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Caspar Schmitz-Morkramer

RETAIL
Sehnsuchtsort Stadt

In seinem Buch "Retail in Transition" beschäftigt sich Architekt Caspar Schmitz-Morkramer von caspar. mit der Frage, wie sich der Online-Handel auf die Innenstädte auswirkt. Wir sprachen mit ihm über die Chancen der Digitalisierung und die Sehnsucht nach einer lebendigen Stadt.
von Alexander Russ | 20.05.2022

Alexander Russ: Sie forschen zum Thema "Retail" mit Ihrem büroeigenen Think Tank caspar.esearch, und veranstalteten dazu eine Gesprächsreihe mit dem Architekturforum Aedes in Berlin. Warum interessiert Sie das Thema?

Caspar Schmitz-Morkramer: Das hat mehrere Gründe: Zum einen, weil es unsere tägliche Arbeit betrifft. Wir sind zwar keine klassischen Retail-ArchitektInnen, aber das Thema berührt uns immer wieder, da wir viel im städtischen Kontext planen. Ich habe mich auch schon sehr früh in meiner Laufbahn mit Themen wie der Umkonzeptionierung von Kaufhäusern beschäftigt. Zum anderen haben wir vor etwa sechs Jahren festgestellt, dass es bei vielen unserer Projekte, die sich eigentlich in einer Toplage innerhalb der Stadt befinden, immer schwieriger für die BauherrInnen wurde, MieterInnen zu finden.

Wie hat sich das genau gezeigt?

Caspar Schmitz-Morkramer: Früher gab es eine Immobilie und zehn MietinteressentInnen und auf einmal waren es zehn Immobilien und ein/e MietinteressentIn. Aus einem Nachfragemarkt wurde ein Angebotsmarkt. Das betrifft unsere Planungen, viel mehr aber unsere Innenstädte ganz massiv.

Können Sie ein Beispiel dafür nennen?

Caspar Schmitz-Morkramer: Für die Sedelhöfe in Ulm wurde ursprünglich eine Einkaufsgalerie von der MAB, einem niederländischen Projektentwickler, geplant. Unser Bauherr, der nach der erneuten Ausschreibung durch die Stadt Ulm den Zuschlag erhalten hatte, wollte dies aufgrund der veränderten Marktlage aber so nicht mehr umsetzen. Das Ganze war einfach nicht mehr mit der sich verändernden Stadtgesellschaft kompatibel, die immer mehr den Online-Handel nutzt. Wir haben uns deshalb gemeinsam mit dem Bauherrn dazu entschieden, klassische Geschäftshäuser mit zusätzlichen Büro- und Wohnnutzungen rund um einen öffentlichen Platz zu entwerfen – also genau das, was in der europäischen Stadt über Jahrhunderte hinweg sehr gut funktioniert hat. Wenn ein richtiges Quartier anstatt eines Gebäudekomplexes mit 80.000 Quadratmetern entsteht, erhöht das auch die Akzeptanz bei der Stadt und seinen BürgerInnen. Das hat uns als ArchitektInnen gezeigt, wie man die Zukunft der Stadt auch denken kann. Und es hat uns verdeutlicht, dass viele Tendenzen im Einzelhandel unnatürlich waren.

Inwiefern?

Caspar Schmitz-Morkramer: Zum Beispiel die Tendenz, Menschen immer in Häuser reinholen zu wollen, anstatt sie draußen auf der Straße oder auf den Plätzen zu lassen. Man kennt das aus den großen Stadtzentren: Nach Ladenschluss ist hier meist nichts mehr los. Das ist eigentlich nicht die Stadt, in der wir leben wollen. Insofern könnte man auch sagen, dass die großen Veränderungen im Bereich Retail auch Chancen mit sich bringen. Die Digitalisierung, die ja einen massiven Einfluss auf den Einzelhandel hat, wird auch einen massiven Einfluss auf die Stadt haben. Schlussendlich ist dieser Prozess nicht nur ein Händlersterben, sondern vor allem eine Veränderung des städtischen Raums und seiner konkreten Nutzung.

Köln – Innenstadt

Ich würde gerne noch mal auf das Thema Mischnutzung kommen. Sie haben gerade das Beispiel der Sedelhöfe in Ulm erwähnt, wo dieses Prinzip schlussendlich zur Anwendung kam. Eigentlich wird schon seit Jahrzehnten gefordert, dass man Wohnen, Arbeiten und Freizeit kombinieren soll. Warum passiert das dann nicht häufiger bei der Planung?

Caspar Schmitz-Morkramer: Mittlerweile hat da tatsächlich ein Umdenken stattgefunden – und die Trennung von Funktionen, wie sie in der Stadtplanung der Nachkriegszeit sehr restriktiv vollzogen wurde, ist meiner Meinung nach vorbei. Mittlerweile fordern viele Städte die funktionale Durchmischung ein. Die Frage ist, wie man die unterschiedlichen Funktionen bei der Planung sinnvoll in Einklang bringt.

Welche Probleme gibt es dabei?

Caspar Schmitz-Morkramer: Die Gefahr bei der Mischnutzung besteht darin, dass man glaubt, es müsse alles innerhalb eines Gebäudes passieren. Man bekommt aber nicht immer alles in einem Haus unter. Darin besteht dann das Potenzial großer Projekte wie den Sedelhöfen in Ulm, wo wir die Möglichkeit hatten, die unterschiedlichen Funktionen wie Handel, Gastronomie, Büronutzung, Hotel und Wohnen in Einklang zu bringen. Im Übrigen gab es in der Ursprungsplanung nur elf Wohnungen auf dem ganzen Areal. Dort sind jetzt 110 neue Wohnungen hinzugekommen, was das Quartier natürlich stark belebt. Die Frage einer optimalen Nutzung der Stadt beschäftigt uns sehr. Und wir merken verstärkt, dass sich auch die BauherrInnen dafür interessieren.

