ARCHITEKTURBIENNALE 2025
Aufruf zum Handeln
Sandra Hofmeister: Der lateinische Begriff "intelligens" ist das Leitmotiv der Biennale Architettura 2025. Was bedeutet er in diesem Zusammenhang?
Carlo Ratti: "Intelligens" bezieht sich auf Bereiche, die über künstliche Intelligenz (KI) und digitale Technologien hinausgehen. Der lateinische Wortstamm enthält "gens" (Menschen), was den kollektiven, umfassenden Charakter von Intelligenz betont. In unserem Kontext geht es um verschiedene Arten von Intelligenz: das Wissen über natürliche Systeme, die Leistungsfähigkeit der Technologie und das kollaborative Potenzial der menschlichen Gemeinschaft, um die Herausforderungen unserer Zeit, insbesondere den Klimawandel, zu bewältigen. Insgesamt geht es um weit mehr als um intelligente Gebäude und KI-gesteuerte Lösungen. Architektur war schon immer eine Antwort auf das Klima. Da das heutige Klima jedoch immer unerbittlicher wird, müssen wir alle Formen der Intelligenz nutzen, um uns anzupassen. Die diesjährige Biennale ist eine Art Workshop, in dem verschiedene Formen der Intelligenz zusammenkommen.
Intelligenz ist also kein Selbstzweck, aber was bedeutet der Begriff im Kontext der Architekturbiennale?
Carlo Ratti: Intelligenz bedeutet die Beobachtung und Integration natürlicher Intelligenz – unser Wissen über ökologische und andere biologische Systeme – sowie künstlicher Intelligenz, der Rechenleistung von Maschinen, und kollektiver Intelligenz – der gemeinsamen Anstrengungen von Menschen aus verschiedenen Disziplinen und in unterschiedlichen Kontexten. Unser Ausstellungskonzept zeigt Wege, mit Intelligenz zu experimentieren, und wirft die Frage auf, wie wir künstliche Systeme an bestehende natürliche und kollektive Systeme anpassen können. Ich halte mich nicht für einen Optimisten, sondern für einen Realisten. Alle Werkzeuge, die wir für die Zukunft brauchen, sind bereits vorhanden.
Wenn "Intelligens" eher eine Methode ist, welche Ziele sollten wir uns dann mit dieser Methode setzen?
Carlo Ratti: Unser traditioneller Ansatz, die Auswirkungen auf das Klima abzuschwächen, reicht nicht mehr aus. Wir müssen uns anpassen und brauchen Strukturen und Systeme, die sich in einer Welt, in der der Klimawandel Realität ist, behaupten können. Wir müssen Gebäude und Städte schaffen, die sich mit den Umweltveränderungen weiterentwickeln können.
Auf dem Immobilienmarkt geht es ausschließlich um Profit, Nachhaltigkeit spielt nur eine untergeordnete Rolle. Wie können wir dennoch näher an die Klimaziele herankommen?
Carlo Ratti: Es gibt keine Patentlösung. Aber ich glaube, dass es mit einem gut strukturierten Anreizsystem möglich ist, Profit und Umweltverantwortung in Einklang zu bringen. Manchmal reicht es schon, keine falschen Anreize zu setzen! Wir wissen heute, dass erneuerbare Energien in den meisten Ländern unter gleichen Wettbewerbsbedingungen am günstigsten sind.
Welche Rolle müssen die Industrienationen Europas angesichts der oben beschriebenen Umwälzungen in der Architektur spielen?
Carlo Ratti: Ich bin fasziniert vom deutschen Konzept der Baukultur, weil es die Qualität unserer gesamten gebauten Umwelt – Architektur, Stadtplanung, Landschaftsgestaltung und kulturelles Erbe – thematisiert. Wir werden untersuchen, wie die Biennale Verbindungen zu globalen Institutionen wie der Davos Baukultur Alliance, der COP30 der Vereinten Nationen, den C40 Cities und anderen aufbauen kann, um ihre Wirkung zu verstärken. Das öffentliche GENS-Programm der Biennale mit Konferenzen und Workshops wird Räume für transdisziplinäre Formen der Wissensgenerierung und des Informationsaustauschs schaffen. Sowohl die Ausstellung als auch das öffentliche Programm werden das Feld der Architektur für interdisziplinären Dialog und internationale Zusammenarbeit öffnen.
Die Klimaziele erleben derzeit einen schweren Rückschlag. Regierungschefs und Präsidenten leugnen den Klimawandel, und wir entfernen uns immer weiter von den Zielen des Pariser Abkommens. Glauben Sie, dass wir den Kampf um das Klima bereits verloren haben?
Carlo Ratti: Nach dem Philosophen Karl Popper ist Optimismus eine Pflicht, und die Zukunft ist offen; niemand kann sie vorhersagen, außer durch Zufall. Deshalb tragen wir alle durch unser Handeln dazu bei, sie zu gestalten. Wir alle sind für die Zukunft verantwortlich. Das gilt für jeden Einzelnen, aber auch für die Architektur als Ganzes. Architektur ist eine führende Disziplin, weil sie sich mit der gebauten Umwelt befasst.
Was sind die nächsten Schritte?
