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Prof. René Spitz

Anstoß zur Veränderung

"Designing Design Education. Weißbuch zur Zukunft der Designlehre" heißt die aktuelle Publikation der IF Design Foundation – ein Grundlagenwerk, das die Frage aufwirft, welche Inhalte das Designstudium der Zukunft bieten sollte. Das Fazit zieht Autor Prof. René Spitz im Interview.
30.04.2021

Anna Moldenhauer: René, was hat dich zu dieser Publikation bewogen, gab es einen auslösenden Punkt?

Prof. René Spitz: Auslöser war die Frage der IF Design Foundation, was an einer Designhochschule vermittelt werden sollte, wenn man diese heute gründen würde. Eigentlich eine unternehmerische Frage, denn es gibt ja bereits Designhochschulen. Die Untersuchung sollte also lauten, was gibt es, was wird in Zukunft gebraucht und existiert zwischen den Polen eine Differenz? Mein Vorschlag war eine weltweite, stichprobenhafte Befragung der Personen, die in dem System ausgebildet werden und lehren – so sind die ersten 150 Interviews entstanden. Dabei kamen schon die ersten wesentlichen Aussagen zusammen.

Welche sind das?

Prof. René Spitz: Zum einen, das was in der Lehre heute geboten wird, ist nicht mehr das, was wir wirklich brauchen. Zum anderen, dass es bisher keine Initiative gibt, diese Situation grundlegend ändern zu wollen. Was für alle in gewisser Weise auch wieder entlastend ist.

Die Ergebnisse der vorgestellten Studie basieren auf fünf Jahren internationaler Forschung. Wie stark unterscheidet sich demnach die Designlehre zwischen den Regionen?

Prof. René Spitz: Sehr stark. Das ist ein extrem heterogenes Feld und hängt auch mit dem Begriff Design zusammen. Was darunter zu verstehen ist, ist je nach Region unterschiedlich und so variiert auch die Lehre. Institutionen der Erwachsenenbildung verknüpfen mit dem Titel "Design" Abschlüsse von der Kosmetik bis zum Produktdesign, das ist eine riesige Spannweite.

Hast du auch Gemeinsamkeiten festgestellt?

Prof. René Spitz: Ja, viele Tätigkeiten und Fertigkeiten sind im Laufe der Zeit durch die Digitalisierung weggefallen oder werden in der Ausbildung bereits vorausgesetzt. Das ursprüngliche Erfolgsrezept von Design aus dem 20. Jahrhundert ist dadurch obsolet geworden. Dazu kommt die Erkenntnis, dass im 21. Jahrhundert die weitere Anhäufung von neuen Dingen meist keine neuen Lösungen bietet, aber neue Probleme erzeugt. Parallel wächst der Wunsch nach Interdisziplinarität, nach einer Zusammenarbeit über Grenzen der Sprachen, der Kulturen und Hierarchien hinweg auf Augenhöhe.

Wird somit in der Lehre das kreative Talent der DesignerInnen abgewertet?

Prof. René Spitz: Nein, aber die Reihenfolge im Prozess hat sich geändert. Heute geht es um Etappen, um ein ewiges, nicht abgeschlossenes Weiterentwickeln. Der ästhetische Moment wird immer eine wichtige Bedeutung haben, aber er steht nun nicht mehr am Anfang, sondern am Ende einer Entwicklung. Künstliche Intelligenz kann sicher nicht jede Gestaltungshöhe erreichen, aber erledigt bereits viele Schritte. Die gestalterischen Grundlagen werden wichtig bleiben, aber es können immer weniger Menschen ihren Lebensunterhalt ausschließlich damit verdienen. Davon bin ich überzeugt.

An die Interviewphase habt Ihr eine zweite Phase angeschlossen, mit Hearings in mehreren Regionen. Nach welchen Kriterien hast du die Fragen für die TeilnehmerInnen ausgewählt?

Prof. René Spitz: Die Fragen sind umformulierte Erkenntnisse aus den ersten 150 Interviews. Wir haben sie als Fragen und nicht als Aussagen formuliert, damit die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der zweiten Forschungsphase (in den Hearings) sich mit diesen Erkenntnissen auseinandersetzen konnten. Im Grunde fehlen 280 Seiten Erläuterung, warum und welche Aussagen getroffen wurden. Aber niemand hätte zur Vorbereitung der Hearings so viel Text gelesen. So sind die Fragen entstanden.

Und welches Konzept gab es für die Auswahl der TeilnehmerInnen?

