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Einsatz, bis der Wagen kippt: Ein Autopolo-Wettkampf in Regina, Saskatchewan, im Jahr 1919

Fuchsprellen, Bierwatschen und anderer Wahnsinn

Die „Enzyklopädie der vergessenen Sportarten“ versammelt allerlei ebenso skurrile wie abscheuliche Vergnügungen. Wer das Buch gelesen hat, sieht Mensch und Sport in einem anderen Licht.
von Thomas Wagner | 07.07.2017

No sports! Wer Winston Churchills beharrliche Bewegungsverweigerung bislang für die Schrulle eines ebenso klugen wie melancholischen Zigarrenrauchers gehalten hat, der wird nach der Lektüre von Edward Brooke-Hitchings „Enzyklopädie der vergessenen Sportarten“ irritiert aus dem Trainingsanzug blicken. Sport ­– was bedeutet das überhaupt? Vieles von dem, was es im Laufe der Jahrhunderte an Betätigungen und Lustbarkeiten gegeben hat, die man aus heutiger Sicht mal mit mehr, mal mit weniger Recht als „Sport“ bezeichnen kann, erweist sich entweder als derart brutal, gefährlich oder lächerlich, dass man seinen Augen und Ohren nicht traut und über die Unvernunft des Menschengeschlechts ins Grübeln gerät. Liest man die ausführlichen und bestens recherchierten Einträge, so treibt es einem nicht selten vor Abscheu oder Lachen die Tränen in die Augen.

Da wäre zum Beispiel der Brauch, Menschen mit einer Decke hoch in die Luft zu schleudern. Oder das Anfang des 20. Jahrhunderts im Süden Dorsets in Pubs praktizierte Wettrennen von Schildkröten, zu dem etwa der Teilnehmer Herbert trainiert wurde, indem der Sohn des Besitzers ihm etwas vorsang, wogegen Tischy seine Form steigerte, wenn seine Besitzerin ein mit Marmelade beschmiertes Brot vor ihm herzog. Weiterhin das in den 1950er Jahren beliebte Telefonzellenstopfen (in England „telephone box squaching“, in Amerika „phone booth stuffings“ genannt) sowie Massenspektakel wie die „naumachiae“ – riesige, in gefluteten römischen Arenen nachgespielte Seeschlachten, die vermutlich bereits im 3. Jahrhundert v. Chr. entstanden sind. Als Trendsportart bei rivalisierenden Colleges galt eine Weile auch das „Goldfischschlucken“ (um diesen Harvard-Jungs zu zeigen, dass sie Schwächlinge sind), ganz zu schweigen von den Draufgängern, die im 19. Jahrhundert „Wasserfallreiten“ in Tonnen praktizierten. 

Ist all das, so fragt man sich, wirklich Sport? Was das Wort „Sport“ angeht, so wurde darunter jahrhundertelang schlicht jede Art aktiven Zeitvertreibs verstanden, dem man sich zum Spaß hingibt. Der Autor zitiert etwa Samuel Johnsons Wörterbuch von 1755, in dem Sport als „Spiel, Zerstreuung, Ausgelassenheit und tumultuöse Heiterkeit“ und in einem alternativen Eintrag als „Zerstreuung im Felde“ bezeichnet wird, worunter „die Vogeljagd, die Jagd, und das Angeln“ fallen. 

Wo es um die Jagd mit Gewehren ging, glaubte man seit dem 17. Jahrhundert, je größer der Lauf sei, desto größer die Reichweite. Entenkanonen hatten Gewehrläufe von bis zu drei Metern Länge und erledigten mit einem Schuss ganze Vogelschwärme.

Auch wenn man es nicht glauben mag, aber diese Enzyklopädie versammelt, beschreibt und erklärt nicht nur seltsame, mehr oder weniger vergnügliche Betätigungen, sie ist zugleich auch ein veritables Lehrstück über die Macht der Aufklärung, die verschlungenen Wege der Geschichte und die blinden Flecken der offiziösen Geschichtsschreibung. Ein Beispiel macht das besonders deutlich: Wer sich heute im Fußball über die Ausschreitungen von Hooligans wundert, der muss nur dessen Geschichte betrachten, die mit „Mob-Fußball“ beginnt. Nicht von ungefähr wurden in England frühe Formen des Fußballs (und andere Spiele) seitens der Obrigkeit immer wieder verboten, weil man befürchtete, sie könnten die Menschen von militärisch nützlichen Aktivitäten wie Bogenschießen oder Schwertkampf abhalten. So verfügte etwa ein 1363 erlassenes Dekret: „Hiermit wird unter Androhung einer Gefängnisstrafe jedermann samt und sonders das Stein-, Holz-, und Eisenwerfen verboten; Handball, Fußball oder Hockey; Rennen und Hahnenkampf, oder andere solcher unnützen Spiele.“ 

Immerhin wurden, um bei jeder Gelegenheit mit einer aufgepumpten Schweinsblase herumzubolzen, nicht nur Gesetze und kirchliche Regeln, die beispielsweise den Sabbat schützen sollten, ignoriert, das Treiben wurde auch dadurch verschärft, dass damals beim Fußball Mannschaften ganzer Dörfer gegeneinander antraten, die den Ball in den Friedhof des gegnerischen Dorfes kicken mussten, um ein Tor zu erzielen. Der Zeitvertreib war überdies recht gewalttätig: Sachschäden, Verletzung, ja sogar Todesfälle waren an der Tagesordnung. So wetterte der puritanische Autor Philip Stubbs 1583 mit folgenden Worten gegen die Brutalität von Ballspielen: „Manchmal werden Hälse gebrochen, manchmal die Rücken, manchmal die Beine, manchmal wird ein Köperteil ausgerenkt, manchmal strömt Blut aus den Nasen ... Fußball fördert Neid und Hass ... manchmal Handgreiflichkeiten, Mord und sehr viel Blutverlust.“ Kommentar des Buchautors: „Es hat sich wenig geändert.“ Das später aufkommende Gebot der Fairness erscheint vor diesem Hintergrund in ganz neuem Licht. 