Carlo Ratti: Seit Jahrzehnten konzentriert sich die Architektur darauf, unseren CO2-Fußabdruck zu verringern. Diese Bemühungen sind wichtig, aber sie reichen nicht mehr aus. Der nächste Schritt ist die Anpassung. Wir müssen eine Architektur schaffen, die flexibel, dynamisch und widerstandsfähig ist. Dies erfordert einen grundlegenden Wandel in der Praxis und eine interdisziplinäre Zusammenarbeit. Bei der Anpassung geht es nicht nur ums Überleben, sondern auch um ein gesundes Leben in einer Welt, die sich ständig weiterentwickelt. Die Biennale Architettura ist daher nicht nur eine Ausstellung, sondern ein Aufruf zum Handeln.
Zum ersten Mal in der Geschichte der Architekturbiennale haben Sie einen "offenen Projektaufruf" namens "Space for Ideas" organisiert, dessen Ergebnis einen neuen Teilnehmerrekord aufstellen wird. Welche Qualität steckt hinter dieser Quantität?
Carlo Ratti: Die offene Ausschreibung für Projekte, "Space for Ideas", war ein mutiges Experiment, und die Resonanz war überwältigend. Aber die wahre Qualität liegt in der Vielfalt und Inklusivität der Stimmen, die wir zusammengebracht haben. Es geht nicht nur um Zahlen, sondern um vielfältige Perspektiven für die Vernetzung. An der Diskussion beteiligen sich Architekten, Wissenschaftler, Künstler, Landwirte, Programmierer und sogar Köche. Der offene Auswahlprozess wurde von einem interdisziplinären Team von Kuratoren geleitet. Dieser Ansatz ermöglichte es uns, neue, weniger bekannte Stimmen zu entdecken, die sonst vielleicht übersehen worden wären. Das Ergebnis ist ein lebendiges, kollaboratives Ökosystem, in dem Ideen sich gegenseitig befruchten und weiterentwickeln können.
Ihr Manifest zur Kreislaufwirtschaft mit zehn Kernpunkten ist eine Art Leitfaden für Architekten und Bauherren. Die drängendste Frage bei Bauprojekten lautet jedoch: Müssen wir überhaupt neue Gebäude bauen oder können wir stattdessen bestehende Gebäude nutzen?
Carlo Ratti: Das Manifest ist ein Vorschlag, die Art und Weise, wie wir unsere gebaute Umwelt planen, bauen und im Alltag nutzen, zu überdenken. Der erste Grundsatz – Planung mit einem ganzheitlichen CO2-Ansatz – wirft die Frage auf: Müssen wir etwas Neues bauen oder können wir das, was wir bereits haben, anpassen? Meiner Meinung nach müssen wir der Wiederverwendung bestehender Strukturen Vorrang einräumen, wann immer dies möglich ist. Neubauten sollten die letzte Option sein, nicht die erste. Auf der Biennale werden wir Projekte vorstellen, die zeigen, wie bestehende Materialien und Strukturen kreativ wiederverwendet werden können. Dies ist besonders wichtig im aktuellen demografischen Kontext, in dem die Weltbevölkerung in eine Phase des Rückgangs eintritt – ein Thema, das wir am Eingang zum Arsenale mit einem Projekt untersuchen werden, an dem der Biologe Roberto Kolter, der Physiker Geoffrey West, die Architekten Beatriz Colomina und Mark Wigley sowie die Designerin Patricia Urquiola mitwirken.
Haben Sie ein Lieblingsprojekt in der Ausstellung? Einen Lieblingsort in Venedig?
Carlo Ratti: Natürlich habe ich Lieblingsprojekte, aber die Entscheidung liegt bei der Jury. Meine Lieblingsorte in Venedig liegen mitten in der Lagune, die noch voller Naturwunder ist, nur wenige Kilometer von den Touristenmassen auf dem Markusplatz entfernt. Die einzigartige Beziehung Venedigs zum Wasser, die Geschichte der Stadt und ihre besondere Sensibilität für die Folgen des Klimawandels machen sie zum perfekten Ort, um die Themen Anpassung und Resilienz zu erforschen. Das Venedig von heute könnte die Welt von morgen sein.
Was raten Sie jungen ArchitektInnen?
Carlo Ratti: Mir fällt eine Szene aus Truffauts Film "Jules et Jim" ein. Es ist ein Gespräch zwischen Jim und seinem Professor Albert Sorel: "Reise, schreibe, übersetze, lerne, überall zu leben, und fang sofort damit an. Die Zukunft gehört den beruflich Neugierigen." Das ist auch mein Rat.
19. Internationale Architekturausstellung
Samstag, 10. Mai bis Sonntag, 23. November 2025 (Voröffnung am 8. und 9. Mai)
Öffnungszeiten:
11 bis 19 Uhr vom 10. Mai bis 28. September – letzter Einlass: 18:45 Uhr
bis zum 28. September, nur im Arsenale: freitags und samstags verlängerte Öffnungszeiten bis 20 Uhr (letzter Einlass 19:45 Uhr)
10 bis 18 Uhr vom 30. September bis zum 23. November – letzter Einlass 17:45 Uhr
Montags geschlossen (außer 12. Mai, 2. Juni, 21. Juli, 1. September, 20. Oktober, 17. November)
Bitte beachten Sie, dass der Zentralpavillon in den Giardini aufgrund von Restaurierungsarbeiten in diesem Jahr für BesucherInnen geschlossen ist.