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Stefan Carsten setzt sich mit zukünftigen Mobilitätskonzepten auseinander.

MOBILITÄT
Die Verknüpfung des Raums

Der Verkehrsexperte Stefan Carsten forscht zur Zukunft der Mobilität. Im Gespräch erläutert er uns, warum vernetzte Konzepte und eine ganzheitliche Betrachtung des urbanen, suburbanen und ländlichen Raums nötig sind.
von Alexander Russ | 16.03.2022

Seit über 20 Jahren setzt sich der Geograf und Zukunftsforscher Stefan Carsten mit der Zukunft der Mobilität auseinander. Das spiegelt sich unter anderem in seinem Mobility Report wider, den er einmal im Jahr für das Zukunftsinstitut in Frankfurt am Main erstellt. Darin zeigt er aktuelle Entwicklungen auf und skizziert Lösungsvorschläge, um die Verkehrsbelastung sowie deren Folgen für Umwelt, Gesundheit und Klima zu reduzieren. Er ist zudem Mitglied des Beirats des Bundesverkehrsministeriums und lehrt an der Technischen Hochschule in Stuttgart.

Alexander Russ: Stefan, du bist im Beirat des Bundesverkehrsministeriums und entwickelst strategische Leitlinien für die Zukunft des öffentlichen Verkehrs in Deutschland. Was machst du dort genau?

Stefan Carsten: Als Zukunftsforscher versuche ich ein sehr breites und holistisches Verständnis über die Zukunft von Stadt und Raum zu entwickeln. Dabei frage ich mich immer, was das für die Mobilität bedeutet. Ich tausche mich dazu aus und recherchiere, welche Entwicklungen es gibt, mit denen sich der Verkehr in Deutschland modernisieren lässt.

Worum geht es beim Mobility Report, den du jährlich für das Zukunftsinstitut in Frankfurt am Main erstellst?

Stefan Carsten: Das habe ich bislang zwei Mal gemacht. Bei meinem ersten Mobility Report ging es sehr stark um die Transformation des Raums. Ein Begriff wie "Road Diet" ist für mich in diesem Zusammenhang zentral. Das bedeutet, dass Parkplätze und Autospuren zurückgebaut werden, um FußgängerInnen und FahrradfahrerInnen zur Verfügung zu stehen. Ein weiteres Thema sind die sogenannten "Mobility Seeker", also Menschen, die sich dem Spiel der Mobilität widmen. Das bedeutet, dass man bezüglich der eigenen Mobilität flexibel ist und sich vom Verständnis löst, dass Fortbewegung nur mit dem eigenen Auto möglich ist. Gerade die sogenannte "Generation Z" sucht nach mehr Unabhängigkeit in der eigenen Mobilität. Bei meinem zweiten Mobility Report ging es sehr stark um das Thema Elektromobilität und den damit verbundenen Wandel in der Automobilindustrie. Mary Barra, CEO von General Motors, hat zum Beispiel verkündet, dass der Konzern ab 2035 keine Autos mit Verbrennungsmotor bauen wird. Die Batterie wird also das Antriebssystem der Zukunft sein.

Welche Auswirkungen hat das?

Stefan Carsten: Das hat unter anderem Auswirkungen auf die damit verknüpfte Infrastruktur. Anstatt von Tankstellen wird es "Mobility Hubs" geben, die unterschiedliche Mobilitätskonzepte miteinander verbinden, aber auch Treffpunkte für einen sozialen und kulturellen Austausch sein können. Dadurch wird sich die Art und Weise verändern, wie wir Autos nutzen. In diesem Zusammenhang erlebt das Fahrrad als Fortbewegungsmittel jetzt schon einen großen Aufschwung – zum Beispiel in Form von Lastenfahrrädern, die elektrisch angetrieben werden und mittlerweile als Statussymbol einer neuen Mobilität gelten.

Inwieweit lässt sich die fahrradfreundliche Stadt, wie sie zum Beispiel in Kopenhagen umgesetzt wurde, auf andere europäische Städte übertragen?

Stefan Carsten: Das lässt sich sehr leicht übertragen und viele Städte haben ein großes Interesse daran. Ein gutes Beispiel ist Mailand, wo gerade die ganze Innenstadt umgebaut wird, um fahrradfreundlicher zu werden – und um mehr Leben in den öffentlichen Raum zu bringen. Ein anderes Beispiel ist die Bahnstadt in Heidelberg. Dort entstehen neue Stadtteile, deren architektonische Qualität man sicher hinterfragen kann, deren Infrastruktur aber trotz allem auf dem Fahrrad und nicht auf dem Auto basiert. Das Ganze ist im Übrigen auch ein wirtschaftlicher Transformationsprozess: Wir lösen uns immer mehr von der industriell geprägten Stadt und deren Infrastruktur. Stattdessen bewegen wir uns in Richtung einer wissensbasierten Stadt und Wirtschaftsform. Dafür brauchen wir andere Räume.

Inwieweit gilt das auch für Deutschland als Industrienation und welche Konflikte ergeben sich daraus?

Stefan Carsten: Das muss nicht unbedingt ein großer Konflikt sein, denn die Industrie verändert sich auch dramatisch. Ein Beispiel ist die wachsende IG Metall. Dieses Wachstum basiert aber auf IT-Stellen wie etwa ProgrammiererInnen. Es gibt zwar einen großen Industrieanteil in Deutschland bezüglich der Arbeitsplätze, deren Struktur verändert sich aber gerade grundlegend.

Was bedeuten die neuen Mobilitätskonzepte und der Wandel zu einer wissensbasierten Wirtschaftsform für die Automobilbranche?

Stefan Carsten: Dort werden wir tatsächlich viele Arbeitsplätze in den kommenden Jahren und Jahrzehnten verlieren. Das liegt einerseits daran, dass die Automobilbranche viele notwendige Weiterentwicklungen versäumt hat, anderseits verändert sich auch das ganze Model, auf dem die Produktion von Autos basiert. Ein Elektroauto wird zukünftig nur noch aus wenigen Hauptmodulen bestehen, was die Fertigung deutlich vereinfacht. Das heißt, dass es immer mehr Unternehmen geben wird, die Autos anbieten.

Welche Themen gibt es noch im Mobility Report?

Stefan Carsten: Ein weiteres großes Thema ist das autonome Fahren. Dort gibt es positive, aber auch negative Entwicklungen, bei denen wir heute schon gegensteuern müssen. Menschen werden beim autonomen Fahren zum Beispiel mehr Zeit in Fahrzeugen verbringen und längere Pendeldistanzen zurücklegen. Gleichzeitig werden sie dank WLAN in diesen Kapseln alles Mögliche erledigen können – von der Datenbearbeitung bis zum Videocall oder dem virtuellen Opernbesuch.

Wo steht die Entwicklung des autonomen Fahrens aktuell?

Stefan Carsten: Wir werden dieses Jahr in München das erste RoboCab, also das erste autonome Taxi, auf der Straße sehen. Es wird zwar immer noch ein Sicherheitsfahrer mit dabei sein, aber es ist trotzdem schon ein großer Schritt in Richtung einer neuen Mobilität. Das hat dann natürlich Auswirkungen auf den öffentlichen Nahverkehr, auf Taxiunternehmen und schlussendlich auch auf unsere persönliche Mobilität – zum Beispiel, wenn wir Fahrzeuge per App für uns nutzen und diese uns womöglich sogar kostenfrei von A nach B fahren.

Wie wird die Fahrt finanziert?

Stefan Carsten: Indem wir Werbung konsumieren. Das Konzept folgt der Logik des Internets – und natürlich verändert das dann den öffentlichen Raum, da in Zukunft vielleicht tausende dieser Kapseln unterwegs sein werden. Das ist ein dystopisches Szenario und die Frage ist, wie sich die Städte darauf vorbereiten können. Das macht die von mir eingangs erwähnte "Road Diet", bei der Straßenraum zurückgebaut wird, umso dringlicher.

Was wären die positiven Aspekte des autonomen Fahrens?

Stefan Carsten: Im suburbanen oder ländlichen Raum könnten autonome Kapseln eine kostengünstige Mobilität bereitstellen, um Menschen einen leichteren Zugang zu den öffentlichen Verkehrsmitteln zu ermöglichen. Das würde Lücken in der Infrastruktur schließen. Die Folge wäre eine starke Dezentralisierung des Raums – Menschen könnten dann überall wohnen.

Welche Mobilitätskonzepte gibt es noch, um den urbanen mit dem suburbanen und dem ländlichen Raum zu verknüpfen?

