich. Das Ergebnis verweist vielleicht ein wenig auf den Brutalismus, es war aber nicht mein Ansatz. Wenn man den Bau unter der Idee des Brutalismus sehen möchte, wäre es wohl eine romantischere Version. Der Bau ist nicht durchgehend rational und die Bedürfnisse des Bewohners sind im Entwurf mitgedacht. Mir geht es nicht rein um die Funktion, sondern auch um den Menschen.

Wie wird die finale Struktur der Räume aussehen?

Omer Arbel: Bei diesem Punkt habe ich in erster Linie auf das Briefing des Auftraggebers reagiert. 75.9 ist als Familienhaus gedacht, daher möchte ich den Bewohnern nicht meine eigene Philosophie aufdrücken, sondern eher auf die Art und Weise antworten, wie diese Familie leben will. Mit privaten Rückzugsräumen und spannenden, mehr öffentlichen Bereichen. Wir werden sehen, wie sich die Nutzung entwickelt, wenn die Aufteilung belebt wird.

Warum hast du für den Innenausbau Zedernholz gewählt?

Omer Arbel: Zedernholz hat eine besondere bräunliche Färbung und erhält mit der Zeit eine silberne Patina. Das Holz wächst in der Region, in der ich lebe, in British Columbia, dem westlichen Teil von Kanada. Aufgrund des Klimawandels sterben leider die Zedern nach und nach dauerhaft ab, da es zu warm für sie wird. Bäume, die hunderte Jahre alt sind. Der Anlass, dass wir das Holz als Baumaterial nutzen können, ist also eigentlich ein trauriger. Für mich ist das Zedernholz ein kostbarer Rohstoff, denn es könnte das letzte Mal sein, das ich damit arbeiten kann.

Wie würdest du deine Herangehensweise an die Architektur beschreiben?

Omer Arbel: Ich bin als Architekt ausgebildet, habe aber bislang nur zwei Gebäude realisiert, da ich direkt zu Beginn meiner Laufbahn viel Erfolg mit meinen Leuchten, als Industriedesigner und Bildhauer hatte. Im Grunde habe ich die Architektur ein Jahrzehnt zur Seite gelegt. Bocci hat mittlerweile ein Gleichgewicht erreicht, das mir die Zeit gibt zur Architektur zurückzukehren. Meine Philosophie in der Architektur gleicht der, die ich zu Anfang beschrieben habe, nämlich eine Form im Prozess zu finden. 75.9 ist der erste Schritt. Wir haben vier weitere Häuser, an denen wir aktuell arbeiten und für die wir mit Materialien experimentieren. Die Herausforderung ist, dass man mit dieser Philosophie keine fertige Architektur in einem Schritt schafft. Es sind eher Abschnitte. Meine Aufgabe ist es dann wie ein Kurator darüber nachzudenken, diese extremen Elemente mit konventionellen Formen der Architektur und mit den Bedürfnissen der Bewohner zu kombinieren. Am Ende soll ein besonderes, aber wohnliches Zuhause stehen. In Zukunft möchte ich diese Idee weiterentwickeln und auch den Raum umfassender gestalten, so dass es keinen Bruch mehr gibt zwischen der gängigen Architektur und unserem Ansatz.

Ich habe gelesen, dass die Unvollkommenheit kein Mangel für dich ist. Welche Chance siehst du darin?

Omer Arbel: Es gibt eine Besessenheit in unserer Kultur perfekte Objekte zu produzieren, die man endlos reproduzieren kann. Eine universelle Lösung, die für alle passt. Ich versuche mich dagegen zu positionieren. Ich sehe meine Rolle darin, eine Sprache der Spezifität zu entwickeln. Die besonderen Aspekte eines Objekts oder eines Gebäudes herauszuarbeiten. Ich versuche Techniken zu entwickeln, die die Unvollkommenheit, Vielfalt und Spezifität fördern. Ich möchte die Unterschiede feiern, nicht die homogene Masse.

Du hast während deiner Ausbildung mit dem Architekten Enric Miralles zusammengearbeitet, der in seinen Bauten unter anderem mit Stahl und Beton eine eigene, freie Formsprache geschaffen hat. Was hast du von ihm gelernt?

Omer Arbel: Ich war zu dieser Zeit noch sehr jung, Anfang Zwanzig. Enric Miralles war gerade auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Für mich war es eine sehr starke Begegnung. Sein Stil ist sehr eigenwillig, sehr persönlich. Er hat wie besessen gezeichnet, war mehr Künstler als Architekt. Seine Gebäude sind wie Gemälde. Er war ein großartiger Mentor und hat stets auf hohem Niveau gearbeitet. Dennoch ist sein Ansatz ein anderer als meiner, da er seine Vision erst in Zeichnungen beschrieben hat, um sie dann zu bauen. Wir sind wie die Enden eines Spektrums. Er wollte die maximale Kontrolle über seinen Entwurf, ich versuche die Kontrolle an das Experiment abzugeben. Was er mir vermittelt hat, war die Energie, die seiner Arbeit innewohnt. Die Mischung aus Ehrgeiz und Poesie, Entschlossenheit und Gemeinschaft möchte ich mit meinem Studio auch erreichen. Dieser Anspruch begleitet mich seit der Zeit bei ihm. Leider ist er früh verstorben und ich war einer seiner letzten Schüler.

Es ist ein schöner Gedanke, dass dich die Energie deines Mentors durch deine eigenen Etappen begleitet.

Omer Arbel: Ja, das ist wahr.

Wie würdest du dich heute selbst bezeichnen, als Künstler, Architekt, Designer? Oder alles zusammen?

Omer Arbel: Ich weiß es nicht.

Brauchst du diese Kategorisierungen nicht?

Omer Arbel: Das soll jeder der auf meine Arbeit blickt selbst entscheiden. Ich möchte mich nicht für eine Bezeichnung entscheiden.

Warum nummerierst du deine Projekte?

Omer Arbel: Ich hatte für mein erstes Projekt keinen wirklich guten Namen, also habe ich es Nummer eins genannt. Mittlerweile hilft mir die Nummerierung und der chronologische Katalog meiner Arbeiten zur Selbstanalyse meines Portfolios. Ich kann sehen, wie sich die Themen, an denen ich forsche weiterentwickeln.

Zur Architektur von Omer Arbel präsentiert das Aedes Architekturforum in Berlin die Einzelausstellung "Omer Arbel: Architektonische Experimente in Material und Form - 75, 86, 91, 94".

Aedes Architekturforum
Christinenstr. 18-19
10119 Berlin

29. August bis 22. Oktober 2020