top
Das Haus als Ankerplatz der Seele
von Thomas Wagner | 20.07.2010

„Richard Neutra gilt heute als einer der wichtigsten Vertreter der Architektur des 20. Jahrhunderts." Es sind Sätze wie dieser, die stutzig machen sollten. Nicht dass der Satz falsch wäre; er gleicht nur einem Mausoleum, das schon lange keiner mehr besucht. Erst wer sich ein Werk genauer anschaut, wird bemerken, dass in vielem, was die pauschal als Moderne bezeichnete Epoche hervorgebracht hat, noch Leben steckt. So gibt auch das Schaffen eines Architekten wie Richard Neutra nicht nur Auskunft über vergangene Zeiten. „Aktualität" mag ein durch allzu häufigen Gebrauch abgenutztes Wort sein; trotzdem beschreibt es ein lebendiges Verhältnis zur Geschichte, das die Ignoranz einer recht selbstverliebten Gegenwart aufzubrechen versteht.

Dem „Marta Herford" ist es mit der Ausstellung „Richard Neutra in Europa. Bauten und Projekte 1960 - 1970" jedenfalls auf geradezu exemplarische Weise gelungen, Historisches in all seiner Frische vorzuführen. Nicht nur, weil die Schau auf einen großartigen Architekten aufmerksam macht, sondern weil sie seine wenig bekannten Bauten in Deutschland, Frankreich und der Schweiz wiederentdeckt - und damit auch ein Stück transatlantischer Architekturgeschichte. Zehn realisierte Bauten, in der Hauptsache Villen, und sieben nicht realisierte Projekte, darunter das Schauspielhaus in Düsseldorf, werden vorgestellt.

Richard Neutra, 1892 in Wien geboren, studiert unter anderem bei Adolf Loos und arbeitet Anfang der zwanziger Jahre bei Erich Mendelsohn in Berlin, bevor er 1923 in die Vereinigten Staaten emigriert. Nachdem er für kurze Zeit im Büro von Frank Lloyd Wright beschäftigt ist, steigt er in Los Angeles zu einem der führenden Architekten auf. 1958 kehrt Neutra nach Europa zurück, zunächst, um an einem oberhalb des Lago Maggiore gelegenen Ferienhaus in Ascona zu arbeiten. Die Rückkehr ist aber auch eine geistige Heimkehr zu den Wurzeln seiner Architektur und regt ihn dazu an, sich über sein eigenes Amerikabild klar zu werden. So entstehen in den sechziger Jahren nach und nach acht Villen - zwei davon in Wuppertal - sowie Wohnhaussiedlungen in Walldorf bei Frankfurt und im schleswig-holsteinischen Quickborn. Gestorben ist Richard Neutra 1970 in Wuppertal. Als er während einer Vortragsreise das von ihm entworfene „Haus Kemper" besucht, erleidet er einen Herzinfarkt. Der Legende nach hatte er sich zu sehr über einen benachbarten Neubau echauffiert.

Souverän und mit großer Selbstverständlichkeit variieren auch sämtliche europäische Bauten Neutras die typischen Elemente seines Stils: die so genannten „Spiderlegs", über die Außenwand der Fassade hinausragende Deckenbalken, die in einer Stütze enden, die für Schatten sorgenden Lamellen-Konstruktionen, zudem verglaste Ecken, Kaminblöcke und die „Reflection pools", flache Wasserflächen, die Innen- und Außenraum, Wohnung, Garten und Landschaft in der Wahrnehmung ebenso miteinander verbinden wie große Fensterflächen und Spiegelbänder. „Ein richtig entworfenes Haus", so Neutra, „ist eben nicht ein statisches Gehäuse, sondern ein Spiegel des Naturgeschehens darum herum, und gerade dadurch eine immer neue Seelenerfrischung."

All das lässt sich in der Schau anschaulich nachvollziehen. Sie versammelt rund hundert originale Planzeichnungen, Entwurfsskizzen, Dokumente, Möbeldesignstudien, historische Fotografien sowie einige Modelle und Aufnahmen des niederländischen Fotografen Iwan Baan, der acht der zehn präsentierten Bauten eigens dokumentiert hat, innerhalb einer Ausstellungsarchitektur aus rohen Bauplatten, die sich an die offene Struktur der Räume Neutras anlehnt, ohne ihnen zu nahe zu treten.