Stefan Carsten: Das ist in der Tat ein zentraler Punkt, da wir ja bislang immer nur über die Innenstädte sprechen. Aber solange man den Raum nicht als Ganzes begreift, kann die Verkehrswende nicht gelingen. Dafür bedarf es einer Veränderung der vorhandenen Infrastrukturen – zum Beispiel bei Fahrradwegen, die dann nicht nur in der Innenstadt, sondern auch im suburbanen Raum ausgebaut werden müssen, wie das Anne Hidalgo, die Bürgermeisterin von Paris, gerade plant. Ein weiteres Beispiel ist der Infrastrukturplan "Grand Paris Express", wo große "Mobility Hubs" die Pariser Stadtteile miteinander verbinden sollen. In diesen treffen dann unterschiedliche Mobilitätstypologien wie autonom fahrende U-Bahnen und Fernbusse aufeinander. Das könnte dabei helfen, die starke räumliche Trennung zu überwinden, die in Paris zwischen der Innenstadt und dem suburbanen Raum besteht.

Betrifft das auch die funktionalen Planungen für die einzelnen Stadtteile?

Stefan Carsten: Ja, und in diesem Zusammenhang ist das Konzept der "15 Minuten-Stadt" sehr interessant. Das gibt vor, dass man in 15 Minuten jede urbane Funktion zu Fuß oder mit dem Fahrrad erreichen kann – sei es Freizeit, Gesundheit, Bildung, Einkaufsmöglichkeiten oder Erholung. Es gibt dann keine monofunktionalen Stadtteile mehr, sondern autark funktionierende Orte, die als Leitbild dienen. Ich brauche dann auch kein Auto mehr, um monofunktionale Räume zu überbrücken, da sich alle Funktionen in der unmittelbaren Nachbarschaft befinden.

Im ländlichen Raum beruht die Infrastruktur immer noch auf der Straße und dem Auto. Gibt es dafür alternative Mobilitätskonzepte wie etwa den Hyperloop, bei dem wir in Hochgeschwindigkeitsröhren durch den Raum befördert werden?

Stefan Carsten: Ich bezweifle, dass wir in Deutschland milliardenschwere Investitionen tätigen werden, um hier neue Infrastrukturen zu implementieren – auch im Hinblick auf Naturschutz und Biodiversität. Stattdessen wird hier eine Multicodierung der Straße stattfinden. Das heißt, Straßen werden nicht nur von Autos, sondern auch von Fahrrädern und autonom fahrenden Kapseln genutzt.

Mittlerweile gibt es auch Seilbahnprojekte für den öffentlichen Nahverkehr wie etwa das "Câble 1"-Projekt in Paris. Wie sinnvoll sind solche Konzepte?

Stefan Carsten: Das von dir genannte Projekt kenne ich tatsächlich nicht und kann deshalb nichts darüber sagen. Generell werden Seilbahnen eher mit Tourismus in Verbindung gebracht und ihre Stärke liegt sicherlich in der Überwindung von Hindernissen. Ein Beispiel abseits des Tourismus ist ihr Einsatz als Fortbewegungsmittel in Favelas, da sie flexibel auf die vorhandene Topografie reagieren können. Da gibt es mittlerweile einige Projekte. Ein weiteres Beispiel wäre der Einsatz von Seilbahnen, um große Bahntrassen oder Wasserflächen bei Infrastrukturplanungen zu überwinden. Das funktioniert dann als Ergänzung zum bestehenden System.

Wie verhält es sich mit Flugtaxis von Start-ups wie Volocopter oder Lilium – können solche Konzepte dabei helfen, den Verkehr zu entlasten?

Stefan Carsten: In Deutschland ist das sicherlich nicht sinnvoll, weil es hier einfach bessere Alternativen gibt. In anderen Regionen wie etwa Saudi-Arabien sieht das dann wieder anders aus: Ein Beispiel wäre das postfossile Stadtprojekt "Neom – The Line", dessen Masterplan von Foster + Partners stammt. Dort wird es dezentrale Drohnenlandeplätze geben, um die Menschen zum Flughafen zu bringen. In einer Planstadt in der Wüste, wo es sonst keine anderen Infrastrukturen gibt, können solche Konzepte eventuell sinnvoll sein – in unseren gewachsenen europäischen Metropolen aber sicher nicht.