Buch "Retail in Transition" von Caspar Schmitz-Morkramer

Mit dem Thema Retail und den damit verbundenen Transformationsprozessen beschäftigen Sie sich auch in Ihrem Buch "Retail in Transition". Dort stellen Sie drei Thesen auf, wobei die erste These besagt, dass es neuer Konzepte für den Einzelhandel bedarf. Können Sie das genauer erklären?

Caspar Schmitz-Morkramer: Durch die Digitalisierung und die Möglichkeiten des Online-Handels besteht keine Notwendigkeit mehr, in einem Laden einkaufen zu gehen. Wenn sich KonsumentInnen aber trotzdem dafür entscheiden, wollen sie ein besonderes Einkaufserlebnis haben. Manche Händler haben das schon verstanden und reagieren mit entsprechenden Konzepten darauf.

Ein Beispiel dafür wäre die neue Ikea-Filiale in Wien von Querkraft Architekten. Dort ist man vom Stadtrand ins Stadtzentrum gezogen und bietet ein vollkommen anderes Einkaufskonzept als in den anderen Ikea-Filialen.

Caspar Schmitz-Morkramer: Ja, und da wären wir auch wieder beim Thema Mischnutzung und bei der zweiten These meines Buchs, in der es darum geht, die Durchmischung zu fördern. Bei der Ikea-Filiale in Wien gibt es ja nicht nur Einkaufsflächen, sondern auch ein Hotel und sogar einen öffentlichen Raum auf der Dachterrasse. Hinzu kommt, dass auch das Einkaufsangebot hybrid ist: Es gibt dort vor allem Dinge zu kaufen, die sich gut transportieren lassen. Der Rest wird dann im Internet bestellt und angeliefert. Die Zukunft des Handels wird also auf jeden Fall hybrid sein.

Düsseldorf – Königsallee

In der dritten These Ihres Buchs geht es um neue Mobilitätskonzepte und die Möglichkeiten der Verkehrswende. Können Sie das näher ausführen?

Caspar Schmitz-Morkramer: Hier vollzieht sich ebenfalls ein großer Wandel – gerade was die Nutzung und den Stellenwert des Autos betrifft. Als PlanerInnen erleben wir da sehr starke regionale Unterschiede: In Berlin spielt das Auto eigentlich keine Rolle mehr, aber wenn wir in Düsseldorf vorschlagen, die eine Seite der Königsallee vom Autoverkehr zu befreien, trifft das auf heftigen Widerstand. Dabei haben uns Städte wie Kopenhagen eigentlich schon vorgemacht, wie gut so etwas funktionieren kann. Das würde die Nutzung des öffentlichen Raums verändern und als Folge die Attraktivität der Innenstädte massiv erhöhen – womit wir wieder beim Thema Einkaufserlebnis wären. Da ist mitunter noch einiges an Überzeugungsarbeit zu leisten. Das betrifft aber nicht nur die Stadtplanung, sondern auch konkrete Gebäude.

Können Sie ein Beispiel dafür nennen?

Caspar Schmitz-Morkramer: Ich hatte kürzlich eine Diskussion mit einem Investor, wo es um das Thema Fahrradmobilität ging. Wir schlagen unseren BauherrInnen immer vor, die Fahrradstellplätze nicht im Keller zu verstecken, sondern auf einer attraktiven Fläche mit ordentlichen Umkleiden und anständigen Duschen unterzubringen, damit es Spaß macht, mit dem Fahrrad ins Büro zu kommen. Als Antwort bekommt man dann meist zu hören, dass ohnehin alle mit dem Auto fahren. Das liegt aber daran, dass es keine vernünftigen Angebote für FahrradfahrerInnen gibt. Dabei kann gerade dieses Angebot für MieterInnen den Ausschlag geben, in ein solches Gebäude zu ziehen. Ein Beispiel dafür ist die neue Firmenzentrale von Deloitte in Düsseldorf. Dort haben wir sechshundert Fahrradstellplätze im Erdgeschoss untergebracht – und das war einer der Faktoren, weshalb sich Deloitte für das Gebäude entschieden hat.

In Ihrem Buch finden sich utopische Architekturskizzen für Städte wie Berlin, München, Hamburg, Düsseldorf oder Frankfurt am Main, mit denen die einzelnen Thesen illustriert werden. Können Sie uns zum Schluss noch einen Ausblick auf die Zukunft der Innenstadt geben?

Caspar Schmitz-Morkramer: Ich bin davon überzeugt, dass Handel auch weiterhin wichtig für die Städte sein und dort eine zentrale Rolle spielen wird. Er wird nur nicht mehr die alles bestimmende Nutzung sein. Die Sehnsucht nach einer lebendigen Stadt mit einem funktionierenden öffentlichen Raum wird es auch in Zukunft geben. Aufgrund der Digitalisierung und den damit verknüpften Veränderungsprozessen bietet sich uns die Chance, diese Sehnsucht in etwas Konkretes zu übersetzen und so ein buntes städtisches Leben entstehen zu lassen. Und weil Sie gerade die großen Städte erwähnt haben: entscheidend wird auch sein, welche Konzepte man für die kleineren Städte entwickelt. Dort wird es dann wirklich spannend! Wichtig ist mir aber, dass die Veränderungen große Chancen offenbaren. Und wir können und wollen die Städte dazu ermuntern, dies auch zu nutzen. Daher sollten die Städte ihre DNA für sich bestimmen und zum First Mover werden. Das erfordert Mut und passt nicht wirklich zu unseren politischen Prozessen. Da muss man auch out of the box denken!