Prof. René Spitz: Wie bei den Interviews: Die Auswahl ist nach dem Anspruch der größtmöglichen Vielfalt erfolgt. Also: Studierende der höheren Semester, AbsolventInnen, ältere Professionals, die schon eine Weile im Beruf sind, Lehrende, EntscheidungsträgerInnen in Großunternehmen, kleine Selbstständige, berühmte GestalterInnen, weniger berühmte GestalterInnen und Personen, die an der Zwischenebene agieren, wie PR-Agenturen, JournalistInnen, MultiplikatorInnen. Durch die Gespräche haben sich auch immer wieder neue Verbindungen ergeben. Es ist eine tiefe Stichprobe des Themas, aber keine repräsentative Studie im engen statistischen Sinn, die müsste noch viel umfangreicher sein.

Zumindest hast du in der weltweiten Recherche einen tiefen Einblick in die aktuelle Designlehre bekommen. Darüber hinaus unterrichtest du selbst Designwissenschaft und Kommunikationsmanagement an der Rheinischen Fachhochschule (RFH) Köln. Wie weit würdest du sagen ist die Kluft zwischen Lehre und Praxis wirklich?

Prof. René Spitz: Die Kluft ist groß, zu groß. Aus der Industrie haben wir überall gehört, dass die DesignerInnen nach dem Abschluss erstmal einige Jahre im Job trainiert werden müssen. Auf der anderen Seite sehen sich die StudentInnen und AbsolventInnen nicht ausreichend auf die Berufsrealität vorbereitet. Das ist – abhängig von ihrem Selbstverständnis – teils auch nicht von den Lehrenden gewollt, nicht alle Hochschulen möchten eine Berufsausbildung vermitteln, sondern die Persönlichkeitsbildung unterstützen – die Praxis sollen sich die Studierenden selbst aneignen.

Also bieten viele Hochschulen in der Designlehre aktuell nur einen theoretischen Unterbau, und der Beruf muss anschließend wie ein Handwerk erlernt werden?

Prof. René Spitz: So wird zumindest die Situation in den meisten wissenschaftlichen Hochschulen geschildert: Hier wird ein großer Rahmen geboten, von historischen über gesellschaftliche bis zu theoretischen Bezügen. Spezialisierungen werden skizziert und angeschnitten, die jeweilige theoretische Vertiefung ermöglicht keine unmittelbare Berufspraxis. Das findet erst in der Verbindung am praktischen Beispiel im Beruf selbst statt.

Gab es eine Erkenntnis in den Interviews, die dich überrascht hat?

Prof. René Spitz: Ja, denn üblicherweise sehe ich erst gegen Ende der Studien wie sich die Ergebnisse zusammensetzen und welche Schlüsse man daraus ziehen kann. Das ging in diesem Fall viel schneller. Schon bei der ersten Reise nach Asien wurde klar, wie einstimmig die Aussagen sind. Bis auf wenige Ausnahmen habe ich unisono gehört: "wir machen nicht das, was wir machen müssten".

Was müssten wir denn machen?

Prof. René Spitz: Als Erstes muss klar sein, dass wir die Antwort, die wir in Deutschland auf diese Frage geben, eine andere ist als in der Schweiz, in Russland oder Asien oder Afrika. Eine einzige Lehre, sozusagen der International Style der Designlehre für die ganze Welt, ist keine gute Idee mehr. Wir müssen voneinander lernen, aber die Inhalte auch in unseren eigenen Kontext übertragen. Für unser Umfeld in Deutschland fände ich es ideal, vom ersten Semester an projektbezogene Lehre zu bieten, und zwar anhand eines einzigen praktischen Projekts pro Semester, gefördert von einer externen Organisation, das kann ein Unternehmen sein, eine NGO oder eine Behörde. Die gesamte Lehre sollte sich jeweils organisatorisch wie didaktisch um die Realisierung dieses Projektes drehen, von der Theorie bis zur tatsächlichen Anwendung. Ein klarer Fokus, der zur Vernetzung beiträgt. Diese Zusammenführung ist im Beruf Alltag, nur an der Hochschule dividieren wir die Disziplinen fein säuberlich auseinander.

Gibt es einen Aspekt in der Designlehre, den wir auf keinen Fall verlieren sollten?

Prof. René Spitz: Ja, das Erlernen der gestalterischen Grundlagen. Wenn wir uns auf digitale Werkzeuge beschränken, gehen die analogen Kenntnisse verloren, die Expertise, die grundlegend ist für die Bewertung von Design. Diese haben wir uns über Jahrhunderte angeeignet, und das Wissen ist so nicht digitalisierbar.

Dieter Rams fordert im Vorwort der Publikation eine Fokussierung auf weniger Studienangebote, die dann aber besser ausgestattet wären. Wie siehst du das?

Prof. René Spitz: Der unausgesprochene Verdacht, der zwischen seinen Zeilen anklingt, lautet: Es gibt zu viel Mittelmaß in der Lehre an den Designhochschulen. Hier sollten wir schärfer differenzieren zwischen gestalterischer Exzellenz als Praxis und didaktischer Vermittlung als Praxis. Aus meiner Sicht ist eine breite Streuung der Lehre auf einem hohen Niveau, wie in Deutschland, in vielerlei Hinsicht gut, aber es fehlt derzeit die Vernetzung der Institutionen untereinander, so dass etwa Studierende an mehreren Hochschulen unterschiedliche Angebote gleichzeitig wahrnehmen könnten.

