Als „Kettensägenmassaker" war die Sommerkollektion 2010 der niederländischen Designer Viktor & Rolf angekündigt. Was von der als sensationell angepriesenen Modenschau blieb, wirkt jetzt im Kunstmuseum Wolfsburg nicht sonderlich aufregend: Keilförmige Einkerbungen und kreisrunde Löcher in einem voluminösen Tüllkleid, ganz präzise ausgesägt. Hier musste sich kein Stefan Balkenhol am harten Holz abarbeiten; geheimnisvolle oder gar auratische Spuren hat die Kollision von grobschlächtiger Maschine und feinem Material auf dem Laufsteg nicht hinterlassen. Aber die Begegnung der berechnenden Art hätte ein Anlass sein können, sich jener „Mechanical Couture" anzunehmen, die kürzlich in einer Ausstellung des Designmuseums von Ron Arad im israelischen Holon in allen Facetten präsentiert wurde: individuelle Maßanfertigung aus dem 3D-Scanner, intelligente Gewebeimplantate und ausgefallene Schuhmodelle vom Fließband. Das ist Luxuskleidung, Qualitätsmode, die aus dem Zusammenwirken von rechnergesteuerter Produktion und individueller Handarbeit entsteht. Eine bizarre Symbiose.
Brav und bieder wirken dagegen die ausgesägten Gucklöcher in Wolfsburg. Sie sollen den Blick freigeben auf jene Zone „zwischen Haut und Kleid", in der Kunst und Mode, „art & fashion" nach Meinung der Kuratorin Annelie Lütgens aufeinandertreffen. Außer dem nackten Alabasterfleisch genormter Schaufensterpuppen ist allerdings wenig zu sehen. Und nichts zu spüren. Dabei kann die ganze Kunst, die betörende Sinnlichkeit etwa der aus Tausenden von Knöpfen zusammengepuzzelten, vom Musiker Nick Cave entworfenen Stammestrachten oder eines wallenden, an Samson erinnernden Perückenumhangs des Lady Gaga-Stylisten Charlie le Mindu erst zur Geltung kommen, wenn der Betrachter selbst hineinschlüpft. Mit Caves Knopfgarnitur auf der Haut wäre jeder Flaneur von sanft klingelnder und klirrender Begleitmusik umgeben - aber diese Erfahrung darf niemand machen. Denn das bleibt das Problem der Mode im Museum: sie tritt allzu statuarisch auf, bringt es allenfalls zum exquisit bestückten Kleiderständer.
Daraus hat Naomi Filmer die Konsequenz, aber durchaus keine Lehre gezogen: In einer uninspirierten Kehrtwende versammelt die Schmuckdesignerin drei Gipsentwürfe und einen Bronzeguss - also reine Kunst - unter dem Titel „Atemvolumen". Die stilisierten Brustkörbe oder Kehlköpfe geben jeweils den Zustand des „sammeln", „stapeln", „schlucken" und „loslassen" wieder. Aber Worte allein machen noch keine Metaphysik - und aufgeblasener Designerschmuck ergibt ebenso wenig eine Skulptur wie der aus tausenden von Diamanten zusammengesetzte Totenschädel von Damien Hirst. Es fehlt Bewegung, dialektische Spannung, denn: „Im Atemholen sind zweierlei Gnaden: Die Luft einziehen, sich ihrer entladen: Jenes bedrängt, dieses erfrischt."
Das fiel Goethe zum Luftschnappen ein. Der Klassikervers gibt ein bestechend simples Muster ab für die Rollenverteilung von Kunst und Mode: die eine bedrängt, die andere erfrischt - und schützt zugleich. Denn warum sollte ausgerechnet die Mode Bequemlichkeit, gar körperliche Integrität zur Diskussion oder infrage stellen? Um „ungewohnte visuelle Entdeckungen zu machen und gängige Schönheitsideale zu kritisieren" heißt es in Wolfsburg. Doch ästhetisch-physiologische Herausforderungen anzunehmen, wie sie die hölzernen Röcke von Rei Kawakubos „Comme des Garcons" bereithalten oder das Porzellankleid aus dem Maison Martin Margiela, dazu bekommt der Museumsbesucher keine Möglichkeit.
Nur der Schnupperkurs im Dufttempel von Viktor & Rolf geht ein wenig unter die Haut. Durch die unscheinbare Rotunde wabern die Odeurs von „Alternative No. 1", billige Tomatenessenz behelligt empfindliche Näschen. Allerdings hat auch dieser olfaktorische Schlussakkord, dargeboten im faden Dämmerlicht einer Sperrholzkonstruktion, mit der großspurig angekündigten „Untersuchung vom Verhältnis von Haut und Bekleidung, Verhüllung und öffentlichem Auftritt" nichts zu tun. Den Kuratoren aber gilt er als Gipfel der Kritik, als Auseinandersetzung mit dem harten ökonomischen Faktum, dass Modedesigner das Geld für ihre oft mit Verlusten und ohne Rücksicht auf Ressourcen produzierten Saisonprodukte mit Parfüm verdienen. Viele diese Bestseller beziehen zusätzlichen Mehrwert aus den von Künstlern gestalteten Flakons. Darauf verweist Roman Polanskis Werbetrailer für einen fiktiven Duft und - in einer konventionellen Museumsvitrine - das Arrangement mit Elsa Schiaparellis „Snuff pour Monsieur"-Verpackung und einer gläsernen Pfeife - die wohl auch keine Pfeife ist, sondern nur ein Hauch von Magritte, eine flüchtige Prise Foucault.
Aber wie die eingestreuten Kunstbeigaben sind auch die kulturgeschichtlichen Anspielungen nicht mehr als Applikationen. Neben Christophe Coppens „Dream Your Dream Collection" mit „Reh-Cape" und „Körperhut", deren überdimensionaler Schattenwurf auf farbigen Museumswänden inszeniert wird, liegt verloren ein wächserner Kinderschuh von Robert Gober. Und vom Rande her schaut ein rosafarbener Plüschschädel von Louise Bourgeois auf die gefällig bekunstete Modenschau. In der Gegenrichtung tut sich nichts, von Impulsen der Mode für die Kunst keine Spur. Selbst unter den Lederhäuten von Dai Rees, die wie Torsi antiker Krieger von der Decke baumeln, fällt einem nur Egon Kalinowski ein: Der darf als Nestor der Lederkunst gelten, schneiderte er doch vor Jahrzehnten schon seine Kleidung aus Transmissionsriemen oder Tierhäuten. Und dieser Künstler versteht es heute noch, selbstgeschneiderte Lederwesten unvergleichlich seigneural zu tragen. Denn nicht das Habit macht's, sondern die Haltung. Die aber zeigt sich im Salon und auf der Straße, nicht im Museum.
Ein Katalog mit Texten von Annelie Lütgens, Richard Martin und José Teunissen wird demnächst im Kerber Verlag erscheinen.
Art & Fashion. Zwischen Haut und Kleid
Vom 5. März bis 7. August 2011
Kunstmuseum Wolfsburg
www.kunstmuseum-wolfsburg.de