Dabei wird ein ums andere Mal deutlich, wie genau Neutra die Lebensweise seiner Auftraggeber eruiert und studiert hat, bevor er einen Auftrag übernahm, und wie präzise er es versteht, das Gebäude mit seiner Umgebung zu verschränken. So fertigte er beispielsweise für das „Haus Kemper" in Wuppertal einen Lageplan des Grundstücks an, auf den er Fotografien des Geländes rund um das Haus klebte, um die Ausblicke zu simulieren, die sich bieten würden. Neutra integriert Natur freilich nicht als solche in seine Entwürfe. Er transformiert sie mittels Architektur. Beide Sphären, die der Natur und die des Baus, bleiben getrennt, wobei vor allem Terrassen als Übergangszonen fungieren. Doch lassen die großen Fensterflächen Natur - durchaus in einem „therapeutischen" Sinn - stets zu einem Teil des Innenraums werden, wo sie nun als präzise komponiertes Bild erscheint. Neutra schuf also nicht nur im offen gestalteten Inneren des Hauses Lösungen, die bis heute überzeugen. Landschaft und Natur waren für ihn weit mehr als Umgebung. In ihnen sah er eine „immerwährende Quelle des Glücks".

Obgleich Neutras Architektur Teil hat am „International Style", verdankt sich sein Erfolg vor allem dessen Individualisierung. Nicht von ungefähr sind es seine privaten Wohnhäuser, die seine Architektur auch programmatisch geprägt haben. „Zum ,internationalen Stil'", schreibt Neutra 1965, „gehört mein Bauen nicht recht, kein Mensch kann genau das Loch finden, in dem eigentlich meine Arbeit hinein passt." So sind seine Villen denn auch durchdrungen von dem Wunsch, die Rationalität des Funktionalismus mit einer Rückbesinnung auf die Natur verschmelzen zu lassen, die man geradezu romantisch nennen könnte. Nicht zufällig konzipierte und propagierte Neutra, basierend auf anthropologischen Erkenntnissen, ein „biorealistisches Bauen", das den Respekt gegenüber der Natur des Menschen und seiner natürlichen Umgebung über das rein Funktionale und Technische stellt und die Architektur zu einer Art „Lebenswissenschaft" macht.
Besonders darüber hätte man gern noch mehr erfahren. Doch das hätte bedeutet, ein ganz anderes Ausstellungskonzept zu realisieren. In der Kombination der späten europäischen Bauten Richard Neutras mit den Architekturfotografien von Julius Shulman und den Architekturmodellen des Künstlers Stephan Mörsch ist dem Marta Herford jedenfalls eine ganz besondere Mischung gelungen, die jeden Architekturfreund begeistern wird.

Der empfehlenswerte Katalog ist bei Dumont erschienen und kostet 34 Euro.

Richard Neutra in Europa. Bauten und Projekte 1960 - 1970
Bis 1. August 2010
Marta Herford
www.martaherford.de

Vom 20. August bis Oktober 2010
Schweizerisches Architekturmuseum in Basel
www.sam-basel.org

Weitere Stationen, wie das Deutsche Architekturmuseum in Frankfurt, das Price Tower Arts Center in Oklahoma und das Santa Monica Museum of Art in Kalifornien sind geplant.

Haus Rentsch (1964) von Richard Neutra © Department of Special Collections, Charles E. Young Research Library, UCLA
BEWO Quickborn von Richard Neutra, Foto: Eberhard Troeger, Hamburg © Department of Special Collections, Charles E. Young Research Library, UCLA
Casa Ebelin Bucerius, Brione sopra Minusio, Schweiz (1962-66), Foto: Martin Hesse © Department of Special Collections, Charles E. Young Research Library, UCLA
Casa Ebelin Bucerius, Foto: Alberto Flammer, Locarno © Department of Special Collections, Charles E. Young Research Library, UCLA
BEWOBAU Walldorf Küche, Foto: Klaus Meier-Ude, Frankfurt © Department of Special Collections, Charles E. Young Research Library, UCLA
Haus Pescher, Foto: © Iwan Baan, Amsterdam
Richard Neutra auf der Baustelle von Haus Rang, ca. 1962. Foto: privat
Haus Kemper von Richard Neutra, Foto: Karl-Hugo Schmölz © Horst Glaeser, www.waldehuth.de
Haus Kemper von Richard Neutra, Foto: Karl-Hugo Schmölz © Horst Glaeser, www.waldehuth.de
BEWO Quickborn von Richard Neutra, Foto: Eberhard Troeger, Hamburg © Department of Special Collections, Charles E. Young Research Library, UCLA
Casa Ebelin Bucerius Foto: Martin Hesse © Department of Special Collections, Charles E. Young Research Library, UCLA
Haus Rentsch (1964) von Richard Neutra © Department of Special Collections, Charles E. Young Research Library, UCLA
BEWOBAU Walldorf Ess- und Wohnzimmer, Foto: Klaus Meier-Ude, Frankfurt © Department of Special Collections, Charles E. Young Research Library, UCLA
Bewobau Walldorf Interieur (1960) von Richard Neutra © Department of Special Collections, Charles E. Young Research Library, UCLA
Wohnhaus Dr. Rudolf Sontheim von Richard Neutra © Department of Special Collections, Charles E. Young Research Library, UCLA