Sowohl Dieter Rams wie Ursula von der Leyen sprechen zudem in der Publikation die Notwendigkeit eines nachhaltigen Designs an. Rams schreibt, es müsse eine erweiterte Ethik des Designs geben, die die Lebenswirklichkeit des Menschen und die aktuellen ökologischen Herausforderungen miteinbezieht. Inwieweit werden diese Rufe in den Hochschulen gehört?

Prof. René Spitz: Wenn es ein Thema gibt, das während der Studie durchweg intensiv thematisiert wurde, dann war es die Nachhaltigkeit. Und zwar als ganzheitlicher Begrif: dass Produkte nicht nur langlebig sind, sondern auch reparierbar, das Lieferketten neu gedacht werden, sozialer Schutz, Kreislaufwirtschaft, kulturelle Kontexte et cetera. Ein extrem komplexes Feld, aber die Nachfrage nach einem Wandel ist da.

Also hast du den Eindruck, dass der Wunsch der Studierenden für nachhaltiges Design sich nicht sofort mit dem Berufseintritt erledigt?

Prof. René Spitz: Da gibt es noch eine Differenz zwischen den Wünschen der GestalterInnen und der Möglichkeit, diese in und mit der Industrie zu realisieren. Dennoch nehme ich die Sehnsucht der Studierenden nach einem Systemwechsel, nach einer anderen Form der Ökonomie als aufrichtig wahr.

Laut einem Statement der IF Design Foundation in der Publikation ist unsere Welt "design driven", aber die Bedeutung von Design wäre schwer zu vermitteln, die Diversität und Bedeutung in der Gesellschaft wird unterschätzt. Warum ist das so?

Prof. René Spitz: Wir bleiben in der medialen Darstellung zu oft an der Oberfläche hängen, hinterfragen zu wenig. Zudem wird gerne die skurrile Seite des Designs nach vorne gehalten, was zwar unterhaltsam wirken mag, aber auch ein Zerrbild produziert, was die wirtschaftliche Wirklichkeit betrifft oder generell das Berufsbild der GestalterInnen.

Woran liegt dieser Fokus auf die vermeintliche Glitzerwelt des Designs deiner Meinung nach?

Prof. René Spitz: Es gibt einen medialen Reflex in diese Richtung, aber auch eine Reaktion der Personen aus dem Design darauf. Wer das Stereotyp bedient, erhält Aufmerksamkeit.

Also bedient sich das System gegenseitig?

Prof. René Spitz: Ja, definitiv. Die Scheuklappen erlebe ich auch bei Menschen, die sich regelmäßig mit Design beschäftigten. Als ich mal eine Kolumne zu "Design im digitalen Dasein" umsetzen wollte, wie der Like-Button bei Facebook oder der Klammeraffe als Element der E-Mail, bekam ich die Frage zurück, was das denn mit Design zu tun hätte, das sei doch Programmierung. Das große Spektrum der Tätigkeiten im Design wird meist nicht erkannt.

Dein Buch ist ein temporärer, umfassender Blick auf den Status Quo der Designlehre. Was möchte die iF Design Foundation mit der Veröffentlichung anstoßen?

Prof. René Spitz: Das Buch ist eine Anregung, die Frage zu diskutieren, was die aktuelle Situation in den Hochschulen für uns in Deutschland bedeutet. Es bietet keine Checkliste für die perfekte Designhochschule in unserer Zeit, aber eine Grundlage zur Diskussion. Im Moment suchen diverse internationale Hochschulen das Gespräch mit uns, um die Erkenntnisse zu diskutieren. Damit haben wir das Ziel bereits erreicht. Der Wille der Hochschulen, die aktuelle Lehre des Designs zu reflektieren und zu hinterfragen, ist da. Vielleicht liefert das Weißbuch den kleinen Anstoß, der noch gefehlt hat, um aktiv zu werden. Das Ideal für uns wäre, wenn eine Ausbildungsstätte aufgrund dieser Studie sagen würde: "Wir machen jetzt mal alles anders", die Ärmel hochkrempelt und in die praktische Umgestaltung geht.

Designing Design Education: Weißbuch zur Zukunft der Designlehre / Whitebook on the Future of Design Education
Herausgeber: Christoph Böninger, Fritz Frenkler, Susanne Schmidhuber
Text: René Spitz
Essays: Lani Adeoye, Ekkehart Baumgartner, Annette Diefenthaler, Sushi Suzuki
312 Seiten, 438 Abbildungen Deutsch / Englisch
ISBN: 978-3-89986-341-3
49 Euro