In seiner Einleitung erklärt Brooke-Hitching nicht nur, wie er in einem deutschen Buch aus dem 18. Jahrhundert die rätselhafte Abbildung einer Lustbarkeit namens „Fuchsprellen“ entdeckt habe, auf der „gut gekleidete Adelige nonchalant die strampelnden Geschöpfe himmelwärts schleuderten“, er erkennt auch, dass es sich dabei um eine Sportart handelt, die „durch das Netz der etablierten Geschichtsschreibung geschlüpft zu sein scheint und doch einen faszinierenden und exzentrischen Aspekt teutonischer Jagdgeschichte darstellt“. „Die Tatsache“, so Brooke-Hitching, „dass ,Fuchsprellen’ über die Jahre unbeachtet geblieben ist, legt die Frage nahe: Wie viele vergleichbare ,Sportarten’ sind in Vergessenheit geraten?“ Entsprechend untersucht seine immer wieder verblüffende Enzyklopädie „verborgenen Nischen der Geschichte, um Antworten auf diese Frage zu finden“.

Ein bizarres Spektakel, bei dem es darauf ankam, die ahnungslosen Tiere möglichst hoch in die Luft zu schleudern: Wie die Abbildung von Johann Friedrich von Flemming zeigt, war das Fuchsprellen auch für Paare geeignet.

Die Einträge stützen sich dabei auf die verschiedensten Quellen, von Sueton bis Shakespeare, von den isländischen Sagen bis zu florentinischen Manuskripten aus dem 14. Jahrhundert. Dabei erkennt der Autor im Wesentlichen drei Gründe, weshalb die aus historischer Distanz oft seltsam anmutenden Sportarten ihren Reiz verloren haben und in Vergessenheit gerieten: Grausamkeit, Gefahr und Lächerlichkeit. Wobei die sinnlose Grausamkeit – vor allem der Umgang mit Tieren bei Sportarten wie Aalziehen, Schweinestechen oder der Ratten-, Bären- oder Löwenhatz – bei weitem die größte Rolle gespielt hat.

Neben Sportarten, die dazu erfunden scheinen, die menschliche Wirbelsäule besonders nachhaltig zu schädigen wie dem „Fassspringen“ oder gefährlichen Lustbarkeiten wie Autopolo oder Ballonspringen (offensichtlich einer frühen Form des Gleitschirmfliegens), gab es freilich auch jede Menge Jahrmarktsspiele wie Brei-Wettessen (Hot Hasty Pudding Eating) oder Grimassenschneiden. Man erfährt zudem, was hinter dem „Chunkey“ der amerikanischen Ureinwohner steckt und weshalb „Eis-Tennis“ im New York des Jahres 1912 beliebt war. 

Ein Vergnügen der besonderen Art muss das im Norfolk der 1960er Jahre beliebte „Bierwatschen“ (Dwile Flonking) bereitet haben, bei dem zu den Klängen eines Akkordeons getanzt wurde, wobei der mit einem „driveller“ (einem Besenstiel, an den ein in Bier getauchter Lappen befestigt war) bewaffnete „flonker“ sich langsam in die entgegengesetzte Richtung der Tänzer drehte, wobei er (oft mit verbundenen Augen), wenn die Musik aussetzte, mit dem biergetränkten Lappen nach den nächststehenden Spieler schlagen musste. Wurde ein Treffer im Gesicht gelandet, gab es drei Punkte, zwei gab es, wenn der Oberkörper, einen, wenn ein Tänzer zwischen Knie und Hüfte getroffen wurde. Jeder „flonker“ hatte pro Runde zwei Versuche; traf er nicht, musste er „den Topf nehmen“, sprich aus dem „gazunder“ (Nachttopf) eine große Menge Bier in sich hineinkippen, während die Tänzer „The Dwile Flonkers Lament“ sangen. War ein Spieler bis zum Ende des Spiels noch nüchtern, wurde ihm ein Punkt abgezogen.

Am Ende ist in Sachen Sport nur noch eines sicher: Wer die „Enzyklopädie der vergessenen Sportarten“ gelesen hat, der wird sich über heute praktizierte skurrile Rekordjagten fürs Guiness-Buch der Rekorde oder absonderliche Spiele in Fernsehshows nicht mehr wundern. 

Edward Brooke-Hitching
Enzyklopädie der vergessenen Sportarten
Aus dem Englischen von Matthias Müller
200 S., geb., zahlr. Abb.
Liebeskind Verlag, Berlin 2016
ISBN 978-3-95438-068-8
29,00 Euro

Am populärstern war Eis-Tennis 1912 in New York. Die Illustration der Sportart in "Punch" aus dem Jahr 1876 zeigt indes, dass viktorianische Kleidung nicht wirklich optimal war, um den Sport auszuüben.
Bedauerlicherweise kam es immer wieder zu Todesfällen: Im "Scientific American" von 1927 konnte man erfahren, wie Crosscountry-Ballonspringen aussehen könnte.
Schon im Jahr 1885 beherbergten die Arkaden unter der Berliner Hochbahn Kneipen und Geschäfte. Um mehr Kundschaft anzuziehen, wollte einer der Wirte eine Kegelbahn einrichten. Allein, der Platz reichte nicht aus. So wurde die Zentrifugalkegelbahn erfunden. Eine alternative Konstruktion wurde 1894 in den Vereinigten Staaten als Heimkegelbahn mit mehrfachem Looping eingesetzt.