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A Posteriori

Im Nachhinein sieht man alles besser
09.07.2017

Eine Kolumne von Michael Erlhoff 

Mitte der 1980er Jahre ging die Post ab. Denn da publizierte Charles Jencks sein Buch „Postmodern Architecture“ und machte damit weltweit Furore. Alle redeten plötzlich von der Postmoderne. Nun basierte dies in den Vereinigten Staaten auf einer grundsätzlichen Abrechnung mit dem zu der Zeit auch dort einflussreichen Bauhaus und den davon inspirierten Formen von Gestaltung. Die Zeitschrift „Octobre“ beispielweise veröffentlichte in etwa zur gleichen Zeit sehr verdienstvoll jene berüchtigten Briefe von Mies van der Rohe aus dem Jahr 1944 an das Deutsche Reich, in denen er bekundete, so gerne an dem neuen Hamburger Institut zum „Wiederaufbau der deutschen Städte nach dem Endsieg“ mitarbeiten zu wollen.

Insofern und auch inhaltlich bedeutete dieser Vorgang durchaus eine wichtige kritische Perspektive innerhalb des Diskurses um Gestaltung. Allerdings beseelt von mehreren Missverständnissen. Ganz immanent etwa ignorierte jene amerikanische Diskussion über die Postmoderne völlig jene europäische sehr vehemente Kritik an einem einseitigen Funktionalismus und an einer simpel gradlinigen Architektur, die in den 1960er Jahren im Kontext von „Architectura Radicale“ und von „Disegno Radicale“ stattgefunden hatten – vor allem durch „archizoom“, „archigram“, „Haus-Rucker-Co“, „UFO“ und „Superstudio“. Zum anderen entfaltete sich in Europa ein blödes Missverständnis in der Übersetzung, denn im angelsächsischen Sprachgebrauch meint „Modern“ den (so seltsam dort bezeichneten) Modernismus, also bestimmte Gestaltungsformen seit dem Jugendstil um 1900 und insbesondere solche der 1920er Jahre im Umfeld von Konstruktivismus, de Stijl und Bauhaus. Missverständlich ist dies, da im kontinental-europäischen Kontext die Wissenschaften unter dem Stichwort „Moderne“ untereinander durchaus streitbar diese entweder mit der Renaissance verbinden oder mit der Aufklärung oder – gewiss am plausibelsten – mit der Zeit der Romantik, denn tatsächlich setzte sich die Romantik – zumal in Deutschland –mit den Widersprüchen der Aufklärung und deren Folgen, also auch mit Industrialisierung und neuen sozialen Problemen auseinander – immerhin müsste man ja auch einen Karl Marx zu den Beat-Romantikern zählen.

Außerdem wurde und wird nach wie vor zum Beispiel in Deutschland einfach unterschätzt, dass die englische Sprache (und dies auch in den Vereinigten Staaten) aufgrund einer etwas rigiden Grammatik, die ganz anders als etwa in der deutschen Sprache kaum Spielformen zulässt, dazu tendiert, in der Kompensation dieses Mangels ständig neue Wörter zu erfinden – tatsächlich bietet die englische Sprache sehr viel mehr Wörter als beispielsweise die deutsche. Das macht, dass im englischsprachigen Kontext immer wieder neue Wörter und Wort-Kombinationen erfunden werden – die, sehr gut zum Marketing passend, stets neue Brandzeichen, Branding, in die Welt setzen.

Nun liegt dieser Konflikt innerhalb von Architektur und Design schon dreißig Jahre zurück und ist fast in Vergessenheit geraten. Da bricht „post“ erneut in die formulierten Anschauungen über unsere Gegenwart hinein. So richtig eskalierte die postalische Artikulation im vergangenen Jahr. Auffällig wurde das, als „post-faktisch“ zum Wort des Jahres ausgerufen wurde. Gewissermaßen als Monument, ab jetzt alles in diesen positiven Sprachraum hineinzuziehen. Mittlerweile redet man von „post-industriell“, „post-sozial“, „post-neutral“, „post-radikal“ und wohl auch schon von „post-demokratisch“ und der gleichen mehr. Nichts bleibt übrig, alles wird in irgendeine Vergangenheit gerückt, die dann nichts mehr mit der Gegenwart zu tun haben soll.

Nebenbei wird auf diesem Weg jene sowieso in bestimmten Kreisen erkennbare Absetzung von oder Ignoranz gegenüber Geschichte und jeglicher Reflexion über Geschichte unterstützt. Eine Tendenz, die sogar mittlerweile in wissenschaftlichen Arbeiten sichtbar wird, da diese kaum noch Publikationen zitieren oder überhaupt wahrnehmen, die älter als zehn Jahre sind.

Oder noch anders: Geschichte und insbesondere deren Monumente liebt und verehrt man gern als Sagen und Geschichten, damit jedoch entrückt von jeglicher Nachdenklichkeit und Analyse. Man mag die Geschichte als Erzählung, keineswegs jedoch als ein wichtiges Thema, sich damit auseinanderzusetzen. Insofern entlastet jenes „post“ vorzüglich, da es einfach die Geschichte abgrenzt und wegschließt, auf dass, wenn überhaupt, Auseinandersetzung nur noch in der Gegenwart verortet ist.

Noch ein weiterer Aspekt wird von dieser Inflation des „Post“ in die Welt gesetzt: Plötzlich müsste man etwa angesichts von dem ja sehr energisch vorgetragenen „post-faktisch“ darüber diskutieren, warum jemand überhaupt behaupten könnte, irgendwann habe es „Fakten“ gegeben. Was soll das gewesen sein? Mathematische Aussagen? Obwohl doch schon Albert Einstein deutlich davon sprach, dass Mathematik ein kunstvolles Instrument sei und Einsichten der Physik keineswegs als endgültig gedacht werden dürften. Was angesichts der vielen absichtlichen oder unabsichtlichen Fälschungen ohnehin offenkundig ist. Oder sollte man an historische Daten glauben, während doch allgemein bekannt ist, dass unausweichlich historische Fakten jeweils von den Interessen und den entsprechenden Überlieferungen abhängig sind.

Gewiss, irgendwo in der Landschaft stehen insbesondere von Architektur und anderer Gestaltung produzierte Objekte herum, doch deren Wahrnehmung war stets historisch bedingt und niemals Fakt einer eindeutigen Überlieferung. Ähnlich ergeht es jenen anderen heute so gerne angeführten „post“-Adjektiven. Als ob Einverständnisse darüber existierten, was „industriell“, „sozial“, „radikal“, „demokratisch“ oder ähnliches sei. Doch dies wird immer dann unterstellt, wenn jenes „Post“ herangezogen wird. So wird alles, was zuvor geschehen und gedacht war, einfach in den Müll geworfen. Um damit letztlich lediglich den kritischen Diskurs und die lebendige Auseinandersetzung mit all dem, was nun als „post“ schlicht diffamiert und vernichtet wird, ernsthaft anzugehen.

Eine hinreißend banale Lösung dieses Problems übrigens befindet sich in neueren Diskussionen über die „Post-Moderne“, denn inzwischen sprechen diejenigen, die das einst so propagierten, schon von der „Post-Post-Moderne“. Was beliebig fortsetzbar wäre.

Michael Erlhoff

Er ist Autor, Design-Theoretiker, Unternehmensberater, Kurator und Organisator; einst CEO des Rat für Formgebung, Mitglied des Beirats der documenta 8 und Gründungsdekan (und dann bis 2013 Professor) der Köln International School of Design/KISD. Erlhoff war Gründer der Raymond Loewy Foundation, ist Gründungsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Designtheorie und -forschung und leitete als Gastdozent Projekte und Workshops an Universitäten in Tokio, Nagoya, Fukuoka, Hangzhou, Shanghai, Taipei, Hongkong, New York und Sydney. Seit 2016 lehrt er als Honorarprofessor an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig.