top
Es gibt eine Designwelt außerhalb Italiens!
07.11.2010

Wer mit Luca Nichetto durch Dorsoduro in Venedig streift, dem muss der gesamte Stadtteil vorkommen wie eine große Familie. Mit unverkennbar venezianischem „tzssss" lässt der Designer hier und da ein surrenden „tzsssiao" fallen, dann wieder wechselt er ein paar Worte mit Freunden, die er zufällig auf dem nächsten Campo trifft und wenn er in den engen Gassen am Büro von Freunden vorbeikommt, lässt er es sich nicht nehmen, sie schnell vorzustellen. Luca Nichetto ist Venezianer - doch ein Bein hat der italienische Designer längst auch in Stockholm, wo er demnächst ein zweites Büro eröffnen wird. Sandra Hofmeister traf ihn in Venedig.

Viele Designer träumen davon, mit italienischen Firmen zusammenzuarbeiten und später einmal in Italien zu landen. Bei Dir hingegen ist das anders: Als Italiener arbeitest Du seit einiger Zeit verstärkt mit Firmen aus Schweden oder Großbritannien zusammen. Wie kommt es dazu?

Luca Nichetto: Ich wollte neue Erfahrungen sammeln und habe meine Kooperationen deshalb geöffnet. Ein bisschen geht es mir auch darum, den Kollegen meiner Generation zu zeigen, dass uns der verbohrte Blick auf Italien nicht weiterbringt. Es gibt eine Designwelt außerhalb Italiens, auch wenn wir uns natürlich für viel cooler als alle anderen halten (lacht). Design ist international. Nationales Design, wie es hierzulande ständig hochgehalten wird, gibt es schon seit Jahren nicht mehr.

Trotzdem ist die „Italianità", das typisch Italienische am Design - was auch immer das genau sein mag - in den Augen der Öffentlichkeit hoch angesehen. Viele tun gerade so, als ob Design eine rein italienische Angelegenheit wäre.

Nichetto: Ganz ehrlich - ich finde wir Italiener sind viel konservativer als andere europäische Länder. Wir konzentrieren uns auf die Vergangenheit, auf unsere Geschichte und verlieren dabei die Zukunft aus den Augen. Diese Haltung ist wirklich typisch italienisch! Sie geht wahrscheinlich darauf zurück, dass Italien ein relativ junges Land ist, das aus vielen einzelnen Staaten zusammengesetzt wurde, und jeder einzelne Staat hat seine eigene Geschichte und Tradition. Das Wir-Gefühl der Menschen ist sehr stark an ihre jeweilige regionale Kultur und Tradition geknüpft. Aber letztlich leben wir alle im Hier und Jetzt und müssen begreifen, was gerade abläuft, um Pläne für Morgen zu schmieden und Projekte für die Zukunft zu entwickeln, statt uns auf das Kommentieren der Vergangenheit zu beschränken.

Wie könnten denn diese Projekte in Deinen Augen aussehen?

Nichetto: Seit mehr als siebzig Jahren gibt es in Italien das Problem zwischen Nord und Süd. Alle wissen das und trotzdem passiert nichts. Wir sind lethargisch, wir sagen uns einfach, dass das so ist und unternehmen nichts dagegen. Auch mit Berlusconi läuft das so ab: Die Mehrheit ist unzufrieden, unternimmt aber trotzdem nichts, um die politische Situation zu ändern. Auf die Welt des Designs übertragen beobachte ich immer wieder, dass viele Designer darüber jammern, dass italienische Firmen ausländische Designer bevorzugen. Doch niemand fragt sich ernsthaft, warum das so ist, nämlich einfach weil Designer aus dem Ausland ab einem gewissen Zeitpunkt besser waren als ihre italienischen Kollegen. Das muss man akzeptieren und versuchen, auf dasselbe Niveau zu kommen. Nur so kann man die Dinge ändern.

Gerade die junge Generation italienischer Designer hat eine große historische Last zu tragen: die der großen Meister der goldenen Zeiten des italienischen Designs, mit denen sie ständig verglichen wird. Wie geht Deine Generation damit um?

Nichetto: Die „maestri", die noch übrig sind - Mendini, Branzi und der ein oder andere Theoretiker - glauben doch, dass es nach ihnen gar kein Design mehr geben kann! Einer der Gründe, weshalb es diese enorme Kluft zwischen den Generationen gibt, ist, dass die maestri keine Ideen weitergegeben haben. Sie hatten keine Schüler und Nachfolger. Da ich in Venedig und nicht in Mailand lebe, kann mir das ziemlich egal sein. Italienisches Design wird oft mit Design aus Mailand gleichgesetzt, aber die Designszene in Italien ist deutlich vielfältiger - ich bin der lebende Beweis dafür. Es macht mir Spaß, mit diesen Klischees zu brechen. Nach meiner Erfahrung lebt es sich deutlich besser so, man muss sich nicht ständig beschweren und kann einfach machen. Ich habe das so gehandhabt, und wenn ich mir meine Projekte ansehe, dann überzeugen mich einige, andere wiederum würde ich heute nicht mehr so durchziehen. Trotzdem sind sie Teil einer Erfahrung, die mich bis hierher gebracht hat - das Ganze ist schließlich auch ein Prozess. Da ich persönlich keine klassische Designausbildung an einer der einschlägigen italienischen Universitäten hatte, kann ich viel leichter damit umgehen und tausche mich mit Designern aus anderen Ländern aus.

Wie hat Deine Laufbahn angefangen, was waren die entscheidenden Stationen?

Nichetto: Ich komme nicht aus Venedig, sondern aus Murano. Das ganze Leben auf dieser kleinen Insel dreht sich um die Glaskunst. Mein Großvater war ein Glasbläsermeister, meine ganze Kindheit schon faszinierten mich die Menschen, die mit ihren Zeichnungen nach Murano kamen - und mein Großvater realisierte ihre Ideen. Etwas zu schaffen, zu realisieren, war für mich ganz alltäglich. Die Geschichte eines Objekts beginnt mit einer Zeichnung auf einem Stück Papier. Das habe ich sehr früh kapiert.

Wie kamen das Handwerk und das Industriedesign in deiner Arbeit zusammen?

Nichetto: Die Kunstschule, Abteilung Glas, war für mich viel besser als die Universität, weil dort echte Handwerker ausgebildet wurden, die auch etwas vom Entwerfen verstehen mussten. Es war ganz normal für uns Schüler, während der Sommermonate an den Türen verschiedener Firmen in Murano zu klopfen, um unsere Zeichnungen zu verkaufen. Wir taten das, um Geld für den Urlaub dazuzuverdienen. Später habe ich dann entdeckt, dass das tatsächlich ein Beruf sein kann. Einmal habe ich dem Direktor von Salviati, eine hoch angesehene Glasmanufaktur von Venedig, Simon Moore, meine Zeichnungen gezeigt. Er hat meine komplette Mappe gekauft und mir gleichzeitig erklärt, dass nichts davon produziert würde, dass ich aber öfters kommen könnte und er mir erklären könnte, wie die Arbeitsprozesse bei Salviati laufen. So hat sich für mich zufällig eine Welt geöffnet. Damals kamen Ingo Maurer, Ross Lovegrove und viele andere Designer zu Salviati - lauter Designer, die ich aus der Schule kannte und nun persönlich kennen lernte. Manche kamen mit kleinen Modellen, andere mit Texten und alle zeigten mir ihre Ideen. Ich hatte Glück, dass ich auf diese Weise Zugang in die Designwelt fand. Und ich habe Glück, dass ich heute von meiner Arbeit leben kann.

Das muss damals eine recht kollegiale Atmosphäre gewesen sein, wie in einer großen Familie.

Nichetto: Am Anfang kam mir das sehr seltsam vor. Ich dachte immer, dass die Projekte geheim sind. Nach dem letzten Jahr auf der Schule habe ich dann Vasen für Salviati entworfen, die nach sechs Monaten zum Bestseller wurden. Seitdem habe ich mit der Firma zusammengearbeitet. In der Zwischenzeit musste ich ein Praktikum machen und hatte eine Stelle bei Foscarini ergattert. Damals zog Foscarini gerade von Murano nach Marcondo um. Mit dem Umzug verlagerte sich auch die Produktion ein wenig, von reiner Glaskunst auf weitere Materialien. Mein Praktikum war in der technischen Abteilung - auf der einen Seite machte ich also eine handwerkliche Erfahrung und auf der anderen Seite hatte ich eine Beschäftigung, die sich stärker auf das Produkt fokussierte. Nach meinem Abschluss habe ich Alessandro Vecchiato von Foscarini einige Ideen gezeigt, die er alle ablehnte. Das wurde dann zu einer Art Spiel für mich, bis ich schließlich mit einer Aluminiumleuchte ankam und Alessandro verstand, dass ich nicht nur mit Glas sondern, auch mit anderen Materialien experimentierte. Er gab mir die Möglichkeit, als externer Berater Materialrecherchen für Foscarini zu machen. Bei Salviati wurde ich gleichzeitig als Designmanager für eine Serie von Produkten engagiert - so habe ich für die ersten Jahre mit diesen beiden Firmen zusammengearbeitet, die mich wirklich geprägt haben, und die mir sowohl das Handwerk als auch das Industriedesign näher gebracht haben.

Der Vertrieb, die Stückzahl von limitierten Editionen, der Preis im Laden - sind all das Informationen, die beim Entwerfen wichtig für Dich sind?

Nichetto: Das ist die Grundlage für den Entwurf. Ich halte nicht sehr viel von limitierten Editionen. Sie sind gut zum Experimentieren, doch in den letzten Jahren wurde daraus eine aufgeblasene und überschätzte Bewegung. Ich glaube eher - im Guten wie im Schlechten -, dass Designer für Menschen arbeiten sollten. Wenn ein Objekt viel kostet bedeutet das, dass es nur für eine auserwählte Gruppe von Menschen ist. Wenn es hingegen gelingt, die Produktionskosten gering zu halten, dann ist das Endprodukt für viele. Das heißt nicht unbedingt, dass es wenig kostet und Design für arme Leute ist. Demokratisches Design deckt alle Käufer- und Nutzerschichten ab, arm und reich. In einer Nische zu arbeiten ist sicher kein demokratisches Design.

Aber der Vertrieb hängt doch auch stark von ökonomischen Faktoren ab, die man als Designer nicht beeinflussen kann?

Nichetto: In den fünfziger und sechziger Jahren hatte Design die Möglichkeit, mit großen Stückzahlen auf den Markt zu kommen, weil es nur wenige Hersteller gab. Heute hingegen gibt es sehr viele Firmen und viel Konkurrenz. Der Markt hat sich verändert, es gibt heute viele Marktsegmente und viele unterschiedliche Schichten des Vertriebs. Ein Produkt auf all diesen Ebenen gleichzeitig zu platzieren ist fast unmöglich. Doch wenigstens versuche ich durch die Zusammenarbeit mit verschiedenen Firmen, verschiedene Marktsegmente abzudecken.

Dann gehört es also nicht zu deiner Mission neue Typologien zu entwickeln?

Nichetto: Es gibt Projekte, die dieses Charakteristikum haben, wenn der Hersteller und seine Unternehmenskultur das zulässt. Doch bei der Zusammenarbeit mit Firmen, die sehr präsent auf dem Markt sind, wird es sehr schwierig, beides zu vereinen. In meinen Augen muss ein Designer die klassischen Typologien von innen heraus begreifen und er muss sie für die Nutzer verbessern. Das kann auch eine Schraube sein, die auf neue und einfachere Art eingesetzt wird. Es ist viel wichtiger, auf diese Probleme zu reagieren, statt neue Typologien zu entwickeln. Mit dem Stuhl, den ich für Offecct entworfen habe, wollte ich ein Sitzmöbel gestalten, das aus einfachen, recyclebaren Materialien produziert wird und in Einzelteilen transportiert werden kann. Trotzdem sollte der Stuhl, nur weil er in Einzelteile zerlegt werden kann, kein Ikea-Produkt werden. Auch das kann schon der Ansatz für eine neue Typologie sein.

Auf dem Salone in Mailand bleibt oft der Eindruck, dass viele Neuheiten überflüssig sind. Schließlich gibt es schon so viele perfekte Stühle, warum also immer mehr?

Nichetto: Das stimmt, wir müssen viel kritischer werden. Seit meinen Erfahrungen in Schweden ist es mir wichtig, das gesamte Leben eines Objekts zu betrachten. Dazu gehört nicht nur die Zeit, in der es in Gebrauch ist. Wir müssen uns auch fragen was passiert, wenn unsere Alltagsgegenstände weggeworfen werden. Das gehört mit zum Leben eines Objekts, auch wenn die Leute beim Kauf nicht daran denken.

Wirklich? Aber alle sprechen doch heutzutage von Nachhaltigkeit.

Nichetto: Als ich früher einmal per Interrail durch Europa gereist bin und nach Deutschland kam, habe ich verschiedene Mülltonnen für braunes Glas, für weißes Glas und für verschiedenen anderen Müll gesehen. Das war völlig neu für mich, ich habe meinen Müll einfach irgendwo entsorgt, weil niemand mich darauf aufmerksam gemacht hat, dass dies wichtig sein könnte. Letztlich ist dies aber auch eine Frage des Produkts. Natürlich ist Nachhaltigkeit heutzutage auch ein Verkaufsschlager. Aber die Richtung interessiert mich sehr, vielmehr als irgendeine komplizierte theoretische Idee. Theorien sagen mir überhaupt nichts, ich bin sozusagen Autodidakt. Auch nach zehn Jahren Berufsleben habe ich nie in einem anderen Designbüro als meinem Eigenen gearbeitet.

Ist das „learning-by-doing" denn tatsächlich ein Vorteil?

Nichetto: Am Anfang war es recht schwierig. Als ich einmal entschlossen hatte, dass meine Arbeit und mein Berufsleben dasselbe sind und als ich meine Freundin nach Skandinavien begleitet habe, habe ich verstanden, dass es Design überall gibt und dass es für alle ist. In den skandinavischen Ländern stimmt das auch. In Italien hingegen trifft das kaum zu. Die Designgeschichte Schwedens ist deutlich weniger repressiv. Die skandinavischen Länder setzen auf die Idee der Dienstleistung und sie respektieren in ihrer Kultur die Gedankenwelt der Menschen. Italien hingegen ist ein Land der Manufakturen. Der Prototyp ist hier fast wichtiger als der Nutzen des Objekts, die Kunstfertigkeit, mit der ein Objekt gestaltet ist, zählt mehr als seine Funktion. Mein Ziel ist eine Verbindung zwischen beiden Welten. Mir schwebt ein Design vor, das modern, funktional und demokratisch ist - typisch skandinavisch also einerseits - und andererseits aber superemotional, extravagant, außerhalb der Schemen und in der typischen italienischen Schnelligkeit daherkommt. Ich möchte gerne verstehen, wo sich diese beiden Welten treffen können.

... das scheint aber ein schwieriges Unternehmen zu sein.

Nichetto: Das ist es überhaupt nicht. Der Robo Chair für Offecct zum Beispiel wird in Udine hergestellt. Wir hatten zunächst Kontakte zu verschieden Werkstätten in Schweden aufgenommen, doch sie konnten den Stuhl nicht produzieren. Dann haben wir es in Italien versucht, und nach einem Monat hatten wir den Prototyp in der Hand.

Es gibt auch in Skandinavien eine starke Glastradition, die sich aber ganz deutlich von der Venezianischen unterscheidet.

Nichetto: Das macht mich sehr neugierig. Im Februar während der Designmesse in Stockholm werden wir eine Serie an Vasen für Venini zusammen mit anderen kleinen Vasen und Briefbeschwerern zeigen, die ich für Skultuna entwickelt habe, eine kleine schwedische Traditionsfirma, die auf Messing spezialisiert ist. Die Ausstellung ist ein Experiment, sie soll sichtbar machen, wie zwei Traditionsfirmen von einem Designer interpretiert werden können, wo ihre Gemeinsamkeiten liegen können. „Venice meets Stockholm" ist eine Idee, an der ich in Zukunft weiter arbeiten möchte. Nicht nur was mich persönlich anbetrifft, sondern auch meine zukünftigen Projekte als Designer.

www.lucanichetto.com

Luca Nichetto
Studio Luca Nichetto in Venedig, Porto Marghera, alle Fotos © Dimitrios Tsatsas, Stylepark
Luca